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Die riesenhafte Gestalt am Lehrertisch war unübersehbar.
Als ich an diesem Morgen beim Frühstück saß, zuckte mein Blick immer wieder zu ihr herüber.
Marge hatte Recht gehabt. Hagrid war wieder da. Wenn er auch ziemlich ... ungesund aussah. Seine Haut war von Blutergüssen und offenen Schnitten übesäht, der Haaransatz verklebt von Blut.
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Was war während Hagrids Abwesenheit passiert? War er einer gefährlichen magischen Kreatur über den Weg gelaufen?
Oder ... war er vielleicht in einen Kampf mit ... Todessern verwickelt worden?
Ich erschauderte und war mir wiedereinmal der Tätowierung an meinen linken Unterarm bewusst.
Schnell überprüfte ich, dass wirklich nichts verrutscht war und man keine Sicht auf die verräterische Tinte hatte. Mein Arm war aufeinmal ungewöhnlich schwer.
Wo Hagrid eigentlich gewesen war, hatte uns auch niemand gesagt. Vielleicht hatte Dumbledore ihn als Spion- ich schüttelte den Kopf. Nein. Hagrid war ein Halbriese, der fiel für den Job viel zu sehr auf. Vielleicht war er auf dem Rückweg oder so einfach angegriffen worden.
Schnell trank ich einen Schluck meines Tees und versuchte, die Fassung wieder zu erlangen. Keine Todesser. Es hatte sicher nichts damit zu tun. Bestimmt war Hagrid einem Mantikor oder ähnlichem begegnet und war in seiner Faszination verwundet worden. Vielleicht hatte er sogar daraus gelernt.
Mandy warf mir einen nicht gerade begeisterten Blick zu.
Für einen Moment wusste ich nicht, was sie mir damit sagen wollte, bevor ich mit einem gequälten Lächeln antwortete. Hagrids Rückkehr bedeutete, dass nun auch wieder Pflege magischer Geschöpfe bei ihm stattfinden würde.
So nett der Mann auch war, und wie sehr ich mich für Marge auch freute, ich trauerte jetzt schon dem Unterricht bei Professor Raue-Pritsche nach.
Bei ihr hatten wir mehr gelernt, als in den letzten zwei Jahren bei Hagrid, der nie überhaupt ein einziges Mal auf den Lehrplan gesehen haben zu schien. Inzwischen wussten wir über Niffler Bescheid, über Einhörner, Krups, Knarle, Porlocks und Bowtruckles. Magische Wesen, die Hagrid nie interessant genug gefunden hätte, um sie uns zu zeigen. Stattdessen mussten wir uns mit knallrümpfigen Krötern und Hippogreifen herumschlagen. Letztere hatten mich mit ihrer Schönheit und Anmut und auch ihrem Stolz fasziniert, das gab ich zu. Aber der Vorfall mit Malfoy, so bescheuert er gewesen war, zeigte nunmal, dass der Halbriese doch eher besser als Wildhüter geeignet wäre, nicht als Lehrer.
Seufzend erhob ich mich. Wie der Zufall es wollte, hatte ich jetzt genau dieses Fach.

"Denkst du, er zeigt uns wieder etwas Gefährliches?", raunte Mandy mir zu und sah sich unwohl in ihrer Umgebung um. Unzufrieden stierte ich in die Dunkelheit des Dickichts und versuchte nicht, bei jedem kleinsten Geräusch zusammenzuzucken.
Natürlich startete unsere erste Stunde, die wir wieder bei Hagrid hatten, im verbotenen Wald. Wäre ja sonst langweilig gewesen.
Eben jener schlenderte an der Spitze der Klasse voran, den Kadaver einer Kuh über der Schulter. Der einzige Grund, aus dem ich noch nicht schreiend davon gelaufen war, war dass Wissen, dass Eris sich oft tagelang hier draußen alleine unterwegs war, ohne dass ihm je etwas zugestoßen war- und die Tatsache, dass ich mich nicht mit Malfoy auf eine Stufe stellen wollte, der in meinem Rücken herumjammerte.
Ich erinnerte mich an unseren gemeinsamen Ausflug im ersten Schuljahr hierher zurück. Damals waren wir noch befreundet gewesen. Und wäre es nicht schon gruselig genug in dem finsteren Wald gewesen, waren wir einem Gespenst begegnet, dass sich nachher als der dunkle Lord herausgestellt hatte. In der Nacht hatte ich mir vor Angst fast in die Hosen gemacht.
Inzwischen hatte ich unheimlichere Dinge gesehen.
"Weißt du, warum dieser Wald Verbotener Wald heißt, Mandy?", fragte ich laut.
Selbstzufrieden hörte ich ein paar Slytherins in meinem Rücken aufkeuchen. In meinem Ärmel hielt ich meinen Zauberstab versteckt.
Nach etwa zehn Minuten blieben wir auf einer dunklen Lichtung stehen, deren Bäume so dicht standen, dass der Boden kaum von Schnee bedeckt war. Am Wochenende hatte es einen Meter dick geschneit.
Wachsam suchte ich meine Umgebung ab und drängte mich vorsichtshalber mehr in die Mitte der Gruppe.
Hagrid hatte unterdessen die Kuh in der Mitte der Lichtung abgelegt und den Kopf in den Nacken geworfen. Er stieß einen schrillen, erschütternden Schrei aus, der mich nun doch zusammenzucken ließ. Mandy packte meinen Arm und ich biss die Zähne zusammen.
Nichts passierte.
Hagrid stieß zwei weitere Male diesen sonderbaren Schrei aus, während wir angespannt ausharrten. Unruhig ließ ich meinen Blick hin- und her- huschen.
Dann, einige Zeit später, zeichnete sich eine Gestalt über uns ab. Ich hielt den Atem an, als ich es erkannte.
Diese knochige Gestalt, die ledrigen Flügel, die milchig weißen Augen- Das war eines der Wesen, die ich am Anfang des Schuljahres gesehen hatte! Thestrale hatte Marge sie genannt.
Der Thestral landete elegant ein paar Meter von der Klasse entfernt und warf uns kurz einen Blick zu.
Dann neigte er seinen Kopf und begann, sich über die tote Kuh herzumachen.
Gebannt beobachtete ich, wie sein Schweif freudig hin- und herpeitschte.
"Holla, da kommt noch eins!", rief Hagrid, während ein zweiter Thestral flügelschlagend landete.
"Also dann ... wer sie sehen kann, meldet sich!"
Ich war etwas verwundert darüber, dass er diese Frage stellte, doch dann fiel mir wieder ein, dass Zack und Marge die Thestrale nicht bemerkt hatten. Und wenn ich so meine Mitschüler beobachtete, schien es den Anschein zu haben, dass die meisten sie ebenfalls nicht wahrnahmen.
Zögerlich hob ich den Arm. Außer mir hatten sich Harry, Neville und Nott gemeldet.
"Verzeihung bitte", erhob Malfoy seine Stimme, "aber was genau sollen wir da eigentlich sehen?"
Zur Antwort deutete Hagrid auf den Kuhkadaver, von dem die Thestrale fraßen.
Mandy keuchte neben mir erschrocken auf.
Ich lehnte mich zu ihr vor. "Kannst du sie nicht sehen?"
Mandy starrte mich entgeistert an. "Was nicht sehen?"
Ich deutete auf die beiden Wesen. "Die Thestrale."
"Thestrale!?", wiederholte Mandy laut.
Es wurde still um uns herum.
"Ja, Thestrale", sagte Hargrid stolz, "Hogwarts hat 'ne ganze Herde davon hier drin. Also, wer weiß-?"
"Aber die bringen ganz viel Unglück", fiel ihm Parvati, Padmas Schwester ins Wort, "Den Leuten, die sie sehen, sollen alle möglichen schrecklichen Dinge zustoßen. Professor Trelawney hat mir mal erzählt-"
"Nein, nein, nein", kicherte Hagrid und erklärte, dass es sich dabei nur um Aberglaube handelte.
Aus Hagrids Mund, der auch Drachen für harmlos hielt, klang es nicht ganz so glaubhaft, wie es hätte sein sollen.
Außerdem war es gar nicht so unwahrscheinlich, dass mir in nächster Zeit schreckliche Dinge zustoßen würden.
Zwei weitere Thestrale rauschten durch das Blätterdach und landeten bei den anderen.
"Na dann, wer kann mir jetzt sagen, warum manche von euch sie sehn können un' manche nicht?"
Er nahm Hermine dran, die sich natürlich sofort gemeldet hatte. Gespannt spitzte ich die Ohren.
"Die einzigen Menschen, die Thestrale sehen können", erklärte Hermine, "sind Menschen, die den Tod gesehen haben."
Ich erstarrte. Mandy starrte mich von der Seite her an, vielleicht tat sie es auch nicht, aber schlagartig hatte ich das Gefühl, dass alle Augen auf mir lagen.
Für einen Moment schien alles um mich herum zu verschwimmen, dann verklärt sich mein Blick wieder und mein Herzschlag verschnellerte sich.
Der Tod. Das einzige Mal, als ich jemanden hatte sterben sehen, war vor gerade mal wenigen Monaten gewesen. In der Nacht war Cedric Diggory gestorben und ich war Zeugin der Wiederauferstehung des dunklen Lords geworden. Harry war geflohen und ich- das Mal auf meinem Unterarm begann zu pochen, als hätte es einen Herzschlag.
Mir wurde heiß, dann wieder kalt und ich- ich hatte mich verraten. Ich hatte zugegeben, dass ich Cedric hatte sterben sehen. Weil ich- weil ich seine-
Entfernt hörte ich ein Chrm Chrm, doch in dem Moment war ich schon zusammengebrochen.

The dark LadyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt