Kapitel 15

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Das sanfte Gezwitscher der Vögel weckt mich am nächsten Morgen aus meinem unruhigen Schlaf. Ich drehe mich auf den Rücken und reibe über meine müden Augen. Nachdem ich fast die ganze Nacht wach lag, konnte ich doch noch kurz ins Land der Träume absinken, als die ersten Sonnenstrahlen schon den neuen Tag begrüßten. Und jetzt wecken mich diese dummen Vögel! Ich setze mich langsam auf und streiche mir die kurzen Strähnen aus der Stirn. Mein Blick fällt auf Nele neben mir, die bereits schon angezogen auf ihrer Matratze sitzt und begeistert kleine Skizzen in ihr Notizbuch zeichnet. „Man ich hab so schlecht geschlafen!", beschwere ich mich bei ihr und lege meinen Kopf auf ihrer Schulter ab. Sie lässt den schmalen Bleistift fallen und legt den linken Arm um mich. „Till?". Ich vernehme ihre leise Stimme nah an meinem Ohr. Ich nicke nur und vergrabe mein Gesicht in ihren langen Haaren. „Er hat eine Freundin", nuschele ich. Sie drückt mich anschließend leicht von sich weg und sieht mir tief in die Augen. „Wie, was? Das kann ich mir nicht vorstellen." Ein verwirrter Gesichtsausdruck ziert ihr bildhübsches Gesicht. „Doch. Sie hat ihn angerufen, irgendeine Rebecca." Ich erzähle genauer von dem Telefonat, als sie mich danach fragt. „Ich habe einfach gar nicht damit gerechnet. Und sowas erfahre ich an dem Tag, an dem wir uns fast geküsst hätten. Ich.." Sie unterbricht mich: „Ihr habt euch geküsst?" Ein Grinsen zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, verschwindet aber schnell wieder, als sie mein leises Seufzen hört. „Fast. Ich verstehe einfach gar nichts mehr. Warum kommt er mir so nahe, wenn er doch eine Freundin hat und warum hat er mir nichts davon erzählt? Wir sind doch Freunde..." Mein Kopf legt sich wieder an ihrer Schulter ab. Ihre Hand hebt sich und Nele streicht mir vorsichtig durch die Haare. „Man, ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Ich habe doch seine Blicke gesehen. Wie er dich anschaut, da muss einfach was sein. Warum will er denn sonst immer in deiner Nähe sein? Warum sonst beginnt er immer zu lächeln, sobald er dich sieht? Hast du ihn denn mal darauf angesprochen?" Sie zieht mich näher an sich und drückt mir einen sanften Kuss auf die Stirn. „Nein, das kommt doch voll doof. Dann denkt er doch, dass ich total eifersüchtig bin", meine ich zu ihr und schließe meine Augen. „Bist du's denn?" Ihre Frage lässt mich aufhorchen. „Ich weiß nicht. Ich verstehe einfach nicht was diese Bitch jetzt will. Drängt sich einfach zwischen uns und zerstört alles, was wir beide die letzten Tage aufgebaut haben. Man wir waren uns so nahe. Was hat denn diese dumme Rebecca, was ich nicht habe?" Mein Puls erhöht sich, mein Atem schwerer. Meine Wangen ziert eine leichte Röte. „Und wie eifersüchtig du bist", lacht Nele, steht auf und reicht mir ihre Hand, „Komm, lass uns auch frühstücken gehen. Wir sind schon spät dran." Ich gebe ihr Recht und folge ihr aus dem engen Zelt. Sie nimmt sofort meine Hand in ihre und drückt sie vorsichtig, flüstert mir ins Ohr: „Lenk dich ab, achte nicht auf ihn. Versuch auf andere Gedanken zu kommen." Und genau das probiere ich auch, als wir an der langen Tafel Platz nehmen. Keinen meiner Blicke lasse ich in Tills Richtung wandern, sobald ich seine Stimme am anderen Tischende höre, beginne ich ein Gespräch mit Sibel oder Nele, die neben mir sitzen. „Ich hätte mal wieder Lust auf eine Gruppenaktion. Wir alle zusammen. Was haltet ihr denn von wandern? Ich habe gestern eine total schöne Route entdeckt, von der man sogar das Meer sehen kann" Rosa klingt begeistert von ihrem Vorschlag und auch die anderen scheinen Gefallen gefunden zu haben. Unsicher bin nur ich. Wandern? Nicht unbedingt meine Lieblingsbeschäftigung und mit meiner Laune heute wäre es mir am liebsten, den Tag im Zelt zu verbringen. Aber Nele macht mir einen Strich durch die Rechnung: „Martha und ich finden die Idee auch super! Ein bisschen Bewegung schadet uns ja auch nicht!" Sie legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel, damit ich ihr nicht widerspreche. Ich weiß ja, sie meint es nur gut, will mich auf andere Gedanken bringen. Ich lächle ihr zu. Auf dem Weg zum Waschraum holt mich Rike ein. „Hey Martha, warte doch mal!" Ich drehe mich zu ihr um, setze ein falsches Lächeln auf, stemme meine Hand in die Hüfte. „Ist denn alles ok bei dir?" Ihre großen runden Augen sehen mich sorgenvoll an. Till vor den anderen schlecht zu machen, ist definitiv nicht mein Ziel und meinen Freunden die Laune zu verderben, erst recht nicht, weshalb ich nur nicke, das falsche Grinsen noch immer auf meinen Lippen. „Ja, klar. Wird sicher super, die Wandertour heute!" Und bei dieser, entferne ich mich von dem Grund meiner schlechten Laune so weit wie möglich. Während er natürlich wie immer die Gruppe anführt und mit einer viel zu großen Karte in beiden Händen den Weg weist, bilde ich das Schlusslicht. Meine Zeltgenossinnen befinden sich weiter vorne in der dreizehnköpfigen Schlange. Sibel mit ihrem Handy am Ohr, wahrscheinlich vertieft in ein Gespräch mit Pawel, und Nele unterhält sich mit Viktor. Die beiden scheinen sich inzwischen ziemlich gut zu verstehen. Rike plappert währenddessen abwechselnd Moritz und ihr Laberbuch voll und redet von einem Artikel der Ende dieser Woche abgeschickt werden muss. Rosa scheint völlig vernarrt in die Natur zu sein, betrachtet jedes Blatt, jede winzige Ameise die den schmalen Pfad überquert und riecht an jeder Blume die sie finden kann. Ich ziehe die frische Waldluft tief in meine Lunge ein. Schon verrückt, wie klar und leicht die Luft hier am Meer ist. Hier erleichtert jeder Atemzug den ganzen Körper, in Berlin hingegen fühlt man die schlechte Luft schwer in seiner Lunge liegen. Schwerer mit jedem Einatmen. Um mich weiter von meiner miesen Laune und den bedrückenden Gefühlen abzulenken, betrachte ich wieder die anderen. Jona und Hermann lachen über Geschichten von früher und Pit erzählt ihnen von seiner Arbeit im Weltallforschungsinstitut. Cäcilia und Leni direkt vor mir. Lenis Hand fest in der ihrer Freundin verankert. Das blondhaarige Mädchen muss lachen, als Leni Anekdoten ihrer gemeinsamen Weltreise auspackt und die beiden in Erinnerungen schwelgen. Wie immer betrachtet das ehemalige Zirkusmädchen verträumt das Lachen der jungen Frau neben ihr, lässt ihren Daumen über den Handrücken der anderen gleiten. Cäcilia drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe und flüstert ihr etwas ins Ohr, woraufhin Leni schüchtern lächelnd auf den Waldboden blickt. Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus, als ich das Glück der beiden Frauen betrachte. Später bin mehr als stolz auf mich, den Gipfel erreicht zu haben und noch viel mehr darauf, die ganze Strecke nicht einmal an Till gedacht zu haben. Doch wie immer hält auch dieser Erfolg nicht besonders lange an. Keine fünf Minuten am Ziel unseres Weges angekommen, rempelt mich genau dieser von der Seite an, bei dem Versuch ein Foto von Viktor mit seinem Butterbrot in der Hand zu schießen. Und selbst diese minimale Berührung setzt wieder alle meine Gefühle für ihn frei. Mir wird heiß, dann wieder kalt, die Gänsehaut breitet sich von der Stelle, an der er mich berührte, weiter meinen ganzen Körper entlang aus. Schweißtropfen bilden sich auf meiner Stirn. Mein Herz schlägt schneller. Mein Mund wird trocken. Was macht er nur mit mir? Muss er mich immer so aus der Fassung bringen? Ich schüttle mich einmal, versuche damit die Gefühle einfach abzuschütteln. Das einzige, das sich dadurch aber verändert, ist Sibels verwunderter Gesichtsausdruck über mein komisches Verhalten. Die Gefühle bleiben. Und die Gefühle bleiben auch noch den ganzen Weg nach unten, bis wir zurück bei den Zelten sind. Toll. Toll gemacht, Martha. Ist dir ja richtig gut gelungen, mal nicht an ihn zu denken. Der Großteil unserer Gruppe beschließt noch den Tag am Strand ausklingen zu lassen, ich allerdings will jetzt einfach nur unter die Dusche. Vielleicht funktioniert ja Gefühle abwaschen besser, als Gefühle abschütteln. Und nach einem ganzen Tag anstrengendem Wandern an der prallen Sonne habe ich es auch verdammt nötig. Ich husche noch schnell ins Zelt, um mir das große Handtuch zu holen, bevor ich an den anderen Zelten vorbei dem Weg zum Waschraum folge. „Seitdem wir uns fast geküsst hätten, lässt sie mich einfach nicht mehr in Ruhe. Man sie ist einfach immer da! Und dann wuschelt sie immer durch meine Haare, ich hasse das!" Ich bleibe stocksteif stehen. Vor Tills und Viktors Zelt. Tills Stimme klingt genervt, fast schon sauer. Ich vernehme ein Rauschen in meinen Ohren, spüre deutlich den Puls an meinem Hals. „Warum sagst du ihr das denn nicht einfach genau so?", ertönt nun auch Viktors sanfte Stimme. „Was verdammt muss ich denn noch machen, damit sie kapiert, dass ich einfach nichts von ihr will! Wir haben uns nicht mal geküsst und ich bin mehr als froh, dass es nicht so weit gekommen ist!" Tills Stimme wird lauter, aggressiver. Ich zittere inzwischen am ganzen Körper, das Blut gefriert mir in den Adern. Ich muss einfach hier weg. So schnell es geht. Ihn nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr riechen, nicht mehr fühlen. Ich stürme in die erste Duschkabine, gerade noch rechtzeitig bevor die erste dicke Träne meine Wangen hinunterkullert. Hastig drehe ich das Wasser auf. Heiß, ganz heiß. Die Wände um mich herum beschlagen und ich bin alleine. Alleine mit Tills Stimme in meinem Kopf. Was er gerade über mich gesagt hat trifft mich hart. Mehr als das. Es zerreißt mich. Er hat mich zu Boden geworfen, wie eine alte Vase. Zersprungen in abertausend Teile. Ich beginne zu schluchzen, meine Tränen vermischen sich mit dem Wasser der Dusche. Ich verliere fast das Gleichgewicht, stütze mich an der Wand ab, lehne mich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand und sinke zu Boden. Meine Beine nah an meinen Oberkörper gezogen, die Stirn an den Knien angelehnt. Nackt. Nackt und verletzlich sitze ich hier auf dem Fliesenboden der Dusche zusammengekauert. Till hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, hat mir das Schwert noch tiefer in die Brust gerammt, mich damit erstochen, zerstört. „Lässt mich nicht mehr in Ruhe...ist immer da....ich hasse das...dass ich einfach nichts von ihr will!" Wortfetzen, die mich tiefer und tiefer zusammenfallen lassen, mir das Atmen verbieten. Lautes Schluchzen, dicke Tränen. Das Schwert in meiner Brust, die Worte in meinem Kopf, Till vor meinen Augen, keine Luft zum Atmen. Alleine. Alleine und verletzlich. Einsam und zerstört. Bis ich ein feines Quietschen der Türe vernehme und im nächsten Augenblick zwei feste Arme um meinen Körper. Sibels Haare kitzeln meinen nackten Rücken. Sie dreht den Duschhahn zu, zieht mich hoch und wickelt mich fest in das große Badetuch. Langsam und bedacht darauf, dass uns niemand entdeckt, begleitet sie mich zu unserem Zelt. Sofort vergrabe ich mich in meinem dicken Schlafsack, vergrabe mein Gesicht in meinem Kissen. „Was ist denn passiert?" Sibel scheint sich große Sorgen zu machen. Mit zittriger Stimme und verheulten Augen erzähle ich ihr alles. Von dem Fast-Kuss gestern, dem Telefonat mit Rebecca und dem Gespräch zwischen Till und Viktor gerade eben. Sie sagt nichts. Ist einfach nur da. Und ich bin nicht mehr alleine. Aber zerbrochen, zerstört, verletzt. Mehr, als je zuvor.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt