33. Blickwinkel

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Die aufgewühlte See brandete gegen die Küste... eine gute Gelegenheit, besser als Kerker... eine Falle!... der unheimliche Fremde... gefangen.

Schweißgebadet schreckte Eragon aus seinem elfengleichen Wachschlaf. Es war lange her, dass er einen so aufwühlenden Traum gehabt hatte. Meist waren diese Träume kein gutes Vorzeichen. Sie waren sehr oft schwer zu interpretierende Vorahnungen gewesen.
Der junge Anführer war sich nicht sicher, ob auch dieser Traum ihm einen Ausblick auf die Zukunft ermöglicht hatte. Er hatte das Gefühl gehabt auf einer Insel zu sein. Der Ort war ihm irgendwie vertraut gewesen. Er war mit einer Gruppe von Menschen dort gewesen. Er war sich sicher, dass sie angegriffen worden waren. Aber von wem?
Er konnte es nicht genau sagen.
Nur ein Bild, welches im Zusammenhang mit den Angreifern stand, war ihm noch deutlich im Gedächtnis. Ein Mann, der eine weite, schwarze Kutte trug. Das Gesicht verdeckte eine Kapuze und um den Hals, über seinen wallenden Gewändern, trug er eine goldene Halskette mit einem Amulett das Eragon nicht mehr genau beschreiben konnte.
Das erschreckende der an dieser Erscheinung waren allerdings die Hände gewesen. Das Wesen hatte keine mehr. Seine Arme endeten im Stümpfen, über die fein geschmiedete goldene Kappen gezogen waren. Parallel zu den Unterarmknochen waren zwei goldene Klingen in die Kappen eingearbeitet.
Die, welche parallel zur Speiche lief, war kurz und wirkte wie eine grausame Klaue. Die untere Klinge, welche parallel zur Elle aus der goldenen Kappe hervorbrach, war länger und geformt wie eine Sense.
Alles in allem wirkten diese Waffen wie eine grausame Imitation einer Hand.
Eragon war um einiges zu aufgewühlte um wieder schlafen zu gehen.
Er erhob sich aus seinem Bett, zog sich nur seine Hose über und warf sich einen Umhang um die Schultern. Zunächst führte sein Weg ihn in die Küche. Dort hatte er mit Arya und Murtagh an diesem Abend noch lange zusammen gesessen und geredet.
Während er sich einen Apfel aus einer Schale fischte, welche auf dem Tisch stand, wanderten seine Gedanken zu seiner Gefährtin. Auch während des geselligen Abends hatte er das Gefühl nicht abstreifen können, dass der Elfe etwas auf die Seele lastet. Leider war Arya, kurz nach dem Murtagh sich verabschiedet hatte, zu Bett gegangen und es hatte sich keine Gelegenheit ergeben ein Gespräch mit ihr zu beginnen.
Gedankenverloren wanderte Eragon durch den Flur seiner Behausung und drehte nachdenklich den Apfel in seinen Händen. Plötzlich fiel ihm etwas auf.
Draußen herrschte Vollmond und tauchte die Welt in ein silbriges Licht. Ein Teil dieses Lichts fiel in den Flur aber nicht durch ein Fenster. An der Stelle wo es in die Behausung der beiden Drachenreiter eindrang war eine Tür. Sie musste also offen stehen. Eragon beschloss dem nachzugehen.
Da sein Heim sich in einem halbkreisförmigen Bogen vor Saphiras Höhle aufspannte, war praktisch ein kleiner Innenhof entstanden und in eben diesen führte der Ausgang, durch den Eragon nun in die Nacht blickte.
Zu seiner Überraschung entdeckte er Arya.
Die Elfe trug ein ärmelloses, weißes Nachthemd und saß im schwachen Licht des Vollmonds vor der Höhle, in der Saphira, Fírnen und Dorn schliefen. Der grüne Drache und Eragons treue Begleiterin schliefen dicht beieinander und hatten ihre Schwänze miteinander verflochten. Dorn hatte sich etwas abseits zusammengerollt und schlief ebenfalls friedlich.
Das Licht des Mondes wurde von den edelsteinartigen Schuppen der mächtigen Wesen eingefangen und zauberte ein eindrucksvolles Farbenspiel.
Eine angenehme Wärme flutete über die kleine Lichtung. Offenbar hatte Dorn das Versprechen, dass er seinen Artgenossen gegeben hatte und von dem Murtagh den beiden anderen Drachenreitern berichtet hatte, eingelöst. Er hatte ihnen die Vorzüge eines Wärmebades gezeigt.
So eindrucksvoll der Anblick der drei Drachen auch war, im Moment beschäftigt die Eragon mehr was Arya zu dieser späten Stunde wach hielt. Nach kurzem Zögern trat der ebenfalls auf die Lichtung und setzte sich neben die Elfe.
Arya blinzelte ihn überrascht an. Dass ihre feinen Sinne ihn nicht bemerkt hatten, war für den jungen Anführer der Reiter ein Zeichen, dass sie tief in Gedanken gewesen war.
"Habe ich dich geweckt?"
"Nein." Beschwichtigte Eragon flüsternd, um die Drachen nicht zu stören. "Ich hatte einen merkwürdigen Traum und wollte mir etwas die Beine vertreten."
Zunächst hatte er fragen wollen, was Arya wach hielt aber er schwieg. Der Umstand, dass er sich zu ihr gesetzt hatte, war Zeichen genug für Arya, dass er bereit war ihr zuzuhören. Mehr hätte die Elfe wohl als aufdringlich empfunden.
Zunächst glitt der Blick ihrer grünen Augen wieder ins Leere. Genau konnte Eragon nicht sagen wie viel Zeit verstrich aber er vermutete, dass sie wenigstens eine Stunde schweigend beieinander saßen. Langsam verebbte die Wärme, die noch vom Gestein der Drachenhöhle ausging. Als er bemerkte, dass Arya sich fröstelnd über die Arme strich, legte Eragon ihr seinen Umgang um die Schultern. Erneut blickte die Elfe ihn an.
"Ich weiß, ich weiß!" Eragon hob beschwichtigend die Hände. "Du bist kein schwaches Menschenweib! Manchmal aber ist kein Zeichen von Schwäche Hilfe anzunehmen."
"Nein, das ist es wohl nicht." Antwortete Arya und zog sich den Umhang etwas enger um die Schultern. "Ich nehme an, es interessiert dich was mich um den Schlaf bringt."
Eragon nickte stumm. Zunächst schien Arya nicht weitersprechen zu wollen. Sie ließ sich nach hinten sinken und lag schließlich der Länge nach im Gras. Etwas enttäuscht richtete Eragon seinen Blick auf die drei schlafenden Drachen. Plötzlich jedoch merkte er das Aryas Hand nach seiner tastete. Zeitgleich spürte er einen leichten Druck gegen seine geistigen Schilde. Der junge Anführer der Reiter ließ sich neben die Elfe ins Gras sinken und öffnete seinen Geist.
Bilder und Erinnerungen durchzogen von der wilden Melodie die Aryas ganzen Geist erfüllte zogen an seinem geistigen Auge vorbei. Das Gespräch, welches sie mit Fürst Däthedr geführt hatte und die anschließende Unterhaltung mit Runön. Als der Strom der Erinnerung versiegte, kämpfte Eragon mit seinen Gefühlen.
Er fühlte sich zunächst beleidigt, seine Gefühle für Arya herabgewürdigt.
Ein Teil von ihm wünschte sich den Elfenfürsten ausführlich charakterisieren zu dürfen. Dabei wollte dieser Teil seines Selbst auf die erlesensten Schimpfworte zurückgreifen, welche sein Wortschatz zu bieten hatte.
Eragon kämpfte diesen Impuls jedoch nieder.
Einen Wutausbruch hätte Arya als kindisch empfunden und Eragon wollte ihr Vertrauen nicht enttäuschen. Sie war niemand, der sein Herz auf der Zunge trug. Dass sie ihm so vorbehaltlos ins Vertrauen gezogen hatte, war gleichermaßen eine Prüfung für ihn.
Eragon bedachte genau, was er gehört und gesehen hatte. Er hatte auch gespürt, dass das Gespräch mit Runön bereits viele von Aryas Zweifeln zerstreut hatte. Was sie dennoch verletzte musste weit tiefer gehen als der augenblickliche Ärger über Däthedrs Worte.
"Ich danke dir, dass du mir vertraust." Sagte Eragon schließlich und drehte seinen Kopf, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. "Du hast übrigens recht."
"Womit?"
"Sollten wir je ein Kind haben dann werden wir beide es lieben." Gemeinsam mit diesen Worten schickte Eragon Arya ein Gefühl. Es beschrieb eine Entscheidung der getroffen hatte, nachdem sie in Ellesméra eine Nacht miteinander verbracht hatten.
Er wusste, dass Elfen nie heirateten.
Doch ebenso klar war ihm, dass sie deswegen eine Beziehung nicht weniger ernst nahmen. Eragon hatte in jener Nacht in Ellesméra beschlossen, dass, solange Arya eine Bindung mit ihm wünschte, er ihre Beziehung so ernst nehmen würde als wäre sie seine Gemahlin.
Die Elfe lächelte ihn dankbar an. Eragon hob seinen Arm und Arya bettete ihr Haupt auf seine Schulter.
"Was quält dich noch mein Stern?"
"Ich frage mich, wie ich so blind sein konnte? "Antwortete Arya. "Oder bin ich einfach naiv? Ich dachte, dass zumindest einige Adelige ehrenwerte Gründe gehabt hätten nicht zu Königen zu machen. Ich glaubte, dass mein Onkel aus der Art geschlagen wäre. Dass sein Versuch mich zu manipulieren und sich an die Macht zu bringen etwas Außergewöhnliches und Bösartiges wäre. Jetzt scheint es mir mehr und mehr, dass jeder Hintergedanken hatte. Ich habe gelernt, dass mein Volk angeblich zu den reinsten und ehrlichsten Geschöpfen in Alagaesia gehört. Wo soll denn diese Reinheit und Ehrlichkeit sein? Ist es alles nur ein schöner Schein?"
Eragon wusste, dass er seine Worte mit bedacht wählen musste. Noch immer trug er den Apfel mit sich herum und die Frucht brachte ihn auf eine Idee. Er hielt ihn in Aryas Blickfeld und fragte: "Welche Farbe hat dieser Apfel?"
"Er ist rot."
Bei der Antwort musste der junge Anführer der Reiter schmunzeln. Er hatte den Apfel so gehalten, dass tatsächlich nur seine rote Seite zu sehen war. Nun drehte er in etwas und eine grüne Backe wurde sichtbar.
"Also für mich ist er rot und grün und wenn ich ihn noch etwas weiter drehe sogar nur grün."
"Was willst Du mir sagen Eragon?"
"Dass die Wahrheit im Auge des Betrachters liegt Arya. Mit welchen Augen betrachtest du dein Volk? Ich will es dir sagen: es sind dieselben Augen, mit denen Du aufgewachsen bist.
Du bist aufgewachsen während des Krieges. Man kann viel über Galbatorix sagen aber eins muss man ihm lassen:
Durch ihn war die Welt sehr überschaubar.
Er war das Böse und alle die gegen ihn standen, waren das Gute. Schwarz und Weiß. Sehr überschaubar.
Nun ist er aber fort. Dein Volk ist nicht böse oder schlecht Arya. Auch ist nicht alles nur ein schöner Schein. Doch die Zeiten haben sich geändert und alle die vorher nur ein Ziel vor Augen hatten, nämlich das böse in Form von Galbatorix zu besiegen, müssen sich jetzt ein neues Ziel suchen. Die Welt ist im Wandel und die Rollen sind nicht mehr so einfach und klar verteilt wie zu Zeiten des Krieges."
"Du hast nicht unrecht." Überlegte Arya. "Trotzdem... Weißt du noch als zusammen zu meinem Volk gereist sind? Ich habe dir damals unsere Regeln beigebracht. Ich habe dir gesagt, dass diese Regeln uns schützen sollen.
Weil wir nicht fruchtbar sind und uns vermehren wie die Menschen oder Zwerge müssen wir uns strengen Prinzipien unterwerfen.
Wir müssen diszipliniert und ehrlich sein, denn Lüge ist der Quell von Unfrieden.
Die Regeln sollen Ehrlichkeit unter uns gewährleisten. Wie kann Däthedr mich gleichzeitig mit der Anrede "Elda!" ehren und trotzdem so abfällig über meine Gefühle reden. Wie kann er dir gegenüber von Respekt sprechen und dich mit hohen Titeln bedenken, wenn er dich nicht mal als gleichwertig ansieht?"
Wieder musste Eragon einen Moment nachdenken. Aryas Frage war nicht einfach zu beantworten.
"Lass mich dir eine Frage stellen: Wie konnte Runön Brisingr für mich fertigen, obwohl sie geschworen hatte, und zwar in der alten Sprache, nie wieder ein Schwert zu schmieden?"
"Sie hat den Eid umgangen, indem sie durch dich gearbeitet hat."
"Sicher, sicher aber wie Du schon sagst: Sie hat den Eid umgangen."
"Willst Du mir sagen, dass unsere Regeln sinnlos sind? Dass sie nur hohle, leere Floskeln sind?"
"Ich will dir sagen, dass es auch hier ist wie mit dem Apfel. Alles liegt im Auge des Betrachters. Jede Regel besteht aus Worten und einem Geist. Mit Geist meine ich eine bestimmte Zielsetzung. Wenn Du mich "Elda" nennst, tust du das mit der vollen Überzeugung, dass ich diese Anrede verdiene. Wort der Regel und Geist der Regel sind im Einklang. Aber wenn man den Geist aus den Augen verliert, oder ihn überhaupt nicht beachtet, dann sind Worte nur Worte egal in welcher Sprache.
Däthedr will dir aus seiner Sicht nichts Böses. Er betrachtet die Welt nur auf eine andere Weise als Du. Aus seinem Blickwinkel schadest du dir, mit dem was du grade tust."
Eine Spur von Ungläubigkeit schlich sich in Aryas Stimme: "Du verteidigst ihn? Wie kannst du das über dich bringen?"
"Das liegt vielleicht an meinem Blickwinkel." Antwortete Eragon. "Lass mich dich etwas fragen Arya: Die Welt, in der wir leben, wie stellst du dir diese Welt vor? Wie sie für dich geformt? Welche Ausmaße hat der Himmel und wie viel Land gibt es?"
"Es gibt einige Theorien darüber bei meinem Volk. Die allgemein anerkannte Meinung ist, dass die Welt und die Ozeane eine relative Größe haben und sich der Himmel über ihn aufspannt. Einige widersprechen dieser Theorie, weil sie den Horizont mit einer gewissen Krümmung des Landes in Verbindung bringen. Außerdem hat man Bewegungen bei den Gestirnen festgestellt, die mit der Vorstellung, dass das Land, auf dem wir leben, stationär ist nicht in Einklang zu bringen ist. Die Krümmung erkläre ich mir so, dass unser Teil des Landes vielleicht auf einem Berg liegt, der solche Ausmaße hat, dass es unsere Vorstellungskraft übersteigt. Warum fragst du das?"
Eragon legte sanft seinen Daumen auf Aryas Stirn und zeigte ihr was er von Saphiras Rücken aus gesehen hatte als der Sturm sie höher getragen hatte als je zuvor geflogen waren. Die einmalige Form der Erde, die endlos Tiefe des Himmels und die Sterne in verschiedenen Farben leuchteten.
Zum ersten Mal in seinem Leben sah er die ehemalige Königin der Elfen völlig überrascht.
"Die Welt ist rund?"
"Und der Himmel unendlichen." Bestätigte Eragon.
Völlig überwältigt richtete Arya sich auf. Ihre Augen flogen hin und her und vermittelten einen Eindruck wie sehr ihr Geist im Augenblick raste.
"Aber wenn das stimmt, und es muss stimmen, denn du hast es ja gesehen, würde das bedeuten... Eragon wenn der Himmel unendlich ist, dann könnten die Sterne doch Sonnen sein wie unsere! Nur weit entfernt! Und, wenn um diese Sonnen auch Welten kreisen und es dort Leben gibt... Eragon wir sind winzig! So winzig klein, so unbedeutend..."
Eragon richtete sich ebenfalls auf und legte die Arme um Arya.
"Winzig vielleicht aber nicht unbedeutend und weißt du wieso?"
Zu entgeistert um zu antworten schüttelte die Elfe schlicht den Kopf.
"Weil ganz gleich wie weit der Himmel ist und wie viel Leben es da oben auch geben mag, uns gibt es nur hier. Jeden von uns gibt es nur einmal. Und nun sag mir, wie würdest du die Einstellung von jemandem nennen, der unter uns Winzlingen Unterschiede sucht in Hautfarbe, Rasse oder Weltanschauung?"
Erkenntnis legte sich über Aryas Gesicht und plötzlich schien eine tiefe Ruhe von ihr auszugehen.
"Eine solche Einstellung hat nichts, was mich verletzen oder wütend machen kann. Sie macht mich nur traurig, weil sie so begrenzt ist.
Wir sind so winzig, wie sinnlos ist es, sich noch derartige Grenzen aufzuerlegen."
"Dann verstehst du nun auch meinen Blickwinkel und warum Zorn in meinem Herzen auf Däthedr und andere, die vielleicht wie er denken so vergänglich ist, wie ein Strohfeuer. Auf lange Sicht können Sie mir nur leidtun."
Gemeinsam mit Arya ließ sich Eragon zurück ins Gras sinken. Die Elfe breitete den Umhang, den er ihr gegeben hatte über sie beide aus.
"Lass uns heute Nacht hier schlafen." Flüsterte Arya und ließ ihren Blick wieder zum Himmel wandern.
Sanft zog Eragon seine Gefährtin an sich.
"Die Welt ist rund." Flüsterte er ihr zu.
Arya schmiegte sich an ihn und antwortete: "Und der Himmel ist unendlich."

2435 Wörter

Eragon Band 5 - Jedes Ende ist ein AnfangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt