Das Rehlein und der hungrige Wolf

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Der nächste Morgen beginnt ungewollt früh, denn gewöhnungsbedürftig hell ist es in meinem Zimmer, da ich vergaß, die Vorhänge vor dem Fenster zuzuziehen, sodass die Morgenfrühlingssonne nun ungehindert hineinscheinen kann. Ungern verlasse ich das warme Bett und strecke mich ausgiebig, damit die hartnäckigen Reste des wohligen, ruhigen und erholsamen Schlafs weichen. Der Blick hinaus in das Tal verrät, so wie vermutet, schneite es über Nacht. Eine dünne weiße Decke überzieht Dächer, Brücken, Steinwege sowie Hänge und Gipfel der Berge ringsherum. Wohl der letzte Schnee des noch einmal seine fragilen Eisfinger nach Macht ausstreckenden Winters, aber kaum bis zu den südlich liegenden Toren von Thorins Hallen wird er mit ihnen vorgedrungen sein.

Langsam kleide ich mich an, da mein Herr wünschte auszuschlafen. Keine anstrengenden Obliegenheiten außer einem Bankett am Abend, müssen wir heute beiwohnen, denn die mitgebrachten Waren werden die nächsten zwei Tage durch König Lothins Berater und ausgesuchte Händler und Handwerker begutachtet, bevor wir mit ihnen in Verhandlungen gehen können. Jedoch eine Führung durch den Berg ist geplant sowie ein Besuch des Marktes, damit sich Thorin einen Überblick über das Angebot hier verschaffen kann. Zudem will er mir dort wie versprochen die noch nötigen Kleider kaufen.

Gerade möchte ich es mir auf dem Polster der Sitzbank vor dem Fenster bequem machen, um eines der mitgebrachten Bücher zu lesen, bis es an der Zeit ist Thorin zu wecken, da klopf es an der Zimmertür. Verwundert darüber, wer mich wohl in diesen frühen Stunden bereits aufsuchen möchte, bitte ich herein. Eine blutjunge Zwergin, in die dunkelgrünen Gewändern der höfischen Dienerschaft gekleidet und einen großen Tonkrug schleppend, tritt daraufhin ein und knickst tief vor mir. Die roten Haare band sie streng zu einem hohen Zopf und unter dem noch schütteren Bart leuchten kleine Sommersprossen.

„Verzeiht die frühe Störung, Zabdûnayê, aber mir wurde aufgetragen, Euch bei der Morgenwäsche und dem Ankleiden zu helfen", sagt sie zurückhaltend leise. Ich blinzle verwirrt. Zu Hause half mir meine beste Freundin Jassin manches Mal bei sehr kompliziert zu schnürenden Ballkleidern und bei der Auswahl von Geschmeiden dazu. Jedoch das Anlegen der gewöhnlichen Gewänder des Alltages bedürfen kaum Unterstützung, denn nur wenige Bänder besitzen sie, die ich nicht alleine erreiche und zu binden vermag.

Sichtbar zu lange sprachlos lässt mich das Anerbieten verweilen, denn befürchten, dass ihr Auftauchen als dreist von mir empfunden wird, senkt das Mädchen den Blick tiefer und zieht zusätzlich den Kopf zwischen die Schultern. Daher schnell springe ich auf und nehme ihr, ungeachtet der Ungebühr, den Krug aus den Händen. „Ich dank dir für das Wasser", äußere ich mit einem freundlichen Lächeln, denn erschrocken große Augen sehen daraufhin zu mir auf. „Aber wie du siehst, wusste ich nicht, dass du mir aufwarten wirst, und habe mich daher bereits selber angekleidet." Glücklich bin ich nicht mit der Erklärung, die eigentlich eine Lossprechung sein sollte. Anlasten könnte man ihr, dass sie zu spät kam.

Ich hadere mit mir sie zusammen mit der Bekundung fortzuschicken, dass ich keine Dienerin benötige. Als unhöflich und undankbar könnte die Abweisung angesehen werden. „Wer trug dir auf, mir zur Hand zu gehen?", frage ich stattdessen. Sie richtet sich auf und fummelt nervös an dem Saum der blütenweißen Schürze herum. „Ihre Majestät, König Lothin. Er befahl zudem, Euch jeden Wunsch zu erfüllen, den ihr äußert, sei es die Ausstattung Eures Gemachs betreffend, das Benötigen von Kleidern oder Geschmeiden oder sonstiges Begehr. Verzeiht mir, wenn ich Euch mit meinem Auftauchen beschämte oder verärgerte, Zabdûnayê." Ich schüttle den Kopf, lege eine Hand auf ihren warmen Rücken und führe sie zum Fuß des Bettes in der Mitte des Zimmers. Zu nah zur hellhörigen Tür standen wir mir, als dass ich unbedacht sprechen könnte.

„Wie heißt du?", will ich jedoch vordem von ihr wissen. Unsicher richtet sich ihr Blick auf den davor liegenden Teppich. Hohe Adlige mit Attitüden wird sie gewohnt sein, die wenig mit den meinen gemein haben. Wie viele am Hofe kennen wohl ihren Namen? Wie viele schätzen die harte Arbeit der Unsichtbaren wert? „Amia ... Herrin", flüstert sie schüchtern, womöglich um sich von ihrer Unruhe abzulenken, in Gedanken zählend, wie oft sich das Teppichmuster wiederholt. „Amia", wiederhole ich interessiert und lächle. „Eine gute Freundin von mir, heißt ebenso. Ich sah sie schon schmerzlich lange nicht mehr, aber sie hat genau so schöne grüne Augen wie du." Ein klein wenig schwindet die Verkrampfung unter der für sie ungewohnt und daher wohl auch aufwühlend freimütigen Offenbarung.

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