Zweiunddreissigstes Kapitel

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Die Hütte von Lennards Familie war klein, aber ausreichend. Wenn man eintrat, stand man bereits in Wohnzimmer, Esszimmer und Küche. Weiter hinten gab es ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett, welches sich Lennard und Trevor teilten, und ein winziges Badezimmer. Eine kleine Leiter führte unters Dach, wo noch eine Matratze für zwei Personen lag. Für Dean und mich.

Es war bereits Abend. Ich legte mich seufzend und erschöpft ins Bett. Dean hatte sich in der Decke eingekuschelt und hob sie hoch, sodass ich auch darunter kuscheln konnte. Er schien sehr darauf zu achten, dass wir uns gegenseitig nicht berührten.

Der Tag war anstrengend gewesen. Nachdem wir in der Hütte angekommen sind und ich uns schnell eine Tasse Tee gemacht hatte, sind wir in Richtung Stadtzentrum aufgebrochen. Wir mussten gute vierzig Minuten laufen und draussen war es ziemlich kalt gewesen. Bestimmt würde ich nächste Woche eine fette Erkältung mit mir rumtragen müssen.

Zu unser aller Enttäuschung hätten wir uns unseren netten Ausflug auch sparen können. Wir haben rein gar nichts gefunden. Die Leute, die mit uns gesprochen haben konnten uns nicht im Geringsten weiterhelfen. Aber mal ehrlich, ich hatte nichts anderes erwartet.

Wir bekamen Aussagen wie "Dieser Mann hat eindeutig was zu verheimlichen", "diese arme Familie. Da lässt er Frau und Sohn einfach im Stich und treibt die Frau mit seinem Verschwinden ins Sterben", "zum Glück hat der Junge nun einen liebevollen Stiefvater, der sich um ihn kümmert" und "ich würde gerne wissen, wo dieser Flynt die ganze Zeit gesteckt hat" zu hören.

Trevor musste Dean richtig zurückhalten, denn als dieser Mann mit der Aussage des liebevollen Stiefvaters kam, sind bei Dean alle Sicherungen durchgegangen.

Zu unserer Überraschung, waren die Leute allerdings ziemlich gesprächig gewesen. Eine ältere Frau war sogar der Meinung, Joseph Flynt und Aaron Sculpt würden gemeinsame Sache machen.

"Weisst du", hat sie zu mir gesagt, "das ist schon komisch. Dieser Sculpt redet davon, dass sein Meister ihn befreien wird und siehe da - er konnte aus Carcerem fliehen. Ein paar Wochen später taucht Flynt auf und zieht so alle Aufmerksamkeit auf sich. So hat Sculpt freie Bahn. Das muss man sich mal vorstellen. Ich sag euch eines, Kinder. Am besten verlasst ihr alleine nicht mehr das Haus. Die ganzen Raben sind euch ja sicherlich auch aufgefallen."

Ja, das waren sie. Ich hatte heute mindestens zwanzig Raben gesehen und jeder einzelne löste eine Gänsehaut bei mir aus. Ausserdem hatte ich mich ununterbrochen beobachtet gefühlt. Es war wirklich unheimlich gewesen.

"Komm her", sagte Dean zu meiner Überraschung und zog mich an sich. Mein Herz begann sofort höher zu schlagen, als ich in seinen Armen lag. Da es hier oben unglaublich kalt war, hatten wir beide noch unsere Pullover an. Sonst würden wir hier garantiert erfrieren.

"War der heutige Tag eine Enttäuschung für dich?"

Es dauerte etwas, bis Dean antwortete: "Ja und nein. Ich weiss selbst nicht, was ich mir erhofft hatte. Wahrscheinlich viel zu viel. Dass ich meinen Vater einfach so auf der Strasse antreffe und alles wieder gut ist? Wohl kaum."

"Du hattest Hoffnung", sagte ich leise, "und daran ist auch nichts verkehrt. Hoffnung ist oft das einzige, was uns daran hindert einfach aufzugeben."

"Das stimmt schon, aber wenn man die ganze Zeit hofft und hofft und einfach nichts dabei raus kommt... da verliere selbst ich die Hoffnung."

"Das verstehe ich. Vielleicht geht es dir auch nur darum, dass du von Charles weg kommst", wagte ich eine Vermutung auszusprechen.

Ich spürte, wie Dean den Kopf schüttelte. "Von Charles weg komme ich sowieso. Es wäre halt schön, wenn ich dann nicht komplett alleine da stehen würde und Familie bei mir hätte. Joseph ist halt wirklich der Einzige, den ich noch habe."

Die Erstgeborenen | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt