Der sicheren Heimat so nah

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Die nächste Nacht ist still und vollmondkühl. Nur wenn der Wind in die Kronen der alten Bäume des kleinen Wäldchens unweit der heimatlichen Hallen rauscht, ist wahrnehmbar, dass wir weiterhin von Wildnis umgeben sind. Darum bemüht, wieder einzuschlafen, schlage ich die Decke fester um den zitternden Körper und vergrabe das Gesicht in dem Fell des Mantelkragens. Jedoch nach wenigen Atemzügen bereits wird er dadurch klamm. Die feuchte Kälte brennt unangenehm auf der sensiblen Haut, so dass ich schließlich wieder die Nachtkühle ihr vorziehe. Durch die Äste lugt der klare Sternenhimmel. Abertausende flackernde Punkte und ein strahlender Lichtmond, der seinen Zenit unlängst überschritt. Eine Stunde ungefähr, dann werde ich zur letzten Wache der Nacht gerufen. Wenn noch einmal Schlaf über mich kommt, werde ich wohl müder sein als jetzt, also löse ich das Deckenwirrsal und stehe auf.

Thorin sitzt am Feuer. Eine graue Rauchsäule kräuselt sich dünn von seiner Pfeife und verliert sich kaum, dass sie über ihn aufstieg, in der Dunkelheit der Nacht. Sehnsüchtig hält er den Blick nach Südwesten gewandt, dorthin, wo Reich und Familie bereits warten. Einen Raben, der die Nachricht unserer baldigen Rückkehr mit sich trug, schickte er der Dämmerung voraus und unlängst werden die Vorbereitungen begonnen haben, mit dem diese gebührend gefeiert werden soll.

„Kannst du nicht mehr schlafen?", fragt er flüsternd, als ich mich neben ihm auf der Decke niederlasse, die die langsam, aber beständig durch Leder und Stoff kriechende Bodenkälte zügeln soll. Ich gähne. „Etwas, das in den Bäumen seinen lärmenden Schabernack selbst bei Nacht treibt, hat mich geweckt", erkläre ich und sehe vorwurfsvoll nach oben zwischen das Blätterdach einer alten Eiche. Ein kurzes Huschen ist dort auszumachen. Ein nachthungriges Eichhörnchen könnte es sein. Ein Baummarder auf Beutezug, eine Sinnestäuschung oder etwas noch sehr viel Unwirklicheres.

„Diese Bäume sind alt und ehrwürdig", murmelt Thorin daraufhin und entzündet das Kraut in der Pfeife neu. Der Geruch von Asche, vermischt mit der leichten Note von dunkler Schokolade, umhüllt uns für einen allzu flüchtigen Augenblick. „Einst, fern vor Durins Erwachen, gehörten sie zu einem dichten Wald, der weite Teile Mittelerdes bedeckte. Allerhand Seltsames und Gefährliches hauste in ihm. Elementar- und Naturgeister, Irrwichte, Dämonen, Maiar in ihrer guten wie gefallenen Form. Der große Jäger Orome durchstreifte ihn auf dem Rücken seines Pferdes Nahar, das schneeweiß war in der Sonne und bei Nacht wie silbernes Mondlicht glitzerte. Nebelgrau und golden ist seine Rüstung. Das Braun und Grün der Wälder bestimmt seine Aura. Er liebt die Bäume, die Tiere, die Farne und die Morgentautropfen, die wie Diamanten auf dem weichen Moos schimmern, der den Boden bedeckt. Als er Mittelerde verließ, befahl er den Tavari, immer auf den Wald und alle guten Geschöpfe, die in ihm wohnen oder sich verirren, acht zu geben."

Selten erzählt Ihre Majestät Geschichten. Sehr viel lieber lauscht er ihnen und versucht durch sie, den Druck der Verpflichtungen und Geistern der Vergangenheit zu entkommen. Jedoch genauso gut wie Balin kennt er sich in der Mythologie der Welt aus, in der wir wohnen und gleichermaßen herrlich wie sein Berater kann er diese erzählen. Vor mir sehe ich den Häscher der Bestien und Ungeheuern, erhaben auf seinem Pferd sitzend, umringt von riesigen schwarzen Hunden, die Wölfen ähneln. Der kräftige Stoß in sein großes Jagdhorn Valaróma, schickt einen weithinhallenden und unüberhörbaren Klang über die Welt. Ein Licht in der Dunkelheit gleich. Wie ein Blitz, der die finsteren Regenwolken spaltet. Wie ein purpurroter Sonnenaufgang nach einer albgeplagten Nacht. Wie eine goldene Ader in der Tiefe einer verschütteten Mine.

Einst vor unwirklich langer Zeit, halfen uns die Geister des Waldes aus der Not. Sie führten Dwalin und mich durch den Nebel und die Dunkelheit zu Thorin und baten ihre Herrin um sein Leben. Ich spüre ihre Anwesenheit auch in diesem Wäldchen, obwohl ihre Anzahl verschwindend gering sein muss. Es ist das eigenartige Flüstern der Bäume, wie gewisperte Stimmen aus einer anderen Welt, und die reine Energie, die diesen Ort erfüllt und ihn unwirklich und geradezu unverletzbar erscheinen lässt, die sie verrät. Auch ohne, dass sie arglose Rastende mit Eicheln bewerfen oder tolldreist des Nachts durch die Wipfel hüpfen und diese aufwecken.

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