Vierundzwanzigstes Kapitel

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Dean führte mich aus dem Hauptgebäude heraus, über den Platz hinein in den Wald. Schweigend lief ich neben ihm her und ging in meinem Kopf alle Fragen durch, die ich stellen wollte, damit ich keine vergass.

"Also", versuchte ich das Gespräch zu starten, doch Deans Kopfschütteln liess mich augenblicklich wieder verstummen. "Noch nicht", sagte er.

Okay, dann warte ich halt noch.

Er führte mich immer tiefer in den Wald hinein. Ich stolperte einige Male über einen dicken Ast, behielt jedoch jedes Mal das Gleichgewicht und knallte so zum Glück nicht vor Dean auf die Nase.

Nach einigen Minuten kamen wir an einem See an. Er war klein, etwa so gross wie ein Fussballfeld.

"Wow", staunte ich. Obwohl ich schon einige Zeit hier in Emiva war, hatte ich noch nie mitbekommen, dass es hier einen See gab. Ich fragte mich, was für Orte es sonst noch gab, von denen ich noch nichts wusste.

"Gehst du hier immer hin, wenn du mal wieder im Wald verschwindest?", fragte ich neugierig.

In seinen kalten, grauen Augen lag überhaupt kein Ausdruck. Von diesem leichten Funkeln, was ich so sehr mochte, war nichts zu sehen.

"Ja", er strich sich sein, mittlerweile zu langes, dunkelbraunes Haar zurück. "Hier ist es friedlich. Ausserdem kommt hier nie jemand her. Immerhin habe ich noch keinen gesehen und ich bin oft hier."

Er setzte sich auf den Boden und stützte seine Arme auf seinen aufgestellten Knien ab. Ich tat es ihm nach und liess dabei einen guten Meter Platz zwischen uns.

"Du weisst also, dass ich im Kerker war", stellte er fest, er fragte nicht.

"Ja", sagte ich und schmunzelte, "ich musste es aber ziemlich aus Trevor und Lennard rausquetschen."

Als er nichts mehr darauf antwortete, holte ich tief Luft und fragte einfach gerade raus: "Bist du ein Sträfling aus Carcerem?" Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, bereute ich es. Ich hatte Angst vor seiner Antwort.

"Was? Nein!", sein Kopf fuhr herum, "wie kommst du denn darauf?"

Pure Erleichterung machte sich in mir breit.

"Warum warst du dann im Kerker?"

"Ich bin in das Büro von Hawking eingebrochen."

Ich bin in das Büro von Hawking eingebrochen.. liess ich seine Worte in meinem Kopf Revue passieren.

"Wieso das denn?", fragte ich, doch er ging nicht auf meiner Frage ein, sondern fing an eine ganz andere Geschichte zu erzählen.

"Als ich acht Jahre alt war haben sich meine Eltern getrennt. Ich bin eines Morgens aufgewacht und mein Vater war nicht mehr da. Er hat meine Mutter und mich verlassen, ohne etwas zu sagen ist er einfach abgehauen. Die darauffolgende Zeit war natürlich schlimm. Meine Mutter hatte sich relativ schnell wieder gefasst aber ich war wochenlang nur am Weinen. Ein halbes Jahr später heiratete meine Mutter Charles. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Er gab mir das Gefühl, er würde den Platz von meinem Vater einnehmen und versuchen, ihn komplett aus meine Erinnerung zu löschen. Als dann zwei Jahre später meine Mutter starb, bin ich innerlich endgültig zusammengebrochen. Sie war krank gewesen und als man dies bemerkte, war es schon zu spät. Ich musste ihr beim Sterben zusehen." Er schluckte.

"Dean", flüsterte ich tonlos und rückte instinktiv ein Stück näher an ihn heran, "das tut mir so leid."

Er fuhr fort: "Da mein Vater ja weg war und seither niemand mehr von ihm gehört hatte, blieb ich bei Charles. Er bekam das Sorgerecht für mich. Da fing der Horror an. Charles kümmerte sich kein Stück um mich. Er liess mich hungern und manchmal war ich tagelang alleine. Ich wachte morgens auf und hatte Angst mein Bett zu verlassen. Charles liess mich klar und deutlich spüren, dass er mich nicht haben wollte, dass ich eine Last für ihn war und immer noch bin."

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