Die nächsten Tage verbrachte ich hauptsächlich mit Matthew.
Mit Lea und Dylan hatte ich auch viel zu tun und wir machten Waldspaziergänge wie früher, aber oft fühlte ich mich wie das dritte Rad am Wagen. Die Art und Weise wie die beiden sich ansahen und dabei alles um sich herum vergaßen- auch mich... In diesen Momenten ließ ich sie alleine und ging zu Matthews Zimmer herüber, um ihm bei seinen Nachforschungen zu helfen.
Aber er hatte Recht, das was wir fanden, half uns entweder nicht weiter oder war schwarzmagisch und hochgradig illegal.
So langsam passte Jenny in das Bild einer Todesserin, mit all den Büchern über schwarze Magie, die Matthew in ihrem Büro gefunden hatte. Darin standen unzählige Rituale, um mit den Toten zu reden, anderen Lebensenergie abzuzapfen oder verstorbene Menschen wiederzubeleben- allerdings eher in dem Sinne, sich eine Zombiearmee zusammenzustellen. Ich war froh, dass das für Matthew außer Frage war. Ich wollte mir keinen Zombie-Matthew vorstellen und noch weniger die Opfer, die dafür gebracht werden müssten.
Das Einzige, was mir einfiel, wäre der Stein der Weisen, doch ich wusste, dass der vor vier Jahren zerstört worden war.
Und die Heiligtümer des Todes klangen zwar vielversprechend, aber es war eben eine Kindergeschichte, die wahrscheinlich nicht stimmte.
Außerdem wussten wir mit Die Märchen von Beedle dem Barden als einzige Quelle ohnehin zu wenig darüber.
Wie immer klopfte ich auch heute an Matthews Tür und wartete auf eine Antwort.
Der Flur war dunkel und draußen waren vereinzelt ein paar Böller zu hören.
Heute war Silvester.
Ich lauschte auf ein "Herein" oder "Na los", doch auf der anderen Seite blieb es still.
Schlief Matthew schon?
Naja, ausschließen konnte ich das nicht. Neujahr hatte vor einer Stunde angefangen und nachdem wir mit den Kindern ein paar Raketen abgeschossen hatten, hatten Jenny und Martha alle schon nach oben gescheucht.
Matthew war von vornherein nicht gekommen, also konnte er schon seit Stunden schlafen.
Trotzdem drückte ich leise die Türklinke zu seinem Zimmer herunter und schob die Tür auf.
Der Raum lag dunkel und still vor mir, doch ein Blick auf Matthews Bett verriet mir, dass er noch nicht am Schlafen war.
Es war leer.
Ich tat einen Schritt hinein und schloss leise die Tür hinter mir.
Fröstelnd sah ich mich um. Es war unerwartet kalt.
"Matthew?", fragte ich in die Stille hinein.
Keine Antwort. Wie dumm von mir. Wahrscheinlich war er auf der Toilette.
Doch dann bemerkte ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel.
Wie immer war der Vorhang vor Matthews Fenster zugezogen und hinderte das Mondlicht daran, hineinzustrahlen, doch der Stoff wogte sanft im Wind.
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Warum war das Fenster offen?
Leise huschte ich zu der Stelle herüber und beugte mich vor, um in die Nacht hinauszusehen.
Der Wald hinterm Waisenhaus lag dunkel vor mir und wurde immer schwärzer je weiter ich sah, doch der Himmel war klar und ermöglichte den Blick auf abertausende Sterne, die ihn erhellten.
"Sam?"
Ich zuckte zusammen, als über mir eine Stimme ertönte.
Ungläubig reckte ich meinen Kopf nach ihrer Quelle und entdeckte eine Gestalt, die auf dem Vorsprung über mir hockte.
"Matthew!", rief ich ungläubig aus. Hier steckte er also!
"Was machst du da?", wollte ich wissen.
Ich konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht erkennen, doch ich hätte schwören können, dass er seine Augenbrauen hob.
"Die Frage ist, was du mitten in der Nacht in meinem Zimmer machst."
Ich verrenkte abermals meinen Kopf nach ihm. "Wir können jetzt ewig so weiter machen, aber ich will wissen, was du um ein Uhr morgens, auf dem Dach zu suchen hast!"
Matthew beugte sich weiter vor und für einen Moment fürchtete ich, dass er vornüber kippen könnte. Die Ringe unter seinen Augen warfen noch tiefere Schatten als sonst, obwohl er sich in den letzten Tagen unter meiner Hand wieder etwas erholt hatte.
Soweit man sich mit einem Obscurus im Körper eben erholen konnte.
"Nun ja", setzte Matthew an, "alles Mögliche. Zum Beispiel das Feuerwerk beobachten. Sterne. Den Wald. Meditieren. Nachdenken. Mich im Augenblick verlieren und so tun, als wäre alles in Ordnung."
Er streckte die Hand nach mir aus. "Komm hoch. Ich zeig's dir."
Etwas zögerlich stieg ich auf den Schreibtisch, der vor dem Fenster stand und im Vergleich zu meinem letzten Versuch eine freie Fläche in der Mitte aufwies.
Wahrscheinlich hatte Matthew vorhin schon die ganzen Bücher und Unterlagen beiseite geschoben, um aus dem Fenster hinausklettern zu können.
Während ich mich aus dem Fenster hinauslehnte, achtete ich darauf, dass mein Tritt sicher war und mein Griff fest.
Dankend nahm ich Matthews Hand an und er zog mich hoch.
Wenn Jenny wüsste, was wir hier taten, würde sie uns in hohem Bogen aus dem Heim schmeißen.
Matthew rückte zur Seite und machte mir Platz auf einer Decke, die er anscheinend mit hoch gebracht hatte.
Zitternd betrachtete ich die Atemwolke, die meinen Mund verließ.
Lange würde ich es nicht hier oben aushalten. Unter uns lag Schnee!
Matthew musterte mich abschätzend, bevor er sich hinhockte und die Decke unter sich zusammenraffte.
Mir fiel auf, dass er einen dicken Wintermantel trug.
"Hier", sagte er und hielt mir den Teil der Decke hin, auf dem er gerade gesessen hatte.
Dankend nahm ich sie an und schlang sie um meine Schultern.
"Du bist öfters hier oben, oder?", hakte ich nach.
Matthew legte sich zurück und überkreuzte die Arme unter seinem Hinterkopf.
"Wieso denkst du das?"
Ich musterte ihn aus meiner Position heraus. "Du hast eben so viele Dinge aufgezählt, die man sich alle gar nicht auf einmal ausdenken kann. Und die Sicherheit, mit der du das gesagt hast- Außerdem glaube ich nicht, dass man ausgerechnet im Winter versucht, aufs Dach zu klettern, wenn es kalt und rutschig ist."
Matthew kramte in seiner Jackentasche nach etwas, hielt den Blick aber auf den Sternenhimmel gerichtet.
"Du kennst mich ja nicht", erklärte er spöttisch, "vielleicht gefällt es mir ja, gerade mit dem zusätzlichen Risiko hinunterzufallen, hier oben herumzuklettern."
"Du meinst, dich würde es nicht stören?", hakte ich skeptisch nach, "abrutschen und dir das Genick zu brechen?"
Eigentlich hatte ich das Gesagte ironisch gemeint, doch dafür schwieg Matthew einen Moment zu lang.
"Vielleicht", gab er schließlich zu und drehte das Gesicht in meine Richtung. Seine Augen wirkten in der Dunkelheit schwarz.
"Wenn ich eh sterben muss? Vielleicht würde es mir besser gefallen, selber zu entscheiden, wann und wie."
"Sag das nicht!", rief ich entsetzt, "wir finden einen Weg! Wir brauchen nur noch ein bisschen Zeit. Vielleicht hast du noch ein paar Jahre! Die kannst du nicht einfach wegschmeißen."
Aus Matthews Kehle entrang sich ein Laut, der sowohl verzweifelt als auch amüsiert sein könnte.
Er setzte zu etwas an, unterbrach sich dann aber wieder. "Wahrscheinlich hast du Recht", räumte er ein.
Er holte etwas aus seiner Tasche und setzte es an seinen Mund.
Kurz darauf leuchtete ein Feuerzeug im Dunklen auf.
Ungläubig starrte ich ihn an.
"Du rauchst?"
Die Zigarette zwischen seinen Lippen glühte am Ende und er stieß Rauch in die Abendluft.
"Offensichtlich", erwiederte Matthew und starrte unentwegt in den Nachthimmel.
"Aber das ist ungesund!", rief ich aus.
Darauf warf mir der Schwarzhaarige einen belustigten Blick zu, der mich verlegen fortschauen ließ. Natürlich interessierten ihn die gesundheitlichen Folgen nicht, wenn er sie gar nicht mehr zu spüren bekäme.
"Weißt du, was ich mich manchmal frage?", sagte Matthew nach einer Weile, als ich mich inzwischen ebenfalls hingelegt hatte und die Sterne anstarrte. Es war eiskalt, doch inzwischen hatte ich mich an die Kälte gewöhnt.
"Nein", antwortete ich, "was?"
Matthews Rauchwolke schwebte über uns.
"Ob sie noch da sind. Irgendwo hier, wo sie und beobachten und auf uns aufpassen. Mom und Dad, meine ich."
Ich beobachtete schmerzlich, wie der graue Rauch sich über uns verflüchtigte und dachte über Matthews Gedankengang nach.
"Das weiß keiner. Bei uns in Hogwarts gibt es Geister, aber was mit den anderen Toten passiert..."
Der Gedanke, die Toten würden über uns wachen, war tröstlich, aber auch unrealistisch. Geister entstanden, wenn die Toten sich nicht von der physischen Welt trennen wollten, also waren die anderen Verstorbenen wahrscheinlich weit weg von hier. Außerdem gefiel mir der Gedanke, dass jemand ständig ein Auge auf mich hatte, überhaupt nicht.
"Ich frage mich manchmal, ob sie stolz auf mich wären", fuhr Matthew nach einer Pause fort, "Aber wahrscheinlich ist Mum eher stolz auf dich als auf mich. Ich meine ich sitze nur die ganze Zeit herum und-"
Er brach ab.
Mir entfuhr ein bitterer Laut.
"Mum wäre sicher nicht stolz auf mich."
Wenn ich an all das dachte, was ich getan hatte- und noch schlimmer, tun werden würde.
Ich war eine Todesserin und traute mich nicht einmal, mich jemandem anzuvertrauen. Nein, da konnte keine Mutter stolz drauf sein, die halbwegs bei Sinnen war. Und der Gedanke, meine Mutter hätte so etwas gutgeheißen, gefiel mir noch weniger.
Ich legte mich auf die Seite und schnipste gegen die Zigarette in Matthews Hand.
"Da ist sie ganz sicher nicht stolz drauf."
Mein Halbbruder hob eine Augenbraue. "Was hast du gegen rauchen? In der Schule finden das alle cool."
Ich hob eine Augenbraue. "Du rauchst, weil andere es cool finden?"
Matthew lachte rau.
"Natürlich nicht! Es- ist beruhigend. Lenkt mich von meinen Sorgen ab."
Er wandte sich mir zu und hielt mir seine Kippe hin. "Hier. Probier."
Etwas skeptisch nahm ich sie entgegen und setzte sie an die Lippen.
Meine Lungen füllten sich mit heißem Rauch und es fühlte sich an, als würde er alles in mir wegbrennen. Das Gefühl war ein bisschen unangenehm, doch als ich den Rauch ausblies, fühlte es sich so an, als wären mit ihm auch einige meiner Probleme mit in den Himmel gestiegen. Zumindest für heute Nacht.
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The dark Lady
FanfictionSequel zu: She who can not be named ❥︎ Für Sam hat sich Alles geändert. Denn nicht nur scheinen die Beziehungen zu ihren Mitschülern völlig neue Wege einzuschlagen, sondern auch ihre eigenen moralischen Vorstellungen und Ziele erscheinen nun merkwür...