Kapitel 35

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Tills Sicht:

Der Regen prasselt immer noch laut auf die dunkle Plane des Zelts. Dicke Tropfen kullern an den Seiten entlang, einer schneller als der andere, bis sie schließlich am unteren Rand zusammenlaufen und eine kleine Pfütze bilden. Mein Blick fällt auf den erhellten Handybildschirm neben meinem Kopf. 8:30 Uhr. Normalerweise würde die starke Sonne bereits die Sterne verschwinden lassen und alles in ein helles orangenes Licht werfen. Heute jedoch bleibt es finster. Das Zeltdach wölbt sich nach innen Zu viel Wasser sammelt sich an der Oberfläche. Ich atme einmal tief die frische kalte Luft ein. Es riecht nach Regen, Nässe. Ich liebe diesen Geruch. Er klärt alles auf, löst die beißenden Düfte der warmen Tage und lässt mich wach werden. Viktor neben mir schläft noch tief und fest, schnarcht leise mit geöffnetem Mund. Auch wenn ich die ganze Nacht fast kein Auge zugetan habe, ist die Müdigkeit total verflogen. Ich strecke mich und ziehe den Reißverschluss des Zelts nach unten, strecke meinen Kopf in den Regen. In mir strahlt die Sonne. Im Gegensatz zum tristen Frankreich. Der Himmel ist von dicken, schweren Wolken bedeckt, die dunkel über uns herziehen, jegliches Licht verbieten Das sonst so helle grüne Gras ist nun fast komplett von braunem Schlamm bedeckt. Ich schüttle meinen Kopf, drehe mich und schaue wieder zu meinem besten Freund. Ich grinse, als ich sehe, wie tief er sich in seinem Schlafsack vergraben hat, rüttle fest an seiner Schulter, warte auf eine Reaktion. „Viktor, aufstehen! Wir müssen laufen gehen!" Meine begeisterte Stimme scheint ihn abzuschrecken, er zuckt. Noch ein Mal klopfe ich ihm auf den Rücken, er brummt nur und vergräbt den Kopf tief in seinem großen Kissen, strampelt mit den Beinen. „Lass mich", murmelt er. Schlafmütze. Ich schäle mich aus dem viel zu großen Shirt und der kurzen Hose, schlüpfe in meine Laufsachen und werfe die dünne Jacke um meine Schultern. „Dann gehe ich eben alleine!" Mein lautes Lachen dringt durch den verregneten Morgen, dieser dämpft es stark ab. Im nächsten Moment schließe ich den Reißverschluss erneut und wate durch den Sumpf bis zu dem schmalen Kiesweg. Das Wasser spritzt mir an die Knöchel, meine Füße werden nass. Ich erhöhe das Tempo, beginne zu joggen. Heute ist es anstrengender als sonst. Der kräftige Gegenwind prallt an mir ab, verlangsamt mich immer wieder. Der feste Regen prasselt auf meinen Kopf, tropft mir durch die dichten Locken und läuft mir hinter den Ohren den Nacken hinunter. Fröstelnd schließe ich die Laufjacke, balle meine Hände zu Fäusten und werde schneller. Meine gute Laune lässt sich von nichts vertreiben. Auch nicht von dem miesen Wetter Vor meinem inneren Auge sehe ich noch immer Marthas weiches Lächeln, kurz bevor sie mich geküsst hat. Es ermutigt mich, gibt mir Kraft und lässt mich alles andere vergessen. Dauernd muss ich mir den kräftigen Regen aus der Stirn wischen, um etwas sehen zu können. Die Kälte zieht sich durch meine wenigen Schichten Kleidung, ich zittere. Die nasse Gummisohle meiner Schuhe erzeugt ein merkwürdiges Geräusch, der Wind pfeift stärker durch die vereinzelten Bäume am Wegesrand. Hätte ich doch meine gewöhnliche Strecke durch den Wald gewählt. Dann hätte mich zumindest das Blätterdach etwas geschützt. Aber ich wollte nicht. Ich hätte keinen einzigen klaren Gedanken fassen können, zu sehr hätte mich alles an den gestrigen Tag mit Martha erinnert. An die intensiven Küsse, die zarten Berührungen. Ich vermisse sie. Sie hat das Lagerfeuer vor mir verlassen, mir nur noch einmal flüchtig zugelächelt. Und dann ist sie verschwunden. Ich sehne mich nach dem Moment, sie endlich wieder zu sehen. Sei es nur aus der Ferne. Ihr strahlendes Lächeln, wenn sie ihre mit Sommersprossen gezierte Nase rümpft und in die Sonne sieht. Ihre klaren, großen Augen mit den tiefschwarzen Pupillen. Meine Gedanken schweifen ab. Jedes noch so kleine Detail meiner Traumfrau kommt mir in den Sinn, erfüllt mein Herz mit dieser unglaublichen Wärme, die die bittere Kälte verdrängt. Ich werde allmählich langsamer, als ich die Wipfel der Zeltgruppe erkennen kann. Ich fahre mir durch die Haare. So, dass mir das Regenwasser unter meiner Jacke den Rücken hinunterläuft. Ich schaudere Die Äste der großen Bäume senken sich, zu schwer ist die Last darauf. Ich schlage den Weg zu den Duschen ein, reiße mir die triefenden Klamotten vom Leib, winde sie über dem kleinen Waschbecken aus und verschwinde in einer der fünf Kabinen. Wegen des enormen Temperaturunterschieds des Wassers breitet sich die Gänsehaut zunächst stärker aus, bevor sie endgültig verschwindet, mich der viel zu schwache Strahl des Duschkopfs wärmt. Eingewickelt in das dicke Frotteehandtuch trockne ich mir die Haare. Anschließend werfe ich mich in den kuschligen grauen Pullover, nachdem ich nach verzweifelter Suche meinen blauen Lieblingshoodie nirgends finden konnte. Still putze ich mir meine Zähne. Nur das Geräusch des prasselnden Regens auf dem dünnen Aludach formt eine Melodie, beruhigend und sinnlich. Selbst der frische Geschmack meiner Zahnpasta erinnert mich an Martha. An den Duft ihrer Haare, an ihre Lippen, die leicht nach Minze schmeckten. Martha war schon immer überall. Überall in meinen Gedanken, zu jeder Zeit. Doch seit gestern scheint das alles nur noch intensiver geworden zu sein, keine Sekunde verlässt sie mich, ist immer da. Wieder überkommt mich der immense Wunsch, sie zu sehen, sie zu berühren. Nur ganz sanft, vielleicht einer meiner Finger an ihrem Unterarm. Selbst ein Blick in ihre Augen wäre in diesem Moment genug, um mich völlig aus der Fassung zu bringen, meine Knie zittern, mein Herz hüpfen zu lassen. Wie geht es ihr dabei? Denkt sie genauso über den Kuss im Wald? Denkt sie überhaupt an den Kuss im Wald? Wie heute Nacht fährt mein Finger wieder über meine Lippen, spürt noch immer den sanften Druck ihrer darauf. Das Kribbeln wird stärker, meine Augen schließen sich wie von selbst. Abtauchen. Abtauchen in meine Welt, in unsere Welt. Die Tür wird aufgerissen, knallt mit Schwung an die Wand, an der der Putz bereits abbröckelt. Meine Augen öffnen sich blitzschnell, die Hand wandert in meine Haare, wirbelt einige Strähnen umher. Dort steht Nele, breitbeinig, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein breites Grinsen im Gesicht. „Bei was hab ich dich denn gerade erwischt?" Jetzt verschwindet auch das Lächeln auf meinem Mund, die Lippen nu zusammengepresst. „Ähm... bei...na..." Till, der Poser stottert. Na toll. „Ach komm, spar's dir. Ich weiß doch sowieso an was du denkst. Oder besser gesagt, an wen. Deine Geliebte vernebelt dir die Gedanken?", lachend läuft sie zum Waschbecken neben mir, gluckst einmal und zwinkert mir dann zu. „Nein, ich...äh...", ich greife die kleine Kulturtasche und drehe mich um, „ach egal." Ich winke ab und mache mich, das Handtuch über den Kopf haltend, auf den Weg zum Frühstückstisch. Über diesem befestigen Pit und Cäcilia gerade eine feste Plane an den vier Stahlstangen, die an jeder Ecke des Tischs tief aus der Erde hervorragen. Hermann steht daneben und gibt Anweisungen. Die Stimmung ist ausgelassen, noch entspannter als die letzten Tage. Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen, als ich Jona betrachte, die gerade mehrere Marmeladengläser aus der Küche holt und dabei ein Lied summt. Wie immer lasse ich mich auf den grünen Campingstuhl fallen, schütte mir schon Müsli bis zum Rand in die Schüssel. Sobald Moritz mit der Milch neben mir steht, diese gerade abstellen will, reiße ich ihm die große Packung aus der Hand und fülle sie auf mein proteinreiches Frühstück. Mein Blick hebt sich leicht, ich erkenne ein Paar Schuhe. Schwarz, ausgelaufen und leicht dreckig an den Seiten. Marthas Schuhe, unverkennbar. Mein Herz schlägt höher, lauter, stärker. Schweißperlen bilden sich auf meiner noch immer leicht nassen Stirn. Ich bin nervös. So unfassbar nervös. Meine Augen wandern höher, ihren perfekten Körper entlang, landen schließlich auf dem zierlichen Gesicht, umrahmt von ihren kurzen blonden Haaren. Sie ist so unglaublich schön, wundervoll. Alleine ihr zartes Lächeln erhellt den dunklen, grauen Tag, erfüllt die Atmosphäre mit einer Wärme und einer positiven Energie. Die so weich gezeichneten Augenbrauen heben sich minimal, als sie beginnt zu Lachen, auf ihren langen Wimpern bleibt ein klitzekleiner Regentropfen liegen, zwingt sie dazu, öfter zu blinzeln. Sie zieht den Stuhl mir gegenüber etwas zurück, nimmt darauf Platz. Das eine Bein über das andere legend rutscht sie wieder näher, kommt mir näher. Unsere Blicke treffen sich, für einen Moment sehe ich direkt in ihre leuchtenden Augen. Eine Sekunde nur, dann senke ich meinen Blick, betrachte den leeren Teller neben mir. Wie soll ich mit ihr umgehen? Was ist jetzt richtig, was falsch? Kein Wort haben wir gestern über den Kuss gewechselt, darüber, dass wir uns so nah gekommen sind. Ich habe mich nicht getraut das Thema anzusprechen. Was, wenn sie wieder einen Rückzieher gemacht hätte, wenn ich meine Gefühle offenbart hätte? Diese Frau ist unberechenbar. Mag sie dich, erfährst du die größte und intensivste Liebe, die man sich nur vorstellen kann. Mag sie dich nicht, dann stehe Gott dir bei. Sie wird dir das Leben zur Hölle machen. Es nicht anzusprechen ist nicht richtig, so viel ist mir bewusst. Aber es bedeutet auch, dass wir dadurch den ganzen Abend noch genießen konnten, die Stimmung im Wald angehalten hat. Von ihr kam ja auch nichts. Kein Wort zum Kuss. Die Nacht, die dazwischen liegt, ändert einiges. Heute ist nicht gestern. Heute ist wieder alles neu. Was ist das zwischen uns? Ich weiß es nicht. Was war das zwischen uns? Ich weiß es auch nicht. Fragen über Fragen, keine Antworten. Diese hat nur sie, Martha. Ich spüre ihren verlangenden Blick auf mir, sehe auf. Sie sieht weg. Ist das jetzt das Ergebnis daraus? Dass wir wieder zwei Schritte zurückgegangen sind, nachdem wir in unserem Weg so weit vorangeschritten sind? Sie greift eine Banane etwas entfernt, rutscht dafür noch näher an die Tischkante. Ihr Bein berührt mein Schienbein. Nur kurz, nur ganz leicht. Und doch: Stromschlag. So unfassbar stark. Die Gänsehaut wandert meinen Körper hinauf, vergreift sich in meinem Nacken, lässt die Härchen dort aufstehen. Ein pochendes Herz in der warmen Brust, ein Kribbeln im unteren Bauch. Martha, die Frau, die mich um den Verstand bringt. Und wieder treffen sich unsere Augen Und wieder wendet sie den Blick ab, betrachtet die im Wind wiegenden Bäume hinter mir. Ich seufze. Doch lässt mir auch das nicht die gute Laune nehmen. Ich habe sie geküsst. Ich habe sie berührt. Und irgendwie weiß ich, zumindest hoffe ich es, dass es nicht das letzte Mal gewesen sein wird. Und selbst wenn es das doch gewesen sein sollte, dann war es ein Moment, der mir für immer erhalten bleibt. Ein Moment, der wahr ist, etwas, dass ich wirklich erlebt habe und mir niemand mehr nehmen kann. Martha Pracht ist die Liebe meines Lebens, sie ist der Stern, der für mich leuchtet, mir den Weg weist. Sie ist ein Vorbild, eine Konkurrenz, ein Gegenpol. Ich bin unheimlich in sie verliebt, in alles an ihr, alles in ihr. Und ich werde nicht aufgeben. Nicht, bevor sie mir klar und deutlich ins Gesicht sagt, dass sie nichts empfindet. Die Hoffnung lodert in mir. Ein Feuer, das wächst, immer mehr, immer stärker. Ein Feuer, das mit jeder vergangenen Sekunde härter gegen den Wind ankämpft, der es auspusten will.

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