Ich hob meine schweren Augenlider und blinzelte träge. Auf dem kalten Boden kauernd sass ich in einer Kirche, was ich, wegen dem Altar und den bunten Fenstern, innerhalb von Sekunden realisierte. Meine Hände und Beine waren gefesselt, meine schwarzen Haare hingen mir nassgeschwitzt ins Gesicht. Vor mir erblickte ich einen weissen, hell leuchtenden Umfang. Es war das Körperbild einer erwachsenen Person. Aber aus dem Rücken wuchsen Federn heraus, die sich innerhalb kürzester Zeit zu zwei riesigen Flügel entwickelten. Ohne jede Zweifel, handelte es sich um einen Engel. "Aurelia Cohan?" Die Stimme klang überraschend sanft und hoch. "Ja", hauchte ich fast tonlos. Mein Herz schlug wie wild, ich konnte es hören. "Ich bin Erzengel Gabriel, Beschützer des Sternzeichen des Krebses." Er hatte seine dürren Hände aus Licht vor seinem Bauch zusammengefaltet. "Ich dachte nicht, dass ich dir einmal beistehen müsste, da du doch so besonders bist." Ich rang nach Luft und atmete tief ein und aus.
"Ich bin eine Erstgeborene", brachte ich mühsam hervor. Du bist viel mehr als das, deine Eltern sind besonders, du bist es auch." Meine Handgelenke schmerzten fürchterlich. Der magische Draht, der meine Hände fesselte bohrte sich tief in meine Haut. Blut quoll aus den entsprechenden Stellen heraus. "Erzengel irren sich nicht Aurelia. Dein Blut ist magischer, stärker als du denkst", Erzengel Gabirel blickte auf mich herab. Ich hatte keine Ahnung von was dieser Engel sprach. "Meine Eltern sind nichts besonders. Wir sind eine normale Familie. Mutter eine Gefallene, Vater menschlich." Ich kniff die Augen zusammen, da mich das Licht seiner Gestalt blendete und fast blind werden liess. "Nicht alles, was andere sagen, ist wahr, mein Kind." Erzengel Gabriel war näher an mich heran geschwebt. "Du musst lernen Wahrheit und Lügen zu unterscheiden. Glaube dem, dem du vertrauen kannst, Zweifel an dem, der dich belügt."
"Was soll das bedeuten?", fragte ich mit schwacher Stimme. Noch mehr Blut quoll aus meinen Händen hervor. Meine Augen tränten vor Wut, mein Hals brannte wie Feuer. Es war unerträglich. Wo war ich hier nur? "Das wirst du früh genug erfahren. Ich kann dir den richtigen Weg weisen, doch gehen musst du ihn allein. Diese Welt, aus der du stammst, ist gefährlich. Es ist längst nicht mehr so sicher wie es einmal war. Merke dir das, sonst wirst du mit Sicherheit in den Tod stürzen. Suchst du dort wo Liebe ist, wirst du fündig wo Lügen sind. Fragst du den, der dich beschützt, antwortet der, der dir beisteht. Liebt der, der nicht zu wissen scheint, spricht der, der zu hassen mag."Schweissgebadet wachte ich auf. Es dauerte eine Weile bis ich mich orientiert hatte. Die Bettdecke hatte ich, während ich träumte, auf den Boden gestrampelt und ich lag mit dem Kopf am Fussende des Bettes. Auf den Händen stützte ich mich auf. Der Mond schien durch mein Fenster und ich kniff die Augen zusammen. Das war mit Abstand der merkwürdigste Traum, den ich je geträumt hatte. Engel.
Ich hatte von einem Engel geträumt. Einen Engel zu sehen ist eine Sache, aber mit einem Engel zu sprechen, das war nicht möglich. Engel sprachen nicht mit uns. Sie sprachen mit keinem. Ich legte mich wieder hin und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bringen und ruhig zu werden.
Am nächsten Morgen konnte ich mich kaum noch an etwas erinnern.
***
Die nächsten Tage vergingen. Ohne, dass ich Esmera häufig zu Gesicht bekam. Sie bevorzugte es in ihrem Zimmer zu bleiben und kam nur selten raus, um was zu essen oder um auf die Toilette zu gehen.
"Gib ihr einfach ein bisschen Ruhe und lass sie schmollen", sagte Aralda drei Tage später zu mir. Ich war mit Freunden zum Mittagessen verabredet und gerade auf dem Sprung. Ich hatte meine Haare im Nacken zusammengebunden und warf einen letzten Blick in den Spiegel. "Ich hatte nicht vor sie zu stören, im Leben nicht würde ich einen Fuss in die Höhle des Löwen setzten", log ich. Die Wahrheit war, dass ich schon viermal vor ihrer Zimmertür stand und anklopfen wollte. Ich hatte beschlossen Empathie zu zeigen, solange es Esmera zulassen würde.
"Es ist schwer für sie", begann meine Mutter und ich unterbrach sie mit gehobenen Händen. "Mama, ich weiss, dass es schwer für sie ist. Aber sie sollte auch wissen, dass ich nichts dafür kann, dass du mich zuerst rausgepresst hast." Aralda hob eine Augenbraue. "Dafür kann ich nichts. Ich bin ihr gegenüber offen und das war ich eigentlich schon immer. Sie hat meine Offenheit ihr gegenüber nur nicht gesehen oder einfach nicht sehen wollen. Ich will keinen Streit mit ihr. Aber sie macht mich schuldig. Und solange sie nicht akzeptiert, dass ich die Erstgeborene bin ..."
Ich liess den Satz unbeendet im Raum stehen. Aralda nickte kurz und gab mir einen ihrer Blicke, der mehr als tausend Worte sagte, bevor sie mir den Rücken kehrte. Ich war spät dran, trat durch die Tür nach draussen und machte mich auf den Weg in den Stadtbezirk.
Eine halbe Stunde später sass ich mit meinen Freunden Logan Sanders, Ava Morris und Cosmo Rutherford in einem meinen Lieblingsrestaurants. Bab's and Bob's. Es war ein kleines, verwinkeltes Häuschen, gemütlich und alt. Der Fussboden knarrte bei jeder Bewegung. Es war nicht sonderlich viel los. Ausser uns waren noch zwei ältere Männer hier, eine junge Mutter mit ihrem Neugeborenen Kind und ein junges Pärchen, welches sich auch gut in ein eigenes Zimmer hätte verziehen können.
Die Bedienung hatte uns gerade unser Essen gebracht. Kürbisauflauf für Logan und Ava, Erbseneintopf für Cosmo und Kartoffelhaferbrei mit Würstchen für mich. Von uns vieren war Ava die Einzige, die keine Erstgeborene war. Sie hatte drei ältere Geschwister und es störte sie überhaupt nicht. Wir konnten ohne Probleme in ihrer Anwesenheit über dieses ganze Zeug sprechen. Sie fühlte sich dann nicht traurig oder wertlos. Im Gegensatz zu Esmera.
"Mein Bruder hat gestern seine neue Freundin mit nach Hause gebracht", begann Cosmo ein neues Gespräch und verdrehte die Augen. Sein blondes Haar harmonierte mit den blauen Augen und obwohl wir beide nebeneinander sassen, war er dennoch über einen Kopf grösser als ich. "Und? Wie ist sie?", ich pustete das Essen auf dem Löffel kalt. Cosmo würgte und tat so als müsste er sich übergeben. "Was hast du denn?", fragte Logan verwirrt, nachdem er geschluckt hatte, "die sah doch gut aus, dein Bruder kann sich glücklich schätzen."
"Aussehen ist nicht alles, Logan", Ava blickte ihn schief von der Seite an. Er verdrehte die Augen und sagte: "Naja, ich finde das Aussehen schon wichtig. Ich will ja nicht mit einer zusammen sein, die ich nicht attraktiv finde", er zuckte mit den Schultern, als sei es das Normalste der Welt. "Ich sage ja auch nicht, dass es unwichtig ist", entgegnete Ava mit verdrehten Augen, "ich sage nur, dass es wichtigeres als das Aussehen gibt." Logan und Ava hätten noch weiter diskutieren können und sie hätten es auch bestimmt getan, wäre Cosmo ihnen nicht zuvor gekommen: "Die sieht schon gut aus", gab er zu, "aber ihr Charakter ist so ... ich weiss nicht." Er suchte nach den richtigen Worten. "Sie schleimt sich einfach extrem bei unseren Eltern ein und sowas mag ich halt gar nicht.""Ich bin mir sicher, sie ist bei weitem besser als die Assi-Freundin meiner Schwester", Ava schob sich einen Löffel ihres Kürbisauflauf in den Mund. Verwirrt schaute ich auf. "Sind die noch zusammen? Ich dachte, Lili hat sich von ihr getrennt." Ava hob die Hände. "Mal sind sie zusammen, dann wieder nicht, dann versöhnen sie sich wieder, dann gibt es wieder Streit. Das ist ein endloses Drama bei denen und deshalb auch ein riesen Theater bei uns zu Hause." Sie legte ihr Besteck beiseite, richtete sich auf und hob ihren Zeigefinger. "Erst Mal", begann sie, "musste ich meine Schwester trösten, was ja okay ist. Aber dann, durfte ich zwei Wochen später erfahren, dass Lili wieder mit der zusammen ist. Meine Eltern fanden das natürlich gar nicht gut. Die mögen Josephine sowieso nicht und können auch gar nicht verstehen was Lili an ihr findet."
"Das Wichtigste ist doch, dass die zwei etwas ineinander sehen. Alles andere zählt nicht", sagte ich schmunzelnd.Für einen kurzen Moment war es ruhig am Tisch. Wir wichen alle dem Gespräch aus, welches der eigentliche Grund für unser Treffen war. Ich bemerkte Avas Blick, der auf mir ruhte. Ich erwiderte ihn und sie verstand. Ava räusperte sich: "Kommt schon Leute. Ihr habt den Brief alle bekommen. Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen, wirklich nicht." Ich war ihr so dankbar. "Du solltest mal mit Esmera darüber sprechen. Sie könnte sich eine grosse Scheibe von dir abschneiden." Sie zwinkerte. Logan, Cosmo und ich wechselten einen Blick.
"Magicans", sagte Logan. "Emiva", sagte Cosmo. Ich schaute ihn lächelnd an. "Emiva", sagte auch ich. Cosmo nahm meine Hand und drückte sie kurz. "Das ist toll Leute", Ava hob feierlich ihr Glass, "lasst uns anstossen. Auf euch und euer Gen. Darauf, dass ihr Erstgeborene seid und zur Elite gehört." Die Gläser klirrten.
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Die Erstgeborenen | ✔️
FantasiIn der magischen Welt Endola gelten Erstgeborene als elitär. Sie besitzen besondere Fähigkeiten die mit sechzehn Jahren in Kraft treten. Aurelia Cohan ist die Erstgeborene und erbt somit das magische Gen ihrer Familie, welches sie in der "Emiva" Sch...