26

429 38 1
                                    

Ich las den Satz bestimmt schon zum zehnten Mal.
Mit aller Mühe zwang ich mich dazu, mich endlich auf dessen Inhalt zu konzentrieren, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Immer wieder zu diesem Moment, in jener Nacht. Zu dem Ereignis, das ich niemals für möglich gehalten hätte.
Wenn mir jetzt jemand erzählen würde, Malfoy hätte mich geküsst, hätte ich denjenigen auf der Stelle ausgelacht, obwohl ich es ja selber erlebt hatte.
Ich spürte immer noch seine Lippen auf meinen. Bei dem Gedanken daran erhitzten sich meine Wangen.
Aber wie konnte er auch?
Wir hassten uns, verdammt nochmal! In der zweiten Klasse hatte er mich von sich gestoßen und seitdem hatte ich all meinen Hass, all meine Wut auf ihn projiziert.
Malfoy war mein Rivale, mein Antagonist, mein Feind-
Nur wieso hatte es sich so gut angefühlt, als sein Mund auf den meinen traf?
Seufzend legte ich die Schreibfeder beiseite und ließ meinen Blick durch den Klassenraum schweifen.
Der Anblick des Pultes, das vor mir stand, machte es nicht gerade besser.
Eine Gestalt schob sich vor mein Sichtfeld und ich hob langsam den Blick.
"Sind sie fertig, Miss Pears?", fragte Umbridge mit ihrem süßlichen Lächeln.
Ich ließ meinen Blick zu dem aufgeschlagenen Buch wandern, das auf meinem Tisch lag. Ich war immer noch auf der ersten Seite des Kapitels, das wir in der heutigen Stunde lesen sollten.
"Ich...", ich rang nach Worten, mein Kopf immer noch voller Gedanken um Malfoy, "ich wollte den Absatz nochmal lesen, um den Zusammenhang zu verstehen."
Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen, das weniger natürlich als sonst wirkte.
Sie wusste doch nichts von dem Vorfall mit Malfoy, oder?
Doch Umbridge schenkte mir nur ein letztes Lächeln und ging weiter.
Seufzend beugte ich mich wieder über mein Buch.
Der Lähmzauber... den konnte ich doch...
"Sam?"
Zack hatte sich zu mir herübergelehnt und musterte mich besorgt.
"Ist alles in Ordnung? Du wirkst so abwesend."
Ich musterte ihn aus dem Augenwinkel.
Wenn ich ihm von Malfoy erzählte, würde er mir den Kopf abreißen. Oder Malfoy.
Oder uns beiden zusammen.
Ich seufzte erneut. "Nein ... alles in Ordnung. Es ist nur wegen Dumbledore..."
Ich war immer Malfoys Rivalin gewesen, aber vielleicht hasste Zack ihn noch mehr als ich es tat. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal, wann ich ihn zuletzt noch richtig gehasst hatte. Die Dinge hatten sich im letzten Schuljahr ... irgendwie geändert. Und seit Beginn meines fünften Schuljahres hatten wir uns nicht einmal mehr gestritten.
Tatsächlich war Malfoy sogar relativ nett zu mir gewesen. Zumindest neutral. Die Frage war nur, ob er das aus freien Stücken tat oder weil sein Vater es von ihm wollte. Vielleicht auch seine Mutter?
Was mich zur nächsten Frage führte.
Wer wusste über meine Identität Bescheid?
Hatte der dunkle Lord seinen übrigen Anhängern ebenfalls von mir erzählt? Wahrscheinlich nicht. Je mehr davon wussten, desto schwieriger war es, es als Geheimnis zu wahren, und es war zu früh, mich als seine- Tochter zu enthüllen.
Im Moment hatte der dunkle Lord den Vorteil auf seiner Seite, dass er für schwach und besiegt gehalten wurde. Die Existenz einer Tochter würde diesen Eindruck über den Haufen werfen.
Außerdem würde ich wahrscheinlich eher in Askaban landen, als er die Macht an sich reißen konnte. Auch wenn ich nicht wusste, ob es ihn überhaupt interessieren würde.
Vielleicht würde es ihm sogar in die Karten spielen, wenn ich mental durch die Dementoren geschwächt wäre.
Oder wäre es möglich, dass er zu meinem Schutz handeln würde? Immerhin war er mein Vater, oder?
Ich dachte an jene Nacht zurück, in der ich ihm zum ersten Mal begegnet war.
Den Triumph, der in seinen Augen geglänzt hatte, die Freude, mit der er seine Gefolgsleute gefoltert hatte. Die Art und Weise, wie er erzählt hatte, dass er seinen Vater getötet hatte.
Das erste, was er getan hatte, als er mir nach vierzehn Jahren wieder begegnet war, war, dass er mir ein schmerzhaftes Mal einbrannte und mich zu seiner Untertanin machte.
Und doch war er das, was ich mir immer gewünscht hatte. Ein Elternteil. Und zwar kein dahergelaufenes, das mich wollte, weil ich süß lächelte, sondern jemand, der durch Blut mit mir verbunden war.
Aber er war auch ein Monster. Der dunkle Lord war kein Mensch mehr und erst Recht kein guter Vater. Das konnte er gar nicht sein.
Ich wiederholte diesen Gedanken immer wieder im Kopf.
Ich durfte nicht auf ihn hereinfallen.

The dark LadyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt