Kapitel 34

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Tills Sicht:

Weit entfernt höre ich die vereinzelten Schreie der Kauze. Der aufbrausende Wind rauscht in den dunkelgrünen Blättern der großen Bäume. Das Meer wird immer unruhiger, immer wilder, immer lauter. Der fahle Schein des vollen Mondes fällt durch die feinen Planen des Zeltes, taucht das Innere in ein blasses, schwaches blaues Licht. Die ersten Regentropfen prasseln geräuschvoll auf die dünne Zeltdecke, kühlen die Umgebung stetig ab. Viktor, der neben mir liegt und nach seinen tiefen regelmäßigen Atemzügen schon seit geraumer Zeit im Land der Träume ist, kuschelt sich enger in seinen dicken, wärmenden Schlafsack. Anders als ich, ich liege auf der Matte, der Schlafsack unter mir. Mir ist heiß, extrem heiß, sie macht mich heiß. Meine Gedanken kreisen natürlich wieder nur um Martha. Dieses wunderbare Wesen hat mich in ihren Bann gezogen, hält mich gefangen, lässt mich nicht mehr los. Der Zeigefinger meiner rechten Hand wandert wie von selbst zu meinen Lippen, streicht mit leichtem Druck über sie. Ich kann immer noch nicht glauben, schaffe es einfach nicht zu realisieren, dass ich nach so langer Zeit endlich wieder ihre samtig weichen Lippen spüren durfte. Ich habe das Gefühl, ihren perfekt geformten Mund immer noch auf meinem zu fühlen. Unsere Lippenpaare haben hervorragend harmoniert, haben sich phänomenal ineinandergefügt, sind zu einem, nein gleich zu mehreren atemberaubenden Küssen verschmolzen. Allein bei dem Gedanken an diese prickelnden Küsse breitet sich das wohlbekannte, verliebte Kribbeln von meiner Magengegend in meinen ganzen Körper aus, wie eine Armee von kleinen, flinken Ameisen, die jede Faser meines Körpers an sich reißen. Die sich vor allem in meinem Herzen niederlassen, es zum Rasen bringen. Als ich Martha, die Frau die ich schon seit über 5 Jahren begehre, so nah an mir, ihre bezaubernden Lippen auf meinen gespürt habe, ist in mir ein Feuerwerk an Empfindungen und Gefühlen ausgebrochen. In den letzten Jahren hatte ich viel Kontakt zu anderen Frauen, hatte viele lose Bekanntschaften, unzählige Dates. Ich habe schnell gemerkt, dass ich eine starke Anziehungskraft auf den weiblichen Teil der Bevölkerung ausübe, einige sind mir regelrecht hinterhergelaufen, haben sich mir vor die Füße geschmissen. Es war für mich ein Kinderspiel, sie um den Finger zu wickeln, sie für meine egoistischen Zwecke zu missbrauchen. Mir wird schlecht, kotzübel, wenn ich an diesen schrecklichen Till, den ich hoffentlich jetzt hinter mir gelassen habe, denke. Ich war wirklich das egozentrischste Arschloch, das man sich vorstellen kann. Ich habe so viele Frauen, irgendwann habe ich aufgehört mitzuzählen, ausgenutzt, nur um meine Triebe, mein Verlangen nach einer bestimmten, einer ganz besonderen werblichen Person zu stillen. Ich habe verzweifelt versucht meine Sehnsucht, den Drang nach ihr zu unterdrücken, einen neuen Menschen zu finden, der an meine Seite passt, der mich glücklich macht, mit dem ich mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann. Jedoch hat es nie funktioniert, dieser Platz war und ist besetzt, seit dem ersten Moment in dem ich diese zauberhafte Frau, in dem ich Martha gesehen habe, hat sie sich dort breitgemacht, hat keine Andere in die Nähe meines Herzens gelassen. Sie hat diesen Ort, ganz tief in meiner Brust, nur für sie schlagend, blockiert, hat sich darin eingenistet, ihn für sich eingenommen. Dieser Augenblick im Wald, unser Kuss, der Erste nach über einem halben Jahrzehnt, war ein Gefühl von „Angekommen sein", sie macht mich komplett, vollendet mich. Ihre angenehme Nähe, ihre wohlige Körperwärme, ihr lieblicher Duft, eine Mixtur aus Rose, Eukalyptus und ihrem ganz eigenen verführerischen Geruch schenken mir Geborgenheit, Sicherheit. Für die Außenwelt bin ich meistens der rücksichtslose Sportler, der sich nur auf seine eigenen Ziele fokussiert, der sich einen Dreck um seine Mitmenschen kümmert. Ein kalter Stein, ein gefühlsloser Eisklotz, der nur an sich selbst denkt, aus jeder Situation nur seinen eigenen Profit zieht. Ein selbstsüchtiger Einzelkämpfer. Das bin ich aber nicht und werde es auch niemals sein. Natürlich, ich bin keiner, der sein Innenleben, seine Gefühle, seine Emotionen nach außen kehrt, sie mit jedem teilen muss. Das heißt jedoch nicht, dass ich nichts fühlen kann, ein Felsblock bin, an dem alles abprallt, mir meine Umwelt, meine Mitmenschen egal sind. Ich muss meine Gefühlsregungen, meine Empfindungen, sei es positiv oder negativ, einfach nur nicht mit der ganzen Welt teilen, sie gehören ganz alleine mir, sie gehen niemanden etwas an. Jedoch bin ich auch nur ein junger Mann, der in seinem kurzen Leben schon so viel Scheiße erleben musste, schon so oft gebrochen war, am Boden war. Dank meines ausgeprägten Kampfgeistes bin ich immer wieder aufgestanden, habe mich nie unterkriegen lassen, habe jedes Mal aufs Neue alles in mich hineingefressen, es mit mir selbst ausgemacht, mich zum Durchhalten aufgefordert. Obgleich ich mich einfach nur nach einem Ort, einer Person gesehnt habe, bei der ich sein kann, wie ich wirklich bin, meinen Emotionen freien Lauf lassen kann, nicht den durchgehend starken und unerschrockenen Draufgänger mimen muss. Die mich einfach akzeptiert, mit allen Ecken und Kanten. Eine Frau, die hinter die Fassade, hinter meine mühevoll errichtete Steinmauer blickt, sie vielleicht sogar zum Bröckeln bringt, zum Einstürzen, die sich bis zu meinem blutenden Herz vorkämpft, es mit ihrer Hingabe flickt, mich vollkommen macht. Und ohne jegliche Zweifel, diese Frau ist Martha. Sie hat mich von unserer ersten Begegnung an in ihren ganz eigenen, fast übersinnlichen Bann gezogen, mich mit ihren einnehmenden, strahlend blauen Augen, ihrer unvergleichbaren offenen, unerschrockenen und kampflustigen Art, ihrem unwiderstehlichen Charme gefesselt und bis heute nicht frei gelassen. Martha ist genau die Frau, die ich brauche, die mich ganz und gar mit Glück erfüllt, sie ist eine Herausforderung. Sie bietet mir die Stirn, gibt sich mir nicht kampflos hin, lässt sich von mir nichts gefallen, wir begegnen uns auf Augenhöhe, schwimmen auf der gleichen Wellenlänge. Martha lässt mich etwas spüren, was ich in meinem bisherigen Leben nur bei ihr gefühlt habe: Liebe, grenzenlose, überwältigende, pure Liebe. In ihren zierlichen aber doch so starken Armen fühle ich mich unglaublich wohl, so behütet. Ich habe das Gefühl, dass ich mich in ihre festen Umarmungen flüchten kann, mich vor dem Rest der Welt verstecken kann. Sie ist mein Ruhepol, meine Energiequelle, mein Kraftspender. Die letzten Jahre waren für mich der Horror, ich habe sie so schrecklich vermisst, habe es nicht geschafft über sie hinweg zu kommen, konnte mir nichts schöneres vorstellen, als sie endlich wieder zu sehen, zu spüren, zu berühren, zu küssen. Ich habe von Anfang an gewusst, sie ist meine Frau fürs Leben, meine Traumfrau. Ohne Martha konnte ich mir mein Leben einfach nicht vorstellen, sie gehört doch einfach zu mir. Diese Sache mit Rebecca hat mir komplett den Boden unter den Füßen weggezogen. Meine immer lebensfrohe und quirlige Martha so traurig, so entkräftet, vollkommen am Ende zu sehen, hat mein Herz in abertausend klitzekleine Stücke zerspringen lassen. Und das Schlimmste daran war, ich war daran schuld, wegen mir, mir ganz alleine, musste sie durch dieses abscheuliche Tränental schreiten. Es war für mich unerträglich ihr dabei zu sehen zu müssen, ihr nicht helfen zu können, ihr nicht die Last von den schmalen Schultern nehmen zu können, sie nicht einfach in meine starken Arme zu nehmen, sie vor diesem entsetzlichen Schmerz schützen zu können. Nach meiner Entschuldigung, meiner Erklärung zum Thema Rebecca, die mir alles andere als leichtgefallen ist, und den darauffolgenden Tagen, ist es ihr immer besser gegangen, ihre gewohnte Heiterkeit, die Freude und der Spaß am Leben, einfach die alte Martha, die ich so unfassbar liebe, ist Stück für Stück wieder zurück gekehrt. Sie ist halt einfach eine Kämpfernatur, die sich nicht so leicht unterkriegen lässt, die immer wieder aufsteht. Der gestrige Tag war eine gewaltige Tortur für mich und gleichzeitig war er auch so unglaublich schön, dank der hübschen Blondine, die mir mein Gehirn vollkommen vernebelt hat. Ihr so nahe zu sein, sie mit all meinen Sinnen wahrzunehmen, ihr betörender Duft, ihre weiche, warme Haut hat mir jegliche Kraft gekostet, um nicht sofort über sie herzufallen. Und dieses Spielchen, an dem wir augenscheinlich beide Gefallen gefunden haben, hat die ganze Situation nicht wirklich vereinfacht. Es hat so viel Spaß gemacht, sie zu verunsichern, sie aus dem Konzept zu bringen, sie kirre zu machen. Leider habe ich dabei nicht bedacht, mit wem ich dieses Flirt-Spiel anfange, auch wenn ich sie ziemlich durcheinanderbringen konnte, hätte mir bewusst sein sollen, dass Martha nicht minder stark zurückschlägt. Und scheiße hat dieses bildhübsche Wesen eine Wirkung auf mich und meinen Körper. Sie muss mir nur ein bisschen näherkommen, nur eine flüchtige Berührung und meine Hormone spielen verrückt. In diesen Momenten gehöre ich ganz ihr, sie hat mich in der Hand, hat die Kontrolle über mich und meinen Körper, der nur noch auf sie gepolt ist. Wenn ich an ihre Stimme ganz nah an meinem Ohr, ihren angenehmen Atem an meinem Hals denke, überkommt mich wieder eine heftige Gänsehaut, überzieht meinen ganzen Körper. Während des Tages ist die Spannung zwischen uns immer größer geworden, sie ist ins Unermessliche gestiegen, wir haben es mit unseren Spielchen bis ins Unerträgliche getrieben und schlussendlich ging es nicht anders, es musste in diesen gigantischen Küssen gipfeln. Der Erste war so sanft und unschuldig. Ich habe mich noch nie so akzeptiert, so geliebt gefühlt. Der Kuss war voller Liebe, echter Liebe, besser konnten keine Worte auf dieser Welt unsere intensiven Gefühle, unsere durchdringenden Empfindungen beschreiben. Die darauffolgenden Küsse wurden mit der Zeit immer leidenschaftlicher, hitziger, feuriger. Wir wurden von einer unbändigen Lust angetrieben, die uns immer weiter gehen ließ. Wir haben beide die Kontrolle über uns und die Situation verloren, wir wurden nur noch von unserem unzügelbaren Verlangen geleitet. Am Lagerfeuer war die Stimmung zwischen uns wieder eine komplett andere, sie war nicht mehr von Begierde bestimmt, sondern von etwas anderem: tiefer Zuneigung. Sie in meinem Arm zu halten, ihr sanft über den Rücken zu streicheln hat sich so vertraut angefühlt, so richtig. Wie gerne würde ich jetzt in ihr Zelt gehen, mich an ihren schmalen Rücken kuscheln, sie ganz nah an meinen Körper ziehen. Aber das geht nicht, noch nicht. Stattdessen kuschele ich mich in meinen wärmenden Schlafsack, langsam wird nämlich auch mir kalt, und schließe meine Augen Dank des regelmäßigen Prasseln des Regens bin ich in wenigen Sekunden eingeschlafen. Meine Träume drehen sich natürlich nur um eine Person, um Martha. Diese Frau hat mir wahrhaftig den Kopf verdreht.

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