Neunundzwanzigstes Kapitel

73 7 15
                                    

Abwechselnd wurde mir heiss, dann wieder kalt, wieder heiss und wieder kalt. Meine Haut kribbelte und meine Knie wurden weich.

Das Bild zeigte meine Mutter in ihren jungen Jahren neben einem gut aussehenden Mann stehen, der im gleichen Alter sein musste wie sie. Beide lächelten sie glücklich in die Kamera und hielten eine Schriftrolle in der Hand.

Es gab keine Zweifel. Der Name, Aralda Cohan, der unter dem Bild stand, bestätigte es mir nochmal.

"Scheint so, als hätten wir beide eine verkorkste Familie", war das Einzige, was Dean dazu sagte.

"Aber...", wollte ich erneut eine Erklärung suchen, doch ich fand keine. Denn es gab keine. Die Sache hier war ganz simpel. Meine Mutter, Aralda Cohan, war das erste Kind meiner Oma. Sie war eine Erstgeborene.

Auch Dean sagte es: "Deine Mutter ist im Jahrbuch von Emiva, das bedeutet, sie ist hier zur Schule gegangen und das wiederum bedeutet, sie trägt das Gen, also ist sie eine Erstgeborene."

Plötzlich fand ich diese Situation so komisch, dass ich kurz auflachte. "Das kann doch nicht wahr sein. Warum lügen Aralda und Amanda uns alle an? Oder belügen sie nur mich? Wissen Esmera und Valentin Bescheid?"

Dean zuckte mit den Schultern, was auch sonst? Er konnte mir schliesslich keine Antwort geben.

"Ich kriege hier Antworten auf Fragen, die ich gar nicht gestellt habe", fasste ich zusammen und Dean legte mir einen Arm um die Schulter. "Am besten", sagte er, "lassen wir uns davon jetzt nicht runterziehen. Wollen wir noch ein wenig spazieren gehen? Bis die Sonne untergeht haben wir noch etwas Zeit."

Sein Vorschlag war gut. Hoffentlich würde mich dieser Spaziergang auf ganz andere Gedanken bringen, auf viel schönere Gedanken. Ich nickte und riss ruckartig die Seite mit meiner Mutter aus dem Buch heraus. "Aurelia, spinnst du?", fuhr Dean mich an und blickte hektisch nach links und nach rechts. "Das kannst du doch nicht machen!"

"Und ob ich das kann", gab ich zurück. "Das ist meine Mutter. Ich kann das sehr wohl." Ich stellte das Buch zurück an seinen Platz.

Beim Hinausgehen stellten wir fest, dass die Bibliothek schon ziemlich leer war. Vereinzelt sassen Schüler und Schülerinnen über ein Buch gebeugt zusammen und unterhielten sich im Flüsterton.

Miss Greer schien einen Moment Ruhe zu haben. Sie stand hinter der Theke und kritzelte etwas auf ein alt aussehendes Stück Papier.

"Hallo Miss Greer", sagte Dean freundlich und auch ich begrüsste sie. Sie blickte kurz auf und senkte ihren Blick dann wieder auf das Papier. "War ja ziemlich viel los heute". Dean versuchte, sie in ein Gespräch mit ihr anzufangen, doch sie zeigte keinerlei Interesse.

"Können wir Ihnen vielleicht noch etwas helfen?", startete ich den Versuch.

Ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen sagte sie: "Nein, danke."

Dean und ich warfen uns einen Blick zu. Er nickte in Richtung Tür und ich verstand. "Na dann, auf Wiedersehen." Von Miss Greer kam keine Antwort.

Draussen angekommen sagte Dean: "Die war heute aber komisch. Sonst ist sie immer so gesprächig, vor allem mit mir."

"Sie hat uns auch kaum angesehen", stellte ich fest.

Dean schüttelte seufzend den Kopf. "Momentan ist irgendwie alles komisch."

"Wem sagst du das...", sagte ich bestätigend.

***

Am Mittwoch bat mich Mr Amberla in sein Büro, da er mir anscheinend etwas wichtiges mitzuteilen hatte. Anstatt nach dem Unterricht also in mein Zimmer zu gehen, klopfte ich wieder einmal an die Tür seines Klassenzimmers.

Die Erstgeborenen | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt