Bei Étretat, Westfränkisches Reich
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Während Aveline neben ihnen schlief, assen Luca und Rurik schweigend ihr Mahl. Luca war in Gedanken vertieft und jagte noch immer der Frage in seinem Kopf nach, weshalb Aveline bloss solche Angst vor Rurik hatte. Es wunderte ihn, denn sie hatte ihm in Vestervig nie davon erzählt. Irgendetwas musste zwischen den beiden vorgefallen sein, dass sie so ängstlich auf ihn reagierte.
„Sie weiss noch nicht, warum wir hier sind", sprach Luca in die Stille hinein, denn er realisierte, dass sie ihr noch nicht hatten verraten können, warum sie mitten im Unterholz sassen und sich vor der Welt versteckten.
Rurik warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Du hättest es ihr sagen sollen."
„Sie hätte es mir doch nicht geglaubt! Und sowieso kannst du es ja besser erklären, warum wir ihrem Bruder nachhetzen. War ja deine Idee", gab Luca schnippisch zurück.
Er hatte es satt ständig ein schlechtes Gewissen von dem Wikinger eingeredet zu bekommen. Seiner Meinung nach gehörte es nicht zu seiner Aufgabe, Aveline von ihrem waghalsigen Unterfangen zu erzählen, denn er war nicht freiwillig hier. Das alles war nicht sein genialer Einfall gewesen, sondern den von Rurik, also sollte der ihr die verzwickte Situation erklären.
Die zwei ungleichen Männer sassen eine Weile schweigend am Feuer und gingen ihren eigenen Gedanken nach, so wie sie es die Nächte zuvor schon immer getan hatten.
„Leg dich neben sie hin", knurrte Rurik plötzlich.
„Was?!"
„Ich habe gesagt, leg dich neben sie hin! Siehst du denn nicht, dass sie vor Kälte zittert."
Luca folgte seinem Blick. Ihr kleiner zusammengerollter Körper bebte unaufhörlich. Erst jetzt erkannte er, dass sie im Schlaf schlotterte. Wo er sie so zittern sah, merkte auch Luca, wie sehr er selbst fröstelte. Er rückte etwas näher ans Feuer, um seine Füsse aufzuheizen.
„Ja, aber das Feuer wird doch reichen."
Rurik schnalzte mit der Zunge.
„Das wenige Fleisch, das sie noch an den Knochen hat, reicht ihr nicht aus, um sich von einem einfachen Feuer aufzuwärmen. Bei Odin, jetzt leg dich doch einfach neben sie hin und wärme sie mit deiner Körperhitze."
Luca starrte den Wikinger verständnislos an. Warum reagierte der bloss so empfindlich?
„Und warum soll ich das tun? Du kannst es ja genauso gut."
„Sie würde das nicht wollen", zischte Rurik zurück.
Luca legte seinen Kopf schief. Also hatte ihn sein Gefühl nicht getäuscht. Da war was zwischen den beiden vorgefallen. Nicht umsonst würde Rurik sowas sagen.
„Warum?", fragte er neugierig.
„Bei Thor, bist du immer so widerspenstig? Könntest du jetzt einfach das tun, was ich dir sage? Für sie?", knurrte Rurik.
Seine Augen funkelten wütend, was Luca dann doch dazu veranlasste, ihm zu gehorchen. Die Nächte im Frankenreich waren selbst im Frühsommer kalt und auch er fühlte es, wie die kühle Luft unter die Kleidung kroch.
„Das ist aber unsittlich", meinte Luca und schob sich etwas näher an Avelines kleinen Körper.
„Sie friert, siehst du das nicht? Wenn es ums Überleben geht, kann man gerne mal auf prüde Sitten verzichten! Vorher hattest du auch keine Probleme damit, ihr auf die Pelle zu rücken."

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Belagerung
Historical FictionBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...