21. Kapitel

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"Als wir noch klein waren, wollte ich immer das tun, was sie gerade machte, weswegen ich auch mit dem Boxen anfing. Wir waren typische Geschwister, die sich oft stritten, aber dann füreinander da waren, wenn es darauf ankam. Als sich unsere Mutter dann von unserem Vater trennte, wuchsen wir noch mehr zusammen. Wir zogen von Stralsund nach Rostock, als ich fünf wurde. Lydia war damals 10 Jahre alt. Sie verlor eine Menge Freunde durch den Umzug, aber sie ließ sich nichts anmerken und suchte sich in den nächsten zwei Jahren einfach immer wieder neue Hobbys, um dort Freunde zu finden, denn mit den Leuten aus ihrer neuen Schule kam sie nicht so gut klar."

Während er mir das erzählte, schaute er geradeaus auf den Springbrunnen, der sich in der Mitte des Parks befand.

"Mit 15 fing sie dann an mit solchen komischen Punks rumzuhängen. Sie ging auf viele Konzerte, kam nachts sehr spät nach Hause und schwänzte die Schule. Für mich war es damals schwer zu verstehen, warum Lydia sich so veränderte. Es machte mich oft traurig. Sie stritt sich sehr häufig mit meiner Mom und auch mit mir, weil ich unsere Mutter häufig in den Schutz nahm. Mit 16 hatte sie dann diesen perversen Punker Freund. Sie verschwand für ein paar Tage von zuhause. Meine Mom ließ sie dann von der Polizei suchen. Die schnappten sie in einem leerstehenden Haus auf." mitfühlend sah ich ihn an. Ich stellte mir vor, wie er sich damals gefühlt haben muss.

„Lydia wollte dann unbedingt ausziehen. Sie ging zum Jugendamt und beschuldigte meine Mutter, dass sie sie schlagen würde. Wir wurden dann oft von einer Sozialarbeiterin besucht, die beschloss, dass Lydia erstmal bei uns wohnen sollte. Es gab nur noch Stress bei uns daheim, weswegen ich damals sehr viel Zeit mit dem Training verbrachte." Levi starrte weiter stur mit angespanntem Kiefer den Springbrunnen an. Mein Magen zog sich bei dieser herzzerreißenden Geschichte zusammen. Für seine Mutter musste das der blanke Horror gewesen sein.

„Letztendlich lief sie dann wieder weg und dieses Mal konnte die Polizei sie nicht so schnell finden. Die gingen davon aus das Lydia mit ihrem Freund in eine andere Stadt gegangen ist. Bis heute habe ich nichts mehr von meiner Schwester gehört." beendete er seine Erzählung, dann drehte er den Kopf zu mir und sah mich an.

„Das tut mir so leid, Levi." in diesem Moment empfand ich so viel Mitleid für ihn, dass ich nicht wusste, wie ich mich nun richtig verhalten sollte.

„Muss es nicht. Ist ja schon lange her, außerdem kannst du ja nichts dafür." er lächelte nicht, als er das sagte und seine Augen wirkten glasig.

Ich dachte gar nicht mehr darüber nach, als ich näher an ihn heranrutschte und meine Arme um seinen Oberkörper schlang. Fest krallte ich meine Finger in sein T-Shirt und vergrub meinen Kopf an seiner Schulter. In meinem Bauch breitete sich ein Schwarm voll Schmetterlinge aus, aber ich ignorierte es.

„Es tut mir so leid, Levi." murmelte ich wieder. Er saß einfach nur ruhig da und sagte nichts.

Ich fürchtete schon, dass er gar nicht von mir umarmt werden wollte, als er seinen Körper ganz zu mir drehte und mich richtig umarmte. Wir hatten jetzt beide den Kopf in der Halsgrube des jeweils anderen vergraben. Ich würde mich immer an die Art erinnern, wie Levi seine Hand auf meinen Rücken legte und kleine Kreise auf ihn malte mit seinen Fingern. Es ließ mein Herz erleichtert aufseufzen, denn zu lange hatte es sich schon nach der Wärme gesehnt, die es jetzt erfuhr.

Levis Herz pochte an meiner Brust. Das war ein schönes Gefühl. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich einen Jungen jemals wieder so dicht an mich ranlassen würde, aber jetzt in diesem Augenblick konnte ich mich nur darauf konzentrieren, wie gut er roch, nach Eau de Cologne, Seife und etwas frischem, herben, was wohl sein eigener Geruch war und wie weich seine Haut in der Halsbeuge war, auf die ich meine Wange presste.

Wir harrten einige Sekunden so aus. Dann setzte mein Verstand wieder ein und ich begann mich von Levi zu lösen, wobei mein Herz schreiend protestierte. Nachdem ich ihn ganz losgelassen hatte, fuhr er sich kurz durch das verwuschelte Haar, was immer so fluffig weich aussah, dann sah er mich grinsend an, wobei sich seine Grübchen zeigten. Sie würden noch meinen Untergang bedeuten.

„So ich hoffe, dass du dich jetzt etwas besser fühlst." sagte er und zwinkerte mir zu.

Ich lachte, weil es so absurd war, dass er so schnell wieder in seine scherzende Rolle gesprungen war nachdem er mir diese intime Familientragödie erzählt hatte. Levi machte weiter, als wäre nichts passiert, aber ich wusste, dass ich diesen Moment nie vergessen würde.

„Ich fühle mich jetzt definitiv besser." antwortete ich lächelnd.

„Soll ich dich jetzt nach Hause bringen?" er war immer so fürsorglich, wodurch es mir deutlich schwerer fiel, mich an meine eigene Regel zu halten.

„Willst du mich loswerden?" ich versuchte ihn ernst anzugucken und meine Augen zu Schlitzen zu kneifen, aber als ich seinen besorgten Gesichtsausdruck sah, brach ich wieder in Gelächter aus.

„Natürlich will ich dich nicht loswerden. Ich würde gerne jeden Tag der Woche mit dir verbringen."

„Hör auf sowas zu sagen." ich stieß ihn sanft mit dem Ellenbogen in die Seite und er lachte.

„Also was ist?" er wurde wieder ernst.

„Hast du nichts Besseres zu tun, als durch die ganze Stadt zu fahren?" stichelte ich.

„Nein. Beim Training war ich heute schon und was anderes habe ich wirklich nicht zu tun." er zuckte die Schultern.

„Von mir aus kannst du mich noch zum Bus bringen."

„Okay, dann los." Levi stand von der Bank auf und beobachtete mich dabei, wie ich das ebenfalls tat, dann ging er los, ich folgte ihm. „Man ich habe echt krassen Muskelkater." sagte er nach einigen Schritten.

„Geschieht dir recht, nachdem du uns immer so gequält hast beim Selbstverteidigungskurs."

Er schüttelte lachend den Kopf. „Touché."

Kurz sagten wir beide nichts, dann stellte er mir eine Frage: „Glaubst du, dass du mich nächste Woche als Trainer vermissen wirst?"

„Nein, kein bisschen." antwortete ich mit fester Stimme.

Abrupt blieb er stehen.

„Echt jetzt?" beleidigt sah er mich an, wobei er einen Schmollmund zog.

„Nein, definitiv nicht." wiederholte ich meine Worte. „Du bist der schlechteste Trainer, den man sich vorstellen kann." seine Kinnlade klappte runter, was mich zum Lachen brachte.

„Na warte, das kriegst du wieder." rief er mir hinterher, als ich lachend vor ihm weglief. Die Bushaltestelle war direkt vor meiner Nase und Gott meinte es gut mit mir, sodass mein Bus gerade zum richtigen Zeitpunkt angefahren kam. Levi hatte mich fast eingeholt, als ich mich in den anhaltenden Bus drängelte. Er blieb draußen stehen.

Erschöpft setzte ich mich auf einen Sitz und freute mich darüber, dass ich ihm entkommen war. Neben einem Fenster, durch das ich ihn sehen konnte, nahm ich Platz. Er guckte mich kopfschüttelnd durch das dicke Fensterglas an. Ich streckte ihm die Zunge raus und konnte gar nicht aufhören zu lachen. Levi verschränkte die Arme vor der Brust und sah dem Bus dabei zu, wie er mit mir davonfuhr.

Es war lange her, dass ich so viel Glück verspürt hatte, wie an diesem Tag.

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