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~•~

Erbteil des fluches,
hässlicher sünde
blutiger wunde.
schmerzen, wer trüge sie?
qualen, wer stillte sie?
wehe weh!

Einzig der erbe
heilet des hauses
eiternde wunde,
einzig mit blut'gem schnitt.
götter der finsternis
rief mein lied.

Sel'ge geister drunten in der tiefe,
wenn ihr die beschwörungsrufe hörtet,
bringt den kindern hilfe, bringt den sieg.


Aischylos, "Das Opfer am Grabe"

~•~

Über dem Tisch hing die Gestalt einer Frau, die, wie an Fäden, in der Luft schwebte und sich kopfüber um ihre eigene Achse drehte.
Ihr verzerrtes Spiegelbild wurde auf der leeren, blank polierten Tischfläche reflektiert, doch die zahlreichen Gestalten, die daran Platz genommen hatten, schenkten dieser Szenerie keinerlei Beachtung.
Ihre Blicke waren auf eine Person am Kopfende der Tafel gerichtet, eben jene, die sie alle hier versammelt hatte.
Der dunkle Lord saß mit dem Rücken zum Kamin, in eine schwarze Robe gewandet, und musterte seine Untergebenen aus rot funkelnden Augen, die einen grellen Kontrast zu seiner kalkweißen Haut bildeten.
Würde man weiter nach unten spähen, würde man einen Blick auf seine Schlange Nagini erhaschen, die es sich zu seinen Füßen gemütlich gemacht hatte.
Doch der dunkle Lord hatte seine Todesser nicht dazu versammelt, unter seinen Tisch zu lugen, und so saßen die Anwesenden steif an ihren Plätzen, die Hände auf der Tischplatte abgelegt und ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen an ihrer Oberfläche, auf ihren Gebieter gerichtet.
Zu seiner Rechten saß ein schlacksiger Mann, dessen schwarze Haare schwer in sein Gesicht hingen.
"Der Orden des Phönix hat die Absicht, Harry Potter am nächsten Samstag bei Einbruch der Dunkelheit von seinem gegenwärtigen sicheren Aufenthaltsort wegzubringen", berichtete Snape.
Ich musterte den ehemaligen Lehrer eingehend.
Noch vor einem Monat hatte ich ihn für einen Verbündeten Dumbledores gehalten, beziehungsweise jenes Ordens, von dessen Existenz ich vor Kurzem erfahren hatte.
Nun hatte der Tränkemeister mit der Tötung Dumbledores kurzerhand das Vertrauen des dunklen Lords zurückerlangt und fand sich in den oberen Reihen seiner Anhänger wieder.
Und auf dem Platz direkt mir gegenüber.
Ich fragte mich, ob der dunkle Lord ihm wirklich so sehr vertraute, immerhin hatte er ein ganzes Jahr lang gebraucht, um zu ihm zurückzufinden.
Und ich hatte immer noch nicht herausgefunden, in welcher Verbindung er genau zu Jenny gestanden hatte und ob er es immer noch tat. In der Vergangenheit hatte er ihr oft Gefallen getan und ich vertraute ihm immer noch nicht genug, um davon auszugehen, dass er es nicht wieder tun würde.
Woher konnte ich sicher sein, dass er voll auf unserer Seite stand, nur weil er Dumbledore ein Ende gemacht hatte?
"Jedenfalls bleibt es unwahrscheinlich, dass das Ministerium vor nächstem Samstag in meiner Hand ist", sagte der dunkle Lord gerade und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das laufende Gespräch.
"Wenn wir nicht an seinem Bestimmungsort an den Jungen herankommen, dann muss es getan werden, während er unterwegs ist."
"Hier sind wir im Vorteil, Herr", sagte Yaxley, der vorhin einiges zur Berichterstattung beigetragen hatte, "Wir haben inzwischen mehrere Leute in die Abteilung für Magisches Transportwesen eingeschleust. Wenn Potter appariert oder das Flohnetzwerk benutzt, werden wir das sofort erfahren."
"Er wird weder das eine noch das andere tun", warf Snape ein, "Der Orden vermeidet jede Transportart, die vom Ministerium überwacht oder geregelt wird; sie misstrauen allem, was mit denen zu tun hat."
Zugegeben, Snape wirkte nicht so, als wolle er die Planungen sabotieren.
Aber das würde ein kluger Spion auch nicht tun.
"Umso besser", erwiederte der dunkle Lord, "Er wird aus der Deckung kommen müssen. Da ist er leichter zu fassen, wesentlich leichter.
Ich werde mich persönlich um den Jungen kümmern. Was Harry Potter anbelangt, hat es zu viele Fehler gegeben. Manche davon waren meine eigenen.
Dass Potter noch lebt, ist mehr meinen Irrtümern zuzuschreiben als seinen Erfolgen."
Die Atmosphäre wurde spürbar angespannter, als die Anwesenden begannen, unwohl auf ihren Stühlen hin- und herzurutschen.
Der dunkle Lord hatte auf die Misserfolge in den letzten Jahren und Monaten hingewiesen und ich hatte bereits miterlebt, wie gerne er seine Todesser für Solche bestrafte.
Es war also kein Wunder, dass die allgemeine Stimmung kippte.
Auch ich spürte, dass sich meine Finger verkrampften.
Es war nicht so, dass ich in der jüngsten Vergangenheit irgendeine Mission in dieser Hinsicht behindert hatte, doch man wusste nie- noch vor zwei Jahren, als der dunkle Lord wiederauferstanden war, hatte ich auf Potters Seite gestanden.
Doch der dunkle Lord schien sich in diesem Moment kein bisschen für seine Todesser zu interessieren.
Stattdessen lag sein Blick auf der Gestalt, die knappe zwei Meter von ihm entfernt in der Luft schwebte.
"Ich war leichtsinnig, und so haben Glück und Zufall meine Vorhaben vereitelt. Aber jetzt weiß ich es besser. Ich habe die Dinge begriffen, die ich früher nicht begriffen habe. Ich muss derjenige sein, der Harry Potter tötet, und der werde ich sein."
Auf seine Worte folgte auf einmal ein gedämpfter Schrei, der aus den Verliesen hinaufgetragen wurde.
Die versammelten Todesser starrten verdutzt auf ihre Füße, als könnten sie dort die Quelle des Schreis ausmachen.
"Wurmschwanz", wandte sich der dunkle Lord an einen seiner Untergebenen, den Blick immer noch auf die in der Luft hängende Gestalt gerichtet, "habe ich dir nicht Anweisung gegeben, unseren Gefangenen ruhig zu halten?"
Ich blickte zum anderen Ende des Tisches herüber, an dem ein kleiner gekrümmter Mann hockte, dessen Augen noch gerade so über dem Tischrand schwebten.
"J- ja, Herr", stieß Wurmschwanz außer Atem hervor und kletterte von seinem Stuhl, um aus der Halle zu verschwinden.
Ich sah ihm einen Augenblick nach.
Die Verliese waren ein Ort, dem ich bis jetzt noch keinen Besuch abgestattet hatte, doch ich hatte vor einigen Tagen vage mitbekommen, dass ein Gefangener in das Manor gebracht worden war.
Wie es schien vertraute mir der dunkle Lord noch nicht gut genug, um mich in seine Pläne einzuweihen, doch wieso sollte er auch, wo ich letztes Jahr noch vor seinen Todessern fortgelaufen war?
Trotzdem- Ich hatte einen entscheidenden Beitrag zu Dumbledores Tod und dem Triumph über Hogwarts geleistet und würde mich weiter engagieren, sodass ich bald, als rechte Hand, als Erbin, an der Seite des dunklen Lords stehen würde.
Ich hatte mich in diesem Krieg gegen Hogwarts, gegen das Ministerium gewendet, doch der bevorstehende Konflikt war unausweichlich und sobald der dunkle Lord ihn gewann, wollte ich mir eine hohe Position sichern.
Er würde sein eigen Fleisch und Blut nicht so einfach umbringen, doch wenn ich mich jetzt auf die falsche Seite stellte, würde es Jahre dauern, bis ich sein Vertrauen wiedererlangt hatte.
Der dunkle Lord wandte sich wieder seinem Gefolge zu.
"Wie ich gerade sagte, ich habe etwas begriffen.

The dark LadyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt