Elftes Kapitel

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Dean stöhnte neben mir auf.

"Bitte Richard, nur heute, bitte", flehte er. Aha, das musste also einer der Hausgeister sein. Jetzt erkannte ich es auch. Er besass nur noch seinen Kopf. Wo sein restlicher Körper sein sollte, war ein dursichtiger, weiss schimmernder Schleier zu sehen. Nur zwei Arme ragten daraus hervor. Sein Haar war glatt und sorgfältig zur Seite gegelt. In seinem bärtigen Gesicht, befand sich eine dicke, breite Nase.

Richards Blick war streng. Er musterte mich, da er Deanion allem Anschein nach schon kannte. "Soso", sagte er, "hat sich unser Mr West etwa eine neue Erstgeborene geschnappt? Am ersten Tag schon, Respekt."

Zuerst war ich empört, danach wurde ich wütend. Dean hatte mich überhaupt nicht geschnappt. Ich würde mich nie und nimmer schnappen lassen.

Dean knirschte mit den Zähnen. Ich merkte ihm an, dass auch er nicht erfreut über Richards Worte war.

"Ich muss Sie beide ja wohl nicht darauf hinweisen, dass seit guten fünfzehn Minuten Nachtruhe gilt", Richards Stimme wurde lauter.

Es kam mir urkomisch vor, von einem blossen Kopf zurechtgewiesen zu werden. Ich musste mich erstmals an den Anblick von Richard gewöhnen. Er hatte ausser seinen Kopf, seinen halben Hals und den zwei Armen halt wirklich nichts mehr übrig. Er schien meinen skeptisch forschenden Blick bemerkt zu haben. "Kriegen Sie wohl bitte Ihre Blicke unter Kontrolle Miss", fauchte er mich an. "Ich bin zwar schon längst tot, aber glauben Sie mir, wenn Sie nicht sofort aufhören mich dermassen angewidert anzusehen, gibt es hier gleich zwei Tote unter uns!" Er funkelte mich böse an.

Ich öffnete meinen Mund, war jedoch so perplex, dass ich nicht mal was sagen konnte. Hatte er mir gerade gedroht, mich zu töten? Er lächelte mich höhnisch an und zeigte anschliessend mit ausgestrecktem Arm auf das Hauptgebäude. Dean knurrte wütend und deutete mir an ihm zu folgen. Richard schwebte böse lachend hinter uns her.

Ich flüsterte Dean leise zu: "Wohin gehen wir jetzt?"

"Ins Büro von Hawking", gab er mir knapp als Antwort.

Oh nein, dachte ich, bitte nicht. Heute früh hatte ich meiner Grossmutter noch versprochen, nichts blödes anzustellen und nun, keine vierundzwanzig Stunden später wurde ich ins Büro der Schulleiterin geschickt. Ich möchte erwähnen, dass ich noch nie zum Schulleiter oder zur Schulleiterin geschickt worden war. Ich war eine Vorzeigeschülerin.

Vor Hawkings Büro im dritten Stock standen gemütlich aussehende, rote Polstersessel. Ein dunkler Holztisch, auf dem eine rote Rose ihren Platz hatte, stand zwischen ihnen. Ich bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch. Da ich die Schulleiterin nicht einschätzen konnte wusste ich nicht, was mich erwartete und das machte mich unglaublich nervös.

Richard drängte sich an uns vorbei und klopfte viermal an die dicke Holztür mit goldener Verzierung. Ich warf Dean einen Blick zu, doch er starrte mit zusammengepressten Lippen gerade aus. Es dauerte einen Moment bis sich die Tür langsam und geräuschlos öffnete.

Vor uns stand Valerie Hawking. Sie hatte sich einen bodenlangen, bordeauxroten Morgenmantel mit Schleppe und Spitze übergezogen. Ihr schwarzes Haar, fiel leicht ihren Rücken herab.

Ihr Blick fiel zuerst auf Richard, dann auf mich und schliesslich auf Dean. Bei seinem Anblick verdrehte sie genervt ihre Augen. "Deanion, Sie schon wieder" Sie seufzte generft und schickte Richard anschliessend ein leichtes Lächeln zu. "Danke Richard, ich übernehme."

Er verbeugte sich leicht, und drehte sich um. Als sein Blick auf mich fiel, zog er die Augenbrauen zusammen und schwebte an uns vorbei. Ich blickte ihm mit einem mindestens genauso bösen Blick hinterher.

Dean und ich traten nacheinander in ihr Büro ein. Die Decke war aus dem gleichen dunklen Holz, wie der Fussboden. Vor uns stand ein etwa zwei Meter langer Schreibtisch. Ausser einem silbernen Kugelschreiber, war er komplett leer. Dahinter ein Königssessel, in rot, davor zwei kleinere Sessel, in rot. Die Wand dahinter war komplett mit Bücherregalen versehen, so wie jeder andere freie Platz an der Wand. Rechts von uns brannte ein loderndes Feuer im Kamin. Davor ein rotes Sofa. Gleich links neben dem Eingang führte ein kleiner Flur weg und weiter hinten, rechts in der Ecke, war ein Torbogen in die Mauer gemeisselt. Ihr Büro erschien mir erstaunlich gross. In meinem inneren Auge stellte ich mir den Umriss des Hauptgebäudes vor. Hawking musste wahrscheinlich den ganzen dritten Stock für sich haben.

Hawking setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Dean setzte sich auf einen Sessel davor und ich tat es ihm nach. Eine Uhr tickte.

"Ich kann nicht sagen, dass es mich erfreut Sie wieder zu sehen Mr West", räusperte sich Hawking. "Sie sind seit einer Woche hier und es ist nun das dritte Mal, dass ich Sie hier in meinem Büro habe." Sie wandte sich mir zu. "Wie ist ihr Name?"

"Aurelia Cohan."

"Sie sind heute erst angekommen, oder?"

Ich nickte.

"Ich bin auch nicht erfreut Sie hier zu sehen. Grundsätzlich bedeuten Schüler und Schülerinnen in meinem Büro nie etwas Gutes."

Ich wusste nicht ob ich etwas sagen sollte und wenn ich etwas sagen würde, wüsste ich nicht was. Ich wollte mich nicht verteidigen, da ich spontan auch gar keine Ausrede im Kopf hatte. Ich war nach draussen gegangen und bin auf Dean, Trevor und Lennard gestossen. Wäre ich den Stimmen zwar nicht gefolgt, hätte ich es pünktlich zurück ins Bett geschafft. Das war die Wahrheit.

Hawking fuhr fort. "Ich will auch gar nicht wissen, was sie draussen um diese Uhrzeit gemacht haben es ist mir ehrlichgesagt auch ziemlich egal."

Dann machte sie mir nochmals die Regeln bewusst und sagte, dass ich nach Dean die Erste war, die es am ersten Tag in ihr Büro geschafft hatte und dass ich darauf keinesfalls stolz zu sein brauchte. Wir sollten uns in Zukunft gut überlegen, ob wir sie aus ihrem Schlaf wecken und ihre wertvolle Zeit wirklich damit vergeuden wollten, indem sie uns Strafpredigen halten musste. Sie erinnerte Dean nochmals daran, dass er sich die nächsten Wochen ja unauffällig verhalten solle und wehe sie würde ihn nochmals vor sich haben. Es würde Konsequenzen geben, darauf könne er Gift nehmen. Ich sollte mir der Ehre bewusst werden in der Emiva aufgenommen geworden zu sein und ich solle dieses Privileg zu schätzen wissen.

Nach guten fünf Minuten in ihrem Büro, die sich wie eine Stunde angefühlt hatten, konnten Dean und ich schliesslich gehen. "Und dass Sie mir jetzt sofort in Ihre Zimmer gehen", hatte sie uns drohend gesagt.

"Hätten wir Richard nicht einfach boxen und weglaufen können?", stellte ich eine rhetorische Frage.

"Richard ist ein Geist, den kann man nicht boxen. Deine Faust würde durch ihn hindurch boxen", antwortete Dean, obwohl ich eigentlich keine Antwort von ihm verlangt hatte.

Er seufzte. "Wir hatten nur Pech, dass und Richard erwischt hatte. Wäre es Nerida gewesen, hätte ich ihr schnell ein Kompliment über ihre Frisur gemacht und wir wären davon gekommen. Aber bei Richard - keine Chance. Manchmal lockt er Schüler sogar extra aus dem Zimmer raus, um sie dann zu erwischen. Es scheint ihm regelrecht Spass zu machen."

Wir waren schnell im Erdgeschoss angekommen, hatten den Pfad zu den Schlafhäusern eingeschlagen und standen uns nun gegenüber. Ich merkte plötzlich wie müde ich nun doch war und unterdrückte ein Gähnen.

"Dann bis Morgen." Dean hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und drehte sich um.

"Schlaf gut", murmelte ich noch, ehe ich die Treppen in mein Zimmer hochstieg und mich ins Bett fallen liess.

Es dauerte keine drei Minuten, bis ich eingeschlafen war.

Die Erstgeborenen | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt