Im Reich der Feuerbärte

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Wie vermutet, auch hier weit im Norden von Mittelerde, überzog der Frühling bereits das Land mit neuer Frische. Lediglich in tiefen Schluchten und unter den Felsvorsprüngen der Berge, dort, wohin die wärmenden Strahlen der Sonne nur unzureichend gelangen, finden sich noch kleinere Schneehaufen. Jedoch verheißen der silbergraue Himmel und dieser typische eisige Geruch ein letztes Gestöber, das wohl während der langsam dämmernden Nacht aufziehen und die Landschaft erneut mit einer leichten Decke bestäuben wird.

Trotz aller gegönnten Pausen und dem schleppenden Tempo, in dem wir ob der schweren Last reisten, erreichen wir wie geplant zum Ende des dritten Tages unser Ziel. Zwischen den schroffen, durch das schummrige Abendrotlicht dunkelblau erscheinenden Hängen einer engen Schlucht verschwindet die Handelsstraße, die durch in den Fels eingelassene Leuchten weiterhin beleuchtet wird. Keine Wachen säumen den Weg oder sind anderswo zu entdecken, dennoch sicher bin ich mir, lange schon bevor wir den Schatten der Berge betraten, wurde unser Ankommen bereits bemerkt.

In vollkommen flaches Gestein geht der vorher holprig gepflasterte Weg über. Das Klackern der auf ihn treffenden Hufeisen hallt Abertausendmal von den widernatürlich ebenmäßigen Felswänden wieder. Es scheint mir, mit viel Mühe, Fleiß und ausnahmslos zwergischer Kraft wurde dieser Gang durch den Berg getrieben. Lange müssen wir ihn nicht durchqueren, da öffnet er sich zu einem von zerklüfteten Hängen eingefassten Tal. Ein Bergsee glitzerte wohl einst hier im Schein der Sonne, denn der Fluss der ihn speiste, rauscht noch immer zwischen den Felsen neben der Schlucht herab, sprudelt nun aber in eine künstlich angelegte Rinne, die wieder im Berg verschwindet, und dient wohl einem anderen Zweck. Thorin an der Spitze zügelt sein Pony, um uns den ersten Anblick in all seiner Pracht zu ermöglichen, den wahrlich betörend ist er.

Gewohnt bin ich gewaltige Hallen, lange Gänge, Gebäude und Wohnstätten, die allumfassend vom Gestein eines Berges umschlossen sind. Zwar schachten wir auch einzelne Zimmer und Säle bis an die Hänge heran, damit natürliches Licht in sie fällt oder Zugang gewährt zu Gärten und anderen Außenanlagen, jedoch äußerst selten. Von außen erkennbar ist ein Bollwerk unserer Bauart alleinig an einem meist eindrucksvollen Eingangstor, das leicht verteidigt und sogar mit zwergischer Zauberei vor unerwünschten Besuchern verschlossen werden kann. Noch nie sah ich die Architektur fremder Zwergenreiche mit eigenen Augen. Nur Illustrationen in Büchern oder Vorstellungen, die Erzählungen der Älteren gestalteten. Jedoch niemals damit gerechnet habe ich, wie überwältigend imposant sie in Wirklichkeit wirkt. Gewaltiger und beeindruckender, als es reine Vorstellungskraft, und sei sie noch so phantasievoll, vermag und dabei sehe ich das Reich der Feuerbärte bisher nicht einmal zur Gänze.

Ein von einem Wehrgang gesäumter Wall schützt die dahinterliegende Festung. Zwei hohe Türme, halb in den Fels gebettet und mit Scharten wie geschlitzte Augen, flankieren ihn. Inmitten der Mauer befindet sich ein massives Eisentor, verziert mit der Stilisierung eines durch Schwert und Messer durchkreuzten Halsbandes und allerlei Bindrunen in alter und neuer Schrift, die Schutz sowie Stärke verheißen. Über die krenelierte Brustwehr hinweg sehe ich einige von kantigen Säulen und Rundbögen eingefasste Fassaden, die aus den Hängen herausgearbeitet wurden und mitunter sogar ganze freistehende Gebäude, die durch geschwungene Brücken miteinander verbunden sind.

„Wer da vor dem Tor des Königs der Feuerhallen?", ruft eine brüske Stimme in mir schwerverständlichem Akzent von einem der Türme hinunter. Ich blicke hinauf, sehe aber niemanden. Hinter den Zinnen werden sich die Wächter aufhalten. „Thorin Thráinthrórssohnsohn, der ehrenvoll genannt wird Eichenschild, König der nach ihm benannten Hallen im Süden der Blauen Berge", antwortet Thorin nicht minder harsch und mit einer Selbstachtung der aufgezählten Titel in der Stimme, die uns alle erzittern lässt. „König Lothin erwartet mich und mein Gefolge, meldet daher unser Ankommen und öffnet das Tor." Nachdrücklich verdeutlicht er, dass seine Stellung erhaben ist und ihm Ehrfurcht und Respekt entgegengebracht werden muss. Von oben ertönt demnach wenig überraschend der sofortige Befehl, uns durchzulassen.

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