Siebzehntes Kapitel

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Wie angewurzelt stand ich da. Unfähig auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn davonzulaufen.

Noch immer konnte ich das Gesicht der Gestalt nicht erkennen. Mir blieb die Luft weg, als ich sah, wie die Gestalt einen Schritt auf mich zu machte. Sie streckte eine knochige, unmenschlich aussehende Hand nach mir aus. Die Finger waren viel zu dürr und zu lang. Die Nägel ungepflegt gelb.

Endlich, als sich meine Füsse wieder daran erinnerten, wie man sich bewegte, wich ich einen Schritt zurück. Mein Herz schlug von Sekunde zu Sekunde immer schneller und lauter. Es wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Die Gestalt kam näher und näher.

Ein erneuter Blitz, kurz darauf der Donner. Wie aus dem Nichts erschien ein helles, grelles Licht in den dunklen Wolken.

Es war kein Blitz. Irgendwie war es anders. Mehrere Sekunden war es einfach nur da, hoch oben in den Wolken, ehe ein Strahl aus Licht auf uns zu kam. Er traf nicht mich, sondern die unheimliche Gestalt vor mir. Wenige Sekunden später war die Gestalt und das Licht wie vom Erdboden verschluckt. So als wären sie nie da gewesen.

Ich zitterte. Meine Tränen vermischten sich mit dem Regenwasser, welches an meinen Wangen herunterlief. Meine Knie waren immer noch so weich wie Pudding und ich sank zu Boden. Ein Moment Ruhe konnte mir bestimmt nicht schaden.

"Du musst besser auf dich aufpassen", erklang ein leises Flüstern. Ich zuckte leicht zusammen und sah mich um, doch da war nichts zu sehen.

Ich hatte noch nicht mal das Erlebnis gerade eben verarbeitet, da passierte schon das nächste Unheimliche.

"Du bist besonders, viele sehnen sich danach, dich in ihrem Besitz zu haben. Du bist sehr mächtig, Aurelia. In deinen Adern fliesst besonderes Blut. Du weisst was du bist. Nutze deine Kräfte, setzte sie richtig ein um zu überleben."

Das war das Letzte, was die Stimme sagte. Der Regen liess nach und hörte schliesslich ganz auf. Das durfte doch nicht wahr sein. Als hätte sich das Wetter extra für dieses kurzes Spektakel geändert.

Was soll das heissen "um zu überleben"? Ich kam mir vor, wie in einem schlechten Film, fest davon überzeugt meine Wahrnehmung würde mir einen gemeinen Streich vorgaukeln.

Das konnte doch unmöglich echt sein. In Endola gab es viele merkwürdige Wesen und es passierte manchmal schon etwas aussergewöhnliches. Endola war ja auch aussergewöhnlich. Aber so etwas... Vielleicht sollte ich mich mal von Kopf bis Fuss gründlich durchchecken lassen.

Ob eventuell etwas mit meinem Gen nicht stimmte? Hatte Thomas einen Fehler begangen und deshalb passierten mir so seltsame Dinge? Zuvor hatte ich noch nie so etwas Merkwürdiges erlebt.

Stimmen, die zu mir sprachen, der Rabe, diese Gestalt. Ich erinnerte mich auch noch an diesen einen Traum, als ich noch zu Hause war.

Ich sah ein, dass ich jetzt in diesem Moment nicht viel dagegen tun konnte, doch ich nahm mir fest vor dieser Sache auf den Grund zu gehen.

***

Ich hatte in der Nacht kaum geschlafen. Ich war zweimal aufgeschreckt und hatte danach nicht zurück in den Schlaf gefunden. Das Frühstück hatte ich verpasst. Als ich aufwachte, war gerade noch genügend Zeit übrig um die Schuluniform anzuziehen und dann schleunigst in das Gewächshaus zu eilen. Fürs Zähneputzen reichte es nicht mehr.

Immerhin hatte ich es pünktlich in den Unterricht von Mrs Shanola geschafft. Nun stand ich neben Elliot und hielt einen Kessel in der Hand. Er wucherte mit seinen Händen in einem riesigen Pflanzentopf herum und zupfte gelbe tannenartige Zweige raus, die er mir in den Kessel warf. Die Aufgabe war es, einen Trank zu mischen, der am Ende eine orangene Farbe und eine dickflüssige Konsistenz haben musste.

Die Erstgeborenen | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt