Bei Paris, Westfränkisches Reich
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Irgendwo in der Ferne wieherten Pferde, als das Tuch zu Ragnars Zelt aufgeschlagen wurde und Thorsten hineintrat. Da sich die Belagerung der Stadt bereits über mehrere Wochen hinzog, hatte Ragnar beschlossen, eine Zeltstadt unweit von Paris an einem Hang aufzubauen. Auf den Booten war es für eine solche Verweildauer einfach zu eng geworden. Es gefiel den Wikingern an dem Hügel und so hatten sie es sich gemütlich gemacht.
Der Jarl lag auf seiner Pritsche und gab der dunkelhaarigen Hure, die auf ihm lag, einen Klaps auf den Hintern.
„Raus mit dir!", knurrte er und schubste die Dame unsanft von der Brust.
Die Nackte murmelte irgendwelche Worte auf Fränkisch und zog hastig ihre Kleidung an. Thorsten grinste schief, als sich die Hure an ihm vorbeidrückte, um nach draussen zu gelangen.
Im Gegensatz zu den Kriegerzelten war Ragnars Unterkunft stattlich und hoch gebaut worden. Hier konnte der grosse Thorsten aufrecht im Raum stehen, ohne sich bücken zu müssen. Nebst dass die Balken, welche den dreieckigen Rahmen des Zeltes bildeten, länger und dicker waren als bei den herkömmlichen Zelten, wiesen sie ausserdem vornehme Schnitzereien auf. An den Enden der Pfeiler thronten zwei prächtige Drachenköpfe, die sich kreuzten und ihr Feuer in entgegengesetzte Richtungen spieen.
Ragnar wollte auf fremden Boden mindestens genauso fürstlich leben wie in Vestervig. Aus diesem Grund glich der Innenbereich des Zeltes seiner Privatkammer. Auf dem Boden war ein Fellteppich ausgerollt worden, damit Ragnar keine kalten Füsse bekommen würde. Auf seinem breiten Bett lagen unzählige Kissen, Pelze und Decken, so dass der Jarl gemütlich nächtigen konnte. Ein Stuhl und sogar ein kleiner Tisch waren ihm für die Dauer des Aufenthaltes gezimmert worden. Vom Querbalken des Zeltes hing eine kleine Öllampe, die Abends allerdings nur wenig Licht spendete.
„Und wie gefallen dir die Fränkinnen?", fragte Thorsten seinen Jarl.
Ragnar schritt zur Waschschüssel. Mit kräftigen Zügen schrubbte er sich den Oberkörper sauber und nässte sein Gesicht. Dann zog er sich ein weisses Hemd über den Kopf und rückte die Zöpfe in seinem Bart zurecht.
„Nicht sonderlich gut", brummte er.
Thorsten nickte zustimmend und wartete, bis sein Häuptling in die lederne Hose geschlüpft war, um mit ihm vors Zelt zu treten. Ein äusserst ärgerlicher Lagebericht wartete auf Ragnar, der ihn alles andere als fröhlich stimmen würde. Nicht ohne Grund hatte Thorsten dafür gesorgt, dass eine Hure dem Jarl den Druck etwas von den Schultern nahm, damit sich dieser die Nachricht mit weniger Zorn im Blut anhören konnte. Es war allerdings eine billige Dirne gewesen, die er auf der Strasse von Paris aufgeschnappt und mitgeschleppt hatte. Sie war nicht unbedingt schön gewesen, aber etwas besseres hatte er nicht gefunden. Er hoffte, dass sie dennoch ihre Arbeit getan hatte.
„Was gibt es Neues?", fragte Ragnar, als er mit seinem Hauptmann das Zelt verliess.
Die Sonne stach in den Augen. Es war ein wolkenloser Tag und der Himmel strahlte herrlich blau. Eine willkommene Abwechslung zu den regnerischen Tagen, die sie in diesem elenden Land hatten durchstehen müssen.
Der Jarl aus Mitteljütland, Sigurd Stenson, sass auf einem Hocker unter der grossen Plane, die neben Ragnars Häuptlingszelt aufgespannt worden war, damit die Männer in deren Schatten über ihre Schlachtpläne und Strategien diskutieren konnten.
„Bitte setz dich doch erst", antwortete der weisshaarige Jarl und bat Ragnar mit einer Handbewegung, sich auf einem der Hocker zu platzieren.
Ein leichter Windzug packte den Stoff und liess ihn flattern, so dass die Pfähle und Spannseile, an denen die Plane befestigt worden war, vibrierten. Ragnar setzte sich hin und verschränkte die Arme vor der Brust, wie wenn er spürte, dass seine zwei Kameraden keine guten Neuigkeiten für ihn bereithielten.
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Belagerung
Narrativa StoricaBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...