Genau wie Thomas es vorausgesagt hatte, war mir die nächsten Tage dauerhaft schlecht. Morgens war es teilweise so schlimm, dass ich kaum aus dem Bett kam. Treppenlaufen bereitete mir Schwierigkeiten, da mir dadurch schwindelig wurde. Es fühlte sich so an, als würde ich eine Art von Pubertät im Schnelldurchlauf erleben. Ich veränderte mich geistig, ebenso wie ich mich körperlich veränderte. Meine Muskeln wurden noch stärker, meine Bewegungen noch schneller und meine Sinne noch intensiver.
Ich hatte Probleme durchzuschlafen. Zweimal pro Nacht wachte ich aus unerklärlichen Gründen verschwitzt auf und war daraufhin hellwach. Wäre dies das einzig Merkwürdige, wäre ja noch alles in Ordnung. Jedoch wachte ich immer zu den selben Zeiten auf, 02:10 Uhr und 04:07 Uhr. Die gleiche Uhrzeit. Jede Nacht. Jedes Mal.
"Das fühlt sich komisch an", sagte ich eines Abend zu meinem Vater. Ich lag auf der gemütlichen Couch in eine Wolldecke eingekuschelt, Valentin sass mir gegenüber in einem Ohrensessel und blätterte in der Zeitung herum.
Es war schon spät. Aralda hatte sich bereits schlafen gelegt, da sie morgen früh aufstehen musste und deshalb genügend Schlaf benötigte. Esmera war noch mit einer Freundin unterwegs.
"Wie bitte?" Valentin schaute über den Zeitungsrand zu mir. "Ich sagte, das fühlt sich komisch an", wiederholte ich mich, "wenn ich mich anfasse, fühlt sich meine Haut eiskalt an - ich meine, ist sie ja auch, aber wenn ich dann Mama berühre oder dich, scheint ihr förmlich zu glühen."
"Auf wieviel Grad ist deine Körpertemperatur nochmal gesunken?"
"Zweiunddreissig Grad und das dauerhaft", antwortete ich. Sinkende Körpertemperatur war ebenso eine Veränderung, die bestehen bleiben würde.
"Normalerweise gilt es schon als Unterkühlung wenn man unter fünfunddreissig Grad liegt", entgegnete Valentin, faltete die Zeitung sorgfältig wieder zusammen und legte sie auf den Couchtisch.
Er stützte seine Ellenbogen auf den Sessellehnen links und rechts ab und faltete sein Hände ineinander. "Daran wäre mein Bruder Leonard fast mal gestorben", sagte er - völlig gleichgültig.
Ich horchte auf. "Wie bitte?"
"Ja", Valentin nickte eifrig und begann zu erzählen: "Ich war damals sieben Jahre alt, Leonard neun. Wir wohnten etwas abseits der Stadt in einem alten Bauernhaus, zwei Minuten von einem wunderschönen See entfernt. Im Sommer konnten wir jeden Tag darin baden, so lange wir wollten und im Winter fror der immer zu - eignete sich also super zum Schlittschuhlaufen. Das taten wir auch, allerdings waren wir wohl etwas voreilig, denn der See war an einigen Stellen noch nicht vollständig zugefroren."
Ich konnte mir schon denken, was folgen würde und ich hatte Recht.
"Das Eis unter Leonards Füssen war nicht dick genug und er brach in den See ein."
"Und dann? Was ist dann passiert? Hast du ihn rausgeholt?"
Valentin schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Ich war viel zu klein und auch zu dünn. Ich hätte ihn da nie und nimmer rausbekommen. Ich habe angefangen zu schreien und rannte zu unserem Haus zurück, um unseren Vater zu hohlen. Zum Glück hatte er uns durch das Küchenfenster beobachtet und rannte mir auf halbem Weg entgegen. Er hat Leonard dann da raus geholt, der See war zum Glück nicht allzu tief."
Ich hatte mich aufgerichtet und schaute ihn mit grossen Augen an. Valentin hatte mir schon lange keine Geschichten mehr aus seinem früheren Leben erzählt. Früher, als ich klein war, habe ich das immer sehr genossen.
"Lebt er noch?", fragte ich vorsichtig.
"Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er noch putz munter. Ich weiss nicht ob er noch lebt. Ich denke schon", sagte er - wieder völlig gleichgültig.
Es schockte mich sehr, dass er nicht wusste ob sein eigener Bruder noch am Leben war oder nicht. "Ist das nicht schlimm für dich, das nicht zu wissen?", fragte ich noch vorsichtiger um ihm keineswegs irgendwie zu nahe zu treten. Valentin schaute mich einen Augenblick ruhig an, ehe er mir antwortete.
"Nein", er klang entschlossen, "ich habe mich für deine Mutter entschieden und für eure Welt. Mir war bewusst, dass ich mein altes Leben zurücklassen muss, aber Aralda war es mir wert."
Ich lächelte.
"Ich habe Leonard sowieso selten gesehen, da er sich in eine Frau aus Peru verliebt hatte und in ihre Heimat gezogen war. Im Grunde hat er genau dasselbe getan wie ich. Er hat sich verliebt und sein altes Leben für die Liebe aufgegeben."
"Wo hast du denn vorher gelebt? Bevor du Mama kennengelernt hast?" Ich war neugierig. In meiner Familie wurde eher selten über die Vergangenheit gesprochen, deshalb wusste ich auch kaum etwas über Valentins Menschenwelt.
Valentins Augen begannen zu leuchten. "Aufgewachsen bin ich in Deutschland, in der Nähe von Dresden. Nach der Schule bin ich nach Tschechien gezogen, was auch gleich neben Deutschland liegt. Dort habe ich dann deine Mutter kennengelernt und dann ging sowieso alles sehr schnell und ich landete hier in Endola."
Es war schön wie er immer noch glücklich über seine Entscheidung war. Ich wüsste nicht, ob ich dieses Leben hier und meine Familie für einen Jungen aufgeben könnte.
Ich war noch nie verliebt gewesen, nicht einmal im Kindergartenalter. Ich war eines der wenigen Mädchen, die noch nie einen richtigen Kuss bekommen hatte, abgesehen der von Cosmo. Als wir acht Jahre alt waren und zusammen von der Schule nach Hause liefen, drückte er mir plötzlich einen feuchten Kuss mitten auf den Mund. Ich war so perplex gewesen, dass ich auf dem Absatz kehrt machte und mit schnellen Schritten vor ihm flüchtete. Zuhause weinte ich unter der Bettdecke. Daraufhin ging ich ihm tagelang aus dem Weg, weil mir dieses Ereignis einfach so unangenehm war und ich mich so dafür schämte. Cosmo hatte mir meinen ersten Kuss gestohlen.Es klingelte. "Ich geh schon", sagte ich und erhob mich. Als ich die Tür öffnete schaute ich in Cosmos fröhlich strahlendes Gesicht, der seine Hände in seinen Hosentaschen vergraben hatte. Na wenn man vom Teufel spricht...
"Hi", sagte er mit einem breiten Lächeln.
"Hallo", entgegnete ich. "Ist was passiert oder wieso bist du so spät noch draussen?", fragte ich etwas verwundert.
Er schüttelte abwehrend den Kopf. "Ich wollte nur sehen wie es dir geht. Bist du aufgeregt wegen morgen?"
Morgen war der sechsundzwanzigste August. Der erste Schultag in Emiva und somit war diese Nacht fürs Erste die letzte, die ich hier schlafen würde. "Jetzt noch nicht", antwortete ich, "aber ich denke, ich werde in der Nacht kaum schlafen können und morgen werde ich bestimmt nicht frühstücken."
Cosmo lächelte.
"Und wie geht es dir?", schob ich eilig hinterher.
"Ich bin ziemlich aufgeregt, aber nicht so sehr wie meine Mutter." Schmunzelnd verdrehte er die Augen. "Ich wollte dich noch fragen, ob wir morgen zusammen gehen wollen."
"Ich gehe mit meiner Grossmutter. Kommt bei dir denn niemand mit?"
"Doch, meine Mutter. Ich hatte nur gehofft, ich könnte das irgendwie verhindern", er lachte, "aber dann sehen wir uns dort. Das ist kein Problem." Ich erwiderte sein Lächeln und wir schauten und schweigend an.
Esmeras lautes Lachen liess und zusammenzucken und Cosmo trat einen Schritt zurück. Ich hatte nicht bemerkt, dass er sich mir genähert hatte. Esmera und ihre Freundin bogen in die Ecke und verabschiedeten sich.
"Dann bis morgen, schlaf gut", Cosmo drehte sich eilig um. "Hallo Esmera."
"Hallo", entgegnete Esmera und warf uns einen fragenden Blick zu."Gute Nacht", rief ich Cosmo hinterher und liess Emsera eintreten, ehe ich die Tür ins Schloss fallen liess.
Sie streifte die Schuhe von ihren Füssen und sah mich fragend an. "Was wollte Rutherford denn hier?" "Wir haben kurz wegen morgen gesprochen", sagte ich.
"Ich hab euch doch nicht in einem romantischen Moment gestört, oder?" Sie hob eine Augenbraue. Ich verneinte seufzend. "Hast du nicht."
"Hm", machte sie, "dir ist aber schon klar, dass er in dich verknallt ist, oder?" Ich wich ihrem Blick aus.
"Das ist mir schon längstens bewusst."
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Die Erstgeborenen | ✔️
FantasyIn der magischen Welt Endola gelten Erstgeborene als elitär. Sie besitzen besondere Fähigkeiten die mit sechzehn Jahren in Kraft treten. Aurelia Cohan ist die Erstgeborene und erbt somit das magische Gen ihrer Familie, welches sie in der "Emiva" Sch...