Kapitel 33

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Meine Augen schließe ich, Tills warme Stirn noch immer an meiner. Ein Schutzschild aus Liebe um uns, dass uns alles vergessen lässt. Gefangen in einem Raum, den wir selbst erbaut haben. Ein Raum, in dem Zeit nicht existiert. Ein Raum, in dem wir schwerelos sind, uns nichts bedrückt. Ich hebe meinen Kopf nur minimal an. Nur so weit, bis meine Nasenspitze seine berührt. Er reagiert sofort darauf, drückt sich näher an mich. Ich kann sein Lächeln regelrecht spüren, jedes Gefühl in ihm überträgt sich auf mich. Der kleine Finger an meiner Unterlippe streicht vom linken Ende an das rechte, wandert von diesem Mundwinkel weiter zu meiner Wange, fährt dort den schmalen Knochen entlang bis zu meinem Ohr. Er tastet weiter. So unglaublich vorsichtig und leicht, dass ich die Berührung fast nicht merke. An der Seite meines Gesichts hinunter zu meinem Kiefer, folgt der Unterseite bis zum Kinn. Tiefer, immer tiefer, nun meinen Hals entlang, nimmt jedes Detail wahr. Meine Hände noch immer fest in seinen dicken Locken verfangen, die kurzen Nägel leicht in seine Kopfhaut bohrend. Mein Herz schlägt im Takt mit seinem. Beide vereint im gleichen Rhythmus, laut und kräftig. Eine blonde Strähne kitzelt mich an meiner kleinen Stirn, lässt mein seeliges Lächeln breiter werden. Ein Widerstand an meinem Schlüsselbein, Tills Finger, zu dem sich nun noch ein zweiter gesellt hat. Gemeinsam fahren sie die Form des länglichen Knochens nach, landen auf meiner kantigen Schulter. Immer mehr Finger spüre ich auf der heißen Haut. Drei, vier, schließlich fünf. Alle gemeinsam um meinen Oberarm gelegt, fassen ihn, halten ihn. Seine Handfläche senkt sich, landet ebenfalls auf mir. Seine Wärme heizt meinen Körper noch mehr auf, lässt meinen Herzschlag für einen Moment wieder unregelmäßig werden. Und wieder, seine rechte Hand setzt sich in Bewegung, führt ihren Weg fort, meinen Körper hinab. Wird langsamer, stockt manchmal kurz. Und trifft irgendwann auf die empfindliche Stelle an meinem inneren Unterarm, fühlt meinen rasenden Puls. Ich merke, wie sich seine Mundwinkel stärker nach oben ziehen. Die inzwischen zittrige Hand traut sich trotzdem tiefer, gleitet meine Handfläche entlang, trifft auf meinen langen Zeigefinger. Ganz vorsichtig schiebt er Finger für Finger durch die meinen, verschränkt sie, hält meine Hand in seiner. Fest, mit gewissem Druck und doch auch mit einer Leichtigkeit. Ich spüre ihn. Alles an ihm, jedes Gefühl, alle seine Gedanken. Spüre seine Verletzlichkeit, seine Willensstärke, seine Liebe. Kälte ummantelt meine Stirn, sein Kopf hat sich von meinem gelöst. Nur noch durch unsere Hände verbunden stehen wir mitten im düsteren Wald. Der Nachtwind wird stärker, kühler und trifft nun auf meine schweißbesetzte Stirn. Der Himmel ist nicht mehr rot, sondern blau. Tiefes Dunkelblau, wirkt so unendlich. Die Sterne zeichnen sich auf diesem Hintergrund stärker ab, das dichte Blätterdach lässt fast kein Licht mehr hindurch. Nur der seichte Schein der schmalen Mondsichel lässt uns gerade noch unsere Füße erkennen, reduziert unser Blickfeld auf das Minimalste. „Ich glaube, wir sollten langsam mal..." „...wieder zurückgehen?", beendet Till meinen Satz. Ein zartes Lächeln umspielt seine geröteten und leicht geschwollenen Lippen. Ich nicke nur, fast unmerklich. Grinse dann zurück und mache einen Schritt zur Seite, entferne mich weiter von ihm, verlasse allmählich unser Schutzschild, trete ein in die reelle Welt. Der Sportler lässt meine Hand wieder los, viel früher, als es mir Recht wäre, weswegen meine Hand sofort wieder zurückzuckt. Zurück zu seiner, zu der wohltuenden Wärme. Er hat sich allerdings schon wieder umgedreht, blickt in den beeindruckenden Nachthimmel, meine Hand greift ins leere. „Schön, oder?", murmelt er, blickt über seine linke Schulter, sieht mir tief in die Augen. „Mhmm..." Ich stehe noch immer völlig neben mir. Überwältigt, überfordert. Ich habe noch nicht realisiert, was vor einigen Minuten geschehen ist. Ich habe Till geküsst. Nach über fünf Jahren konnte ich diese so zarten Lippen wieder spüren, konnte seine Nähe wieder so wahrnehmen. Ein unglaubliches Gefühl, dass das Verlangen nach mehr auslöst. Nach mehr Küssen, mehr Berührungen, mehr Nähe. Und doch ist die Stimmung zwischen uns jetzt zwar locker, die starke Anspannung, die sich den ganzen Tag gesteigert hat, endlich gelöst, trotzdem ist spürbar, dass wir in diesem Moment beide nicht wirklich wissen, was das nun bedeutet, wie wir uns jetzt verhalten sollten. Schnell hebe ich die dicken Äste neben mir wieder auf, nehme sie unter den linken Arm. Mit schnellen Schritten hole ich den jungen Mann ein, der schon fast aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, laufe nun im Gleichschritt neben ihm, berühre sanft immer wieder seinen kleinen Finger, der Drang nach Körperkontakt wird unumwindbar. Nur einen seiner kräftigen Finger, den kleinsten an seiner linken Hand, hänge ich mit dem meinen ein. Er lässt es zu, minimiert den Abstand zwischen unseren Schultern, die Meine auf Höhe seiner Armbeuge. Immer näher kommen wir dem festen, dornigen Gestrüpp. Ich muss lächeln, denke daran, dass ich genau an dieser Stelle an seinen muskulösen Oberkörper geprallt bin, sein schallendes Gelächter höre ich noch immer in meinen Ohren. Er wirkte glücklich, ausgelassen, befreit. Auch jetzt noch, als er die Zweige zur Seite schiebt und sich bückend durch das Gebüsch kämpft, ist er von dieser sorgenfreien Aura umgeben. Nicht nur er, ich auch. Wir beide verlassen den einsinkenden Waldboden, setzen wieder Fuß auf den festen Weg. Er in der einen kiesübersähten Spur, ich in der anderen, getrennt von einer schmalen Linie aus höherem Gras. In der Ferne können wir die Lichter des Campingplatzes erkennen, leise Stimmen werden mit jedem Schritt etwas lauter, wir vernehmen die Töne einer Akustikgitarre. Das Holz unter meinem Arm wird schwerer, zwingt mich dazu Tills Hand loszulassen, um dann die Äste über beide Arme quer vor meinem Körper zu tragen. „Zu schwer für dich, Schwächling?" Ein breiter Arm schiebt sich in meinen Blickwinkel, nimmt mir die Hälfte der Stöcke ab. Dabei zwinkert der Lockenkopf, ein herzliches Lachen verlässt den liebenswerten Mund. „Äh ne, ich hätte das schon geschafft." Schon ist die alte Martha Pracht zurück. Schlagfertig und selbstbewusst. Ich habe definitiv genug von Till geschwärmt und nach Neles Kommentar am See überkommt mich die leichte Angst, dass jemand mir meine Gefühle, die starke Liebe zu Till, ansehen könnte. Wie würde ich darauf reagieren? Was würde ich sagen, was würde ich tun? Und noch viel wichtiger: Was würde Till tun? „Mann, da seid ihr ja endlich! Wie kann man denn über eine Stunde brauchen, um ein bisschen Holz zu sammeln?" Viktor, gekleidet in einer langen Jeans und einem zu großen grünen Poloshirt, kommt auf uns zu. In der Hand hält er einen kleinen Becher, randvoll mit einer leicht gelblichen Flüssigkeit, wahrscheinlich Weißwein, und zwischen seinen Zähnen klemmt eine Salzstange. Mit festen Schritten nähert er sich, schnell und grinsend. Dann klopft er seinem besten Freund stark auf die Schulter, zieht ihn mit sich. Alleine bleibe ich auf dem Waldweg stehen, blicke auf eine kleine Gruppe in der Ferne, die lautstark lacht. Mein Blick trifft noch einmal Tills, der sich umgedreht hat und mich auffordernd ansieht. Ich lächle ihn an und folge den beiden mit einem gewissen Abstand. Der Lichtpegel wird immer größer, eine alte milchige orange Lampe ist an der Mauer neben der Küche befestigt, lässt mich die Gesichter erkennen. Hermann und Pit nehmen mir das Feuerholz ab, stapeln es gemeinsam mit Tills Hälfte auf den kleinen Aschehaufen inmitten der Bänke und versuchen es trotz der starken Brise anzuzünden. Ich hingegen nehme auf einer der feuchten Sitzgelegenheiten Platz, links neben mir Nele und rechts neben mir niemand. Eine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen kann, denke ich und werfe mit Schwung mein eines Bein auf das Holz, belege somit die ganze restliche Bank. Sobald der erste Stock Feuer fängt und das flackrige Licht auf uns wirft, ändert sich die Stimmung unter uns. Das Chaos legt sich, alle versammeln sich, verteilen warme Wolldecken und kuscheln sich an den Sitznachbar. Mein Blick fällt wie so oft auf den Leistungssportler, der momentan noch planlos zwischen zwei Bänken steht, neben mir und dem freien Platz bei Moritz hin- und hersieht. Und wieder, unsere Augen treffen sich, tiefer intensiver Blickkontakt, der ein Feuer in mir auslöst. Ein schüchternes Lächeln in seine Richtung ist anscheinend Grund genug. Schon setzt er zögerlich einen Fuß vor den nächsten und bleibt direkt neben mir stehen. Im nächsten Moment scheint sich etwas in ihm zu regen, eine Verhaltensänderung, die so unfassbar plötzlich kommt. Er nimmt geschwind meinen Knöchel in die Hand und legt meinen Fuß wieder auf dem Boden ab, setzt sich neben mich. Nah an mich, sehr nah. Sein Oberschenkel reibt an meinen, der Arm an seinen gepresst. Etwas überrascht sehe ich ihn an. „Was? Problem damit?", antwortet er nur, lächelt schief. Der Poser ist zurück. Ich komme seinem Gesicht näher, berühre mit meinen Lippen sein rechtes Ohr und flüstere: „Ich nicht. Du etwa?" Ich streife meinen Mund noch einmal an seiner Haut entlang, lasse sie an seinem Ohrläppchen etwas länger liegen. Es ist deutlich spürbar, wie sein Atem schneller und in harten Stößen seine Nase verlässt, den Puls an seinem Hals kann ich sogar hören. Er reagiert auf mich. Und ich bilde mir ein, dass seine Reaktion auch stärker ist als vor dem Kuss. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es bei mir nicht so ist. Ich tue mir mehr als schwer, mich von ihm zu entfernen, kämpfe mit mir. Und als ich es dann doch schaffe, sehen mich seine riesigen, ozeanblauen Augen an, herausfordernd, aber mit einer neuen Emotion, die sich untermischt: Vertrauen. Die Berührung unserer Lippen im Wald hat uns verbunden, hat uns gezeigt, was in dem anderen vorgeht und das ist spürbar Anscheinend nicht nur für uns, sondern auch für Nele, die mich überrascht anschaut. Das Lagerfeuer wächst und wächst, der Sauerstoff nährt die starke Flamme, Funken fliegen durch die Luft. Das Knacken der abgebrannten Hölzer klingt beruhigend. Viktor, der gegenüber von uns sitzt, stimmt die Gitarre in seinem Arm wieder an, zieht seine Hand einmal über die Saiten. Und schon beginnt er leise zu summen, spielt eine ruhige Melodie, klangvoll und sogar etwas romantisch. Nele erkennt das gespielte Lied, beginnt zu singen, Viktor strahlt sie an, schenkt ihr ein herzliches Lachen und stimmt mit ein. Die harmonischen Klänge der beiden erfüllen die klare Nachtluft, mischen sich unter das ferne Rauschen des Meeres. Es ist ein Moment, der in Erinnerung bleibt. Ein Moment, der für Zusammenhalt steht, für Einigkeit. Wir gehören alle zusammen, erleben gerade diese traumhafte Zeit in Frankreich gemeinsam Die verdreckte Lichterkette an der Wand des Waschraums flimmert leicht, nicht unangenehm. Es beruhigt mich sogar, lässt mich noch mehr entspannen. Eine Gänsehaut zieht sich von meinen Armen über meinen Rücken hinunter. Ob es an dieser einzigartigen Stimmung und der besonderen Atmosphäre liegt oder doch an der warmen männlichen Hand, die um meinen unteren Rücken fährt und meine Hüfte greift? Ich senke den Blick, die bekannte rote Farbe kehrt auf meine Wangen zurück, lässt sie glühen. Minimale Bewegungen seines Daumens, der immer hoch und wieder runter streichelt, lassen mein Herz hüpfen, mich noch glücklicher werden. Ich genieße jeden nahen Moment mit Till so sehr Wer weiß, was morgen zwischen uns ist? Wer weiß, wie lange dieser liebevolle Umgang erhalten bleibt? Mit ihm weiß man nie, was der nächste Tag bringt, alles ist eine Überraschung. Ich liebe es und hasse es zugleich. Ich sehne mich nach Sicherheit, Treue und schätze es gleichzeitig auch so sehr, dass ich durch dieses sprunghafte Verhalten jede Sekunde so sehr wahrnehme und schätze. Er macht mich einfach verrückt, völlig verrückt. Das Feuer wächst und wächst, wärmt uns von vorne so stark. Unsere Rücken allerdings bleiben kalt, der Wind bläst immer noch dagegen, weht mir immer wieder eine von Neles langen, blonden Strähnen vor die Augen. Ich sehe zur Seite, betrachte Tills Profil. Eine leicht abgerundete Stirn, große klare Augen Dann die sanfte Kurve zu seiner Nase, die dann wieder spitz abfällt. Die leichte Senkung über seiner Oberlippe, die nach oben gerichteten Mundwinkel, der markante Unterkiefer. Auf sein Gesicht fällt das warme, flackernde Licht des Feuers, erhellt es, lässt ihn so sehr strahlen. Seine makellose Haut, die feinen Bartstoppeln, die sich an meiner Wange so gut anfühlten. Ich rücke noch näher an ihn, klebe förmlich an seiner Seite und lege meinen Kopf an seinen. Seine Schläfe trifft meine. Jede Berührung ein Blitzschlag, jede Berührung ein noch stärkeres Kribbeln in der Magengegend. Er erhöht als Antwort auf meine Nähe den Druck an meiner Hüfte, lässt seine Hand extrem langsam unter meine lockere Bluse wandern, berührt die nackte Haut an meinem Rücken. Langsam streicht er meine Wirbelsäule nach oben, nur einige Zentimeter, bewegt sie dann wieder auf den Bund meiner Hose zu, lässt sie dort liegen. Eine Berührung, die ich nicht erwartet hätte, aber so sehr genieße. So innig, so zärtlich, so intim Das Lagerfeuer, die Umgebung weckt in uns allen neue Seiten. Jona hat ihren Kopf schon länger auf Hermanns Schoß abgelegt, er streichelt ihr nun sanft durch die Haare, ihre Augen geschlossen. Nele sitzt inzwischen neben Viktor, die beiden schaukeln sanft von links nach rechts, stimmen ein Lied nach dem anderen an, sehen sich dabei in die Augen, ihre Stimmen perfekt harmonierend. Leni und Cäcilia wie immer eng aneinander, Arm in Arm, Lenis Kopf auf der schmalen Schulter der blonden Frau. Cäcilias Hand in ihren Haaren, liebevoll krault sie ihre Freundin, sieht sie gedankenverloren an. Rike und Moritz lachen leise, während Pit ihnen eine seiner Weisheiten über Aliens und das Universum erzählt. Rosa und Sibel, gemeinsam unter eine dicke Decke gekuschelt, summen die angestimmten Lieder mit, machen immer wieder neue Songvorschläge, die Viktor sofort umsetzt. Und ich bin in diesem Moment einfach nur wunschlos glücklich. Till geküsst zu haben gibt mir so viel Hoffnung, so viel neuen Mut, macht mich so glücklich. Seine flache Hand an meinem Rücken löst Gefühle in mir aus, die ich noch nicht kannte, bis jetzt. Ihn hier bei mir zu haben, ist ein riesiges Geschenk. Sein Gesicht an meinem, meine Hand nun auf seinem Oberschenkel liegend, nach noch mehr Kontakt suchend, macht diese Zeit noch besonderer, wertvoller. Wir beide haben an diesem Tag einen so großen Schritt nach vorne gemacht, haben uns auf ganz neue Weisen besser kennengelernt und ich habe ihn dadurch noch viel mehr lieben gelernt.

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