Kapitel 25

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Ich bin die letzte die noch am gedeckten Frühstückstisch sitzt. Die anderen sind schon zurück zu ihren Zelten gegangen. Leider habe ich keine Ahnung, was heute auf ihrem Tagesplan steht. Die einzige Information, die in meinem vollgestopften Kopf noch Platz gefunden hat ist die, dass ich den ganzen Tag eine bescheuerte Fahrradtour machen muss. Ich hasse Fahrradfahren. Dafür liebe ich Till. Und das macht die ganze Sache nicht wirklich angenehmer. Ich überlebe doch nicht mal eine halbe Minute in seiner Nähe ohne, dass ich die Kontrolle über mich selbst verliere. Seine einnehmende Präsenz, seine wohltuende Wärme, sein unverwechselbarer Duft machen mich ganz schwach. Ich habe einfach keine Chance mehr, mich gegen diese starke Anziehungskraft, die zwischen uns beiden, den so verschieden geladenen Dipolen herrscht, zu wehren. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, gehöre ich schon längst ihm, zumindest mein verräterischer Körper. Nur eine flüchtige Berührung und meine Haut steht in Flammen. Nur ein kurzer Blick in seine fesselnden Augen und ich bin in ihnen gefangen. Nur ein leichtes Lächeln auf seinem makellosen Gesicht lässt mein Herz höherschlagen. Ich bin diesen extrem intensiven Empfindungen schutzlos ausgeliefert, ich bin Till schutzlos ausgeliefert. Jedoch versucht mein Kopf noch dagegen anzukämpfen. Er will nicht einsehen, dass ich die Schlacht gegen seine unbeschreiblich starke Wirkung auf mich schon längst verloren habe. Die hartnäckigen Zweifel haben sich in meinen Gehirngängen festgesetzt, verhindern, dass ich mich ihm ganz hingebe. Sie beißen sich fest, lassen mich nicht los, zermürben mich innerlich, stoßen mich in einen innerlichen Konflikt, der aussichtlos erscheint. Ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann Die Sache mit Rebecca hat einen gewaltigen Schnitt in das dünne Seil, das Vertrauen, die Zuneigung, die sich zwischen Till und mir gebildet hat, gerissen. Neles Worte haben sich wie eine eiskalte metallische Schere angefühlt, die genau an der Schnittstelle angesetzt hat und mit nur einer Bewegung ein Loch in das Seil geschnitten hat. Eine sanft streichende Berührung auf meinem linken Schulterblatt holt mich aus meinen immer finsterer werdenden Gedanken. Meine beste Freundin hat sich auf den neben mir stehenden Stuhl gesetzt. Ich neige meinen Kopf leicht in ihre Richtung, bevor ich meinen Blick ruckartig wieder von ihr abwende. Ich habe Angst, dass sie meine Verzweiflung, meine Zerrissenheit in meinen glasig leeren Augen sehen kann. Ich will ihr nicht zeigen, was sie mit ihren Worten in mir angerichtet hat. Sie haben mein Herz in tausend Stücke zerbrochen, mich wieder zurück in die trostlose Wirklichkeit geholt. Jedoch ist da immer noch dieser kleine, immer schwächer werdende Schimmer Hoffnung. Auch wenn er nur noch minimal flackert, er brennt und das lässt mich immer noch an einen positiven Ausgang, an eine Beziehung zwischen Till und mir glauben. Ich bin sowas von naiv. Ich werde daran zerbrechen, mich eigenhändig in den tiefschwarzen Abgrund stoßen. Neles Arme schlingen sich um meinen Oberkörper und ziehen mich in eine feste Umarmung. Das tut gerade so unglaublich gut, das ist genau das, was ich jetzt brauche, Nähe zu meiner wichtigsten Bezugsperson. „Martha, ich muss dir was sagen. In irgendeiner Weise muss ich mich bei dir entschuldigen." Ich hebe meinen Kopf um sie ansehen zu können, schaue direkt in ihre aufrichtig funkelnden Augen, sage aber nichts. „Es tut mir leid, dass ich dich in so ein Gefühlschaos gestürzt habe. Du warst in den letzten Tagen wieder so gut drauf, deine Lebensfreude ist zurückgekehrt, hat dich wieder strahlen lassen. Die alte Martha war auf dem besten Weg, zurück aus ihrem Versteck zu kriechen. Und dann komm ich mit meinen unüberlegten Worten. Du musst mir glauben, es gibt nichts Schlimmeres für mich, als meine beste Freundin am Boden zerstört zu sehen. Ich wollte dich nur vor Till schützen, bin dabei aber zu weit gegangen. Ich habe dich wieder zweifeln lassen, habe dich wieder in den Sog der Traurigkeit geschubst, habe dir die Hoffnung auf deine große Liebe genommen. Martha, ich weiß, wie viel dir dieser Typ bedeutet, wie sehr du ihn liebst. Seit über 5 Jahren gibt es für dich nur diesen einen Mann. Er bedeutet dir wirklich alles. Ich wusste, wenn er dir noch einmal weh tut, wirst du daran zerbrechen. Davor musste ich dich schützen, das ist meine Aufgabe als gute Freundin. Deswegen habe ich dir diesen Vortrag gehalten, den ich jetzt mehr als alles andere bereue. Ich hätte mich nicht zwischen euch stellen sollen, ihr wart auf einem so guten Weg glücklich zu werden. Und dann komme ich und mache wieder alles kaputt. Was bin ich denn bitte für eine miserable Freundin? Martha, bitte tue mir den Gefallen, vergesse alles, was ich zu dir über Till gesagt habe. Ich bin in meinem Leben noch nie so falsch gelegen, als mit meiner Einschätzung über Till." Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich Nele einfach nur ruhig zugehört, jetzt schrecke ich auf und schaue sie fragend an. Die Fragezeichen scheinen sich auf meinem Gesicht widerzuspiegeln, denn Nele führt ihren Monolog ohne ein Wort meinerseits weiter: „Auch wenn du jetzt gerne wissen würdest, was mich zu dieser krassen Meinungsänderung getrieben hat. Ich werde es dir nicht verraten. Ich habe mir geschworen, mich nicht mehr einzumischen, und daran halte ich mich auch. Nur noch ein letzter Tipp, rede mit Till. Ich werde immer hinter dir stehen und jetzt stehe ich auch hinter einer Tillartha-Beziehung!" Ich bin komplett verwirrt, ich kann nichts sagen, mich nicht bewegen, meine Umwelt verschwimmt, bis alles unter einem dichten Nebel verschwunden ist. Dafür spüre ich umso intensiver, wie in mir die kleinen Fünkchen Hoffnung anfangen Feuer zu fangen, sie brennen. Sie haben so eine Kraft, dass die feuerroten Flammen es schaffen mich von innen nach außen zu erwärmen. Mein Herz füllt sich mit postviven Empfindungen, mit Optimismus. Der Glaube an eine Zukunft mit Till an meiner Seite wächst wieder. Nele steht hinter uns, obwohl sie mir Till gestern noch ausreden wollte Irgendetwas muss zwischen den beiden vorgefallen sein. Ich kenne aber meine Nele, ich weiß, dass sie mir nichts erzählen wird, wenn sie es sich in ihren Dickkopf gesetzt hat. Manchmal kann sie sogar sturer sein als ich. „Nele du machst mich echt fertig. Du verrätst mir wirklich nicht was passiert ist?", versuche ich trotzdem mein Glück Neles Gesicht verzieht sich zu einem scheuen Lächeln, „Nein, das musst du selber herausfinden. Meine Lippen sind verschlossen." Ich stöhne genervt auf und versinke sofort wieder in meine Gedanken. Die diesmal jedoch nicht mehr so trüb waren, ich male mir aus, was zwischen Nele und dem Mann meines Lebens geschehen ist. Ganz langsam breitet sich die Hitze des Hoffnungsfeuers bis in die letzte Pore meines Körpers aus. „Ach und noch ne gute Nachricht für dich. Wir machen heute keine Radtour, es ist viel zu heiß. Wir haben uns dazu entschieden, an den Strand zu gehen, einfach ein bisschen chillen. Dafür gehen wir morgen Fahrradfahren." Das Grinsen, das seit Neles Worten auf meinem Gesicht ist, wird immer breiter. Juhu, kein dummes rumstrampeln. Vielleicht wird der Tag heute doch ganz schön. Kurz darauf brechen wir auch schon Richtung Meer auf. Die Sonne scheint kräftiger denn je auf unsere Haut. Die einen leicht gebräunt, die anderen ziert ein Sonnenbrand. Doch die Stimmung unter uns ist so gut, wie schon lange nicht mehr. Alle Probleme scheinen vergessen, sobald das türkisblaue Meer hinter den Dünen zu sehen ist. Kristallklares Wasser, weicher Sand, massive Felsen. Unser Strand wirkt wie aus einem Bilderbuch. Jedes Mal sind wir alle erneut völlig sprachlos, die Begeisterung und Vorfreude auf das kühle Nass ist uns allen ins Gesicht geschrieben. Meine Schritte werden länger, schneller nähere ich mich dem Ufer und grinse. Ziehe mir mein Kleid über den Kopf und befreie meine Füße aus den engen Schuhen. Im nächsten Moment schon drehe ich mich um, sehe Sibel, die gerade ihr Handtuch ausbreitet, werfe ihr meine Kleider und die Tasche zu und versinke Stück für Stück im Salzwasser. Lange bleibe ich nicht alleine, da läuft Nele schon auf mich zu, dicht gefolgt von Viktor, Hermann und Jona. Ich lasse mich von den starken Wellen treiben, schließe die Augen. Auf dem Rücken schwimmend halte ich mein mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht in die Sonne, rudere sanft mit den Armen, um nicht unter zu gehen. Im nächsten Moment werde ich allerdings trotzdem tief unter Wasser gezogen, eine größere Welle hat mich erfasst und mich darunter vergraben. Erschrocken und nach Luft ringend erreicht mein Kopf wieder die Wasseroberfläche. Ich höre Lachen aus der Ferne. Tills Lachen, eindeutig. Gemischt mit dem meiner anderen Freunde. Ich reibe mir das Wasser aus den Augen, blicke in die Runde. Sie lachen mich tatsächlich aus. Alle zwölf Ex-Einsteiner haben sich um mich versammelt, glückliches Gelächter aus ihren Mündern. Und auch ich stimme mit ein, sodass die zwei älteren Damen etwas entfernt schief in unsere Richtung blicken. Ich bin glücklich. Mehr als das. Die Sonne, das Meer und meine Freunde haben alle meine Sorgen und Zweifel in den Hintergrund gedrängt, lassen mich schwerelos wirken, völlig frei. Das Gespräch mit Nele vorhin tat gut. Ich habe mir ihre Worte so zu Herzen genommen, ihr vertraut und damit Till misstraut. Aber jetzt, da meine beste Freundin wieder in so hohen Tönen von dem Sportler redet, hat sich meine Sicht auf die Dinge erneut geändert. Chancen geben ist wichtig und wertvoll. Und er hat definitiv noch eine verdient, so schnell kann ich das mit uns nicht aufgeben. Diese Freundschaft, diese Verbindung und hoffentlich noch so viel mehr. Wir genießen noch einige Zeit das klare Meer und die Sonne, bis dessen Kraft leicht nachlässt und uns das Salz am Körper klebt. Erschöpft von unendlichen Wasserschlachten und Volleyballspielen am Strand machen wir uns auf den Weg zurück, ein friedlicher und zufriedener Ausdruck auf jedem Gesicht. Unsere Ziele spalten sich am Ende des kleinen Waldstücks. Viele verschwinden in den Zelten oder unter der Dusche, einige sitzen gemeinsam am großen Tisch. Ich gehe in die Küche und hole mir ein Glas mit frischem Orangensaft, lehne mich dann an die weiße Mauer. Glücklich. Sorgenfrei. Tiefenentspannt. Es tut gut, positive Gedanken im Kopf zu haben, nicht die ganze Zeit über die negativen Dinge zu grübeln.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt