Zweites Kapitel

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Eine halbe Stunde später sassen wir alle gemeinsam in unserem kleinen Esszimmer. Aralda hatte unser Gemüse aus dem Garten kleingeschnitten und in den Ofen gesteckt. Dazu gab es eine Pfefferkorn-Salbei-Brennnessel Suppe. Valentin, der mir gegenüber sass, verzog bei jedem Löffel das Gesicht. Er schluckte schwer. Wenn mein Vater kochte, blieb es neutral bei Nudeln oder Reis. Aralda wagte jedoch mehr und probierte sich oft und gerne an aussergewöhnlichen Rezepten aus.

"Als ich letzte Woche in der Opsonarstrasse war, hab ich etwas Fabelhaftes entdeckt", begeistert legte Amanda ihr Besteck beiseite. Ihre Augen leuchteten.

"Was denn?", Valentin rollte mit den Augen und unterdrückte ein Würgen, "den fünfzigsten Zauberkessel?"

Amanda warf ihm einen bösen Seitenblick zu. "Den vierundzwanzigsten", entgegnete sie scharf, bevor sie sich wider fasste. "Er ist einfach genial, super edel und bestens für Heiltränke geeignet."

Das Essen verlief so, dass Amanda von ihren Einkäufen erzählte und von der neuen Heilcreme, die sie gerade kreierte. Aralda nickte immer wieder bestätigend und lauschte ihr gut zu, Valentin tat sich mit der Speise schwer, ich zog ihn belustigt damit auf und Esmera schwieg und starrte Löcher in die Luft. Als alle aufgegessen hatten und Valentins Teller der einzige war, der noch halb voll war, sagte Amanda: "Nun, wo ist der Brief?" Der Grund, warum meine Grossmutter bei uns war. Heute war der Brief von der Garde eingetroffen. Der Brief, der mich dazu einläd eine Magierin zu werden. Der Brief, der mich einer Schule zuteilt.

Ich drehte mich wortlos um und fasste mit dem Hand auf die kleine Kommode hinter mir. Der an mich adressierte Briefumschlag aus Büttenpapier und das Siegel des Departments von Endola fühlte sich wertvoll an. Ich merkte plötzlich wie sich mein Herzschlag beschleunigt hatte. Ich war aufgeregt, so wie ich es schon lange nicht mehr gewesen bin. Aralda nickte mir bestätigend zu. Ich öffnete mit zitternden Händen und begann zu lesen:

Sehr geehrte Miss Aurelia Cohan,

Erstgeborene Tochter von Aralda Cohan (Gefallene) und Valentin Cohan geb. Valentin Shepherd (Normalo/Mensch).

Mit Ihrer Geburt, wurde ihr Gen von uns sichergestellt. Nun, nach achtzehn Jahren, ist es an der Zeit es anzunehmen. Sie sind eine von insgesamt dreihundertsiebenundvierzig Erstgeborenen in ihrem Jahrgang. Es ist uns eine grosse Ehre, Sie hiermit als erstgeborenes Mitglied in unserer stolzen Elite von Endola begrüssen zu dürfen. Es warten spannende Zeiten auf Sie.

Sie wurden dazu auserwählt ihre magischen Fähigkeiten in der Emiva Schule zu erlernen und zu beherrschen. Zusammen mit den anderen, für diese Schule auserwählten Erstgeborenen, bitten wir Sie, sich am 04. August in das Department für Magier und Magierinnen zu begeben um ihr Gen anzunehmen.

Mit Freundlichen Grüssen,

die Garde, stellvertretend für unseren heiligen Rat

Matthew Walsh

"Oh Aurelia, wie schön. An der Emiva Schule war ich auch, welch ein Glück." Amandas Wangen hatten sich vor Freude rosarot verfärbt.

Ich fing an zu lächeln. Plötzlich fühlte sich alles so real an. Ich hörte ihr nicht zu, als sie von der Schule sprach und förmlich davon schwärmte, wie toll es dort sei. Ich dachte nur daran, wie mein Leben weiterging. Zugegeben, in diesem Moment war ich dankbar eine Erstgeborene zu sein. Ich fühlte mich besonders und ebenso wichtig.

Esmera nahm mir den Brief aus der Hand und warf einen verdutzten Blick darauf. Esmeras Augen sahen nur ein leeres Papier, in den Händen einer Zweitgeborenen. "Das können nur Erstgeborene lesen", sagte ich ruhig, um sie nicht unnötig zu verärgern. In meinen Ohren klangen meine Worte anscheinend freundlicher, als ich dachte, denn ich kassierte einen bösen Seitenblick, den sie mir wieder einmal zuwarf.

"Soll ich dich ins Department begleiten? Da willst du doch nicht alleine hingehen, oder?", Amanda sah mich mit gespannten Augen an.

"Ja", sagte ich mit leiser Stimme und nickte mechanisch, "ja klar... du kannst gerne mitkommen." Meine Augen ruhten auf Esmera. Ich wusste nicht, ob mich meine Augen täuschten. Doch ich konnte ihre Halsschlagader deutlich pochen sehen.

"Wenn ich noch länger hier bleibe", sie schob geräuschvoll ihren Stuhl zurück, "dann muss ich mich übergeben."

Die Sache mit Esmera war eine heikle Angelegenheit. Allerdings konnte ich sie verstehen. Wir waren Zwillinge. Ich war die Erstgeborene, sie die Zweitgeborene und das nur wegen drei verhängnisvollen Minuten. Dass sie darüber frustriert war, konnte ich vollkommen nachvollziehen und wäre ich die Zweitgeborene, würde es mir wahrscheinlich ein Stück weit genauso gehen. Sie fühlte sich wahrscheinlich wertlos und dass in dem Brief dann so etwas steht wie "Sie hiermit als erstgeborenes Mitglied in unserer stolzen Elite von Endola begrüssen zu dürfen" machte es auf keinen Fall besser.

Aber andererseits musste Esmera einfach einsehen, dass ich keine Schuld dafür trug. Niemand konnte das. So etwas kann beim besten Willen nicht beeinflusst werden. Alle anderen Endolaner, die nicht an erster Stelle waren, kamen auch irgendwie damit klar. Sie musste das auch. Aralda war das beste Beispiel dafür.

Die Stimmung war gedrückt. Valentin räusperte sich entschuldigend, erhob sich ebenso und folgte Esmera die Holztreppe nach oben. Amanda, Aralda und ich blieben zurück. Mein Kopf war leer und ich wusste nicht ob ich etwas sagen, oder lieben weiter schweigen sollte. Meine Grossmutter fasste über den Tisch nach meiner Hand. "Alles wird gut Aurelia. Lass dich nicht unterkriegen, das legt sich bestimmt wieder." Ich zwang mich zu einem Lächeln und erwiderte den leichten Händedruck.

Amanda hatte sich verabschiedet und ich habe mich kurz darauf nach oben ins Badezimmer begeben um mir die Zähne zu putzen. Als ich schliesslich mit nackten Füssen den Flur lang in mein Zimmer tappte, konnte ich gedämpfte Stimmen von unten wahrnehmen. Valentin war in Esmeras Zimmer, mit wem redete meine Mutter also noch? Ich machte auf dem Absatz kehrt und stieg die ersten fünf Stufen runter. Genau so weit um lauschen zu können ohne gesehen zu werden.

"Ich bin froh, dass es dich gibt, Mama. Ich bin einfach nur ratlos", sagte Aralda.

Amanda war also noch mal zurück gekommen? Ich traute mich einen Blick durch die Gitterstäbe des Geländers zu spähen. Meine Mutter sass mit dem Rücken zu mir, ihr Kopf in ihren Händen vergraben. Amanda hatte ihr beruhigend die faltige Hand auf ihre Schulter gelegt.

"Nur keine Sorge. Wir schaffen das schon" Aralda hob ihren Kopf. Ich zuckte erschrocken zurück und lehnte mich an die Wand. Meine Atmung beschleunigte sich. "Wir verstossen so mindestens gegen...", Mutter stockte und schien nach den richtigen Worten zu suchen, "gegen drei Regeln, ganz zu schweigen von dem heiligen Gebot", fuhr sie schliesslich fort und sie seufzte. Amanda antwortete ruhig: "Was der Rat nicht weiss, macht ihn nicht heiss" Je länger ich zuhörte, desto verwirrter wurde ich. "Ich sorge mich nicht um den Rat. Das ist unser kleinstes Problem." Aralda seufzte. "Du hast Recht", stimmte ihr Amanda zu. "Wir müssen jetzt erstmal abwarten. Ich habe versucht mich möglichst zurückzuhalten. Es bleibt uns also keine andere Wahl, einfach auf das Beste zu hoffen."

Eine Weile war es ruhig. Ich rang mit mir herum und war kurz davor dazwischen zu platzen, doch ich liess es bleiben. Meine Neugierde war zu gross, ich wollte mehr davon hören. "Diesen Tag habe ich seither immer gefürchtet." Amanda nickte bestätigend. "Damals ist eine Menge anders gekommen, als du es dir vorgestellt hattest. Aber seit dem Tag an habe ich dir mein Wort gegeben, dass wir das hinbekommen, und ich alles," Sie wiederholte sich bekräftigend: "Wirklich alles daran setze, dich und deine Familie mit meinem Leben zu beschützen." Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mich nach vorne gelehnt habe und presste mich wieder an die Wand. Ich hörte wie die Stühle zurückgeschoben wurden. Das war das Zeichen, mich schleunigst in mein Zimmer zu begeben.

Ich lag noch eine Weile wach in meinem Bett. An Schlaf war nicht zu denken. Zu viele Gedanken schwirrten ziellos in meinem Kopf herum. Ich grübelte darüber nach, was das Gespräch zwischen Aralda und Amanda zu bedeuten hatte. Sollte ich meine Mutter morgen darauf ansprechen? Zwar war ich mir ziemlich sicher, dass sie mir mit einer Notlüge kommen und irgendetwas Bedeutungsloses erfinden würde. Trotz der Differenzen mit meiner Zwillingsschwester und des rätselhaften Gespräches, welches ich belauscht hatte, fiel mir wieder ein, dass ich eine Erstgeborene war und darauf war ich irgendwie doch mächtig stolz.

Hätte ich da schon gewusst, was auf mich zukommen wird, hätte ich alles dafür getan, nach Esmera das Licht der Welt erblickt zu haben.

Die Erstgeborenen | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt