Meine Augen fallen zu, als ich seinen gleichmäßigen Atem auf meiner Haut spüre. Sein Duft umgibt mich, fesselt mich, lässt mich eintauchen. Ganz tief. In eine andere Welt. Eine Berührung, seine Hand an meiner, lässt uns eine ganz eigene Dimension erschaffen. Eine, in der es nur uns gibt. Dich und mich. Ich falle, falle immer tiefer. Für ihn, für uns. Und ich...erschrecke fürchterlich, als ein lautes Hupen uns beide auseinander reist, die Blase, die wir beide gebildet haben, einfach platzen lässt. Uns zurück auf den Boden der Tatsachen bringt. Und zwar, dass wir uns gerade mitten auf dem großen Parkplatz befinden, direkt vor der massiven Motorhaube eines Jeeps. Der Mann hinter dem Steuer starrt uns ungeduldig an, versucht uns mit verwirrender Gestik von dem Parkplatz zu verscheuchen. Die große Lücke, die zwischen Till und mir entstanden war, ist nun gefüllt mit unglaublicher Energie und Spannung. Da war eine gigantische Anziehung, eine Anziehung zwischen zwei Personen, zwei Dipolen. Er wollte mich doch auch küssen, oder? Wir waren uns so nahe, ich habe mich so unglaublich verbunden zu ihm gefühlt. Unmöglich, dass ich all diese Gefühle nur einseitig gespürt habe. Er muss es bemerkt haben, dieses besondere Etwas zwischen uns. „Wir...wir sollten dann denk ich mal los zur Surfschule", bringt Till leicht stotternd hervor. Ich nicke nur abwesend, noch nicht bereit oder fähig dazu, vollkommen in die Realität zurückzukehren. In die Realität, in der wir beide einfach nur Freunde sind. Angekommen, an der kleinen Strandhütte mit dem anschließenden Kiosk, begrüßt uns sofort ein junger Mann, kaum älter als wir beide. „Ahh, ihr seid meine zwei Surfschüler heute!" Freudig lächelnd und mit starkem französischen Akzent in der Stimme, zieht er uns in die Hütte. „Ich bin Pierre und hier haben wir unsere ganze Ausrüstung", er zeigt auf einen Stapel Neoprenanzüge, dann an eine Wand, an der sicher vierzig Surfbretter nebeneinander lehnen, „Nehmt euch bitte alles in eurer Größe mit, mein Kollege Jaques hilft euch gerne dabei." Und genau dieser hält uns jetzt auch nacheinander alle Bretter vor die Nase, meint bei einigen „trop petit", bevor er sie wieder an ihren ursprünglichen Platz legt, bis er dann schließlich jeweils ein Brett an unsere Körper lehnt. Pierre führt uns zurück an den Strand und erklärt uns, dass wir nun erst mit Trockenübungen im Sand starten. Die Stimmung zwischen Till und mir ist nach unserem Fast-Kuss noch immer etwas beklemmend, wir haben kein Wort mehr gewechselt und achten beide in jeder Sekunde auf ausreichend Abstand. Weswegen ich auch meinen Platz einige Meter rechts von ihm einnehme. Pierre stellt sich vor uns mit dem Rücken zum Meer und beginnt uns die richtige Körperhaltung und Technik zu vermitteln. Als Till dann aber das Gelernte nochmal vorzeigen soll und sich nicht gerade geschickt anstellt, kann ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Er verrenkt seinen Körper total seltsam, dazu sein hochkonzentrierter Gesichtsausdruck. Er dreht sich zu mir, wirft mir einen genervten Blick zu, muss dann aber selbst lachen. Die Anspannung zwischen uns, löst sich damit etwas, ein Lächeln huscht mir auf die Lippen. Nach einigen weiteren Versuchen auch meinerseits und unendlich vielen Tipps von Pierre, machen wir uns auf den Weg ins Wasser. „Na dann wollen wir mal sehen, wer's draufhat", kommt nur zwinkernd von Till. Ich bin mehr als froh, dass die Stimmung wieder so gelassen wirkt und wir gemeinsam lachen können, den Kuss und all die zweifelnden Gedanken ruhen zu lassen. Zumindest für diesen Tag. Pierre zeigt uns einmal seine Künste und ich wäre mehr als froh, wenn ich das am Ende des Tages auch nur halb so gut machen würde, wie er. Voller Motivation probieren wir uns an dem neuen Sport, anfangs äußerst holprig. Beide fallen wir schon zurück ins Wasser bevor auch nur beide unserer Füße das große Brett berühren. Das Meer glänzt von den Strahlen der Sonne, über uns kreisen Möwen. Man hört unser Lachen, das sich mit dem Rauschen der starken Wellen vermischt. Das Wasser in Tills Haaren hinterlässt leichte Salzkrusten am Rand seiner Stirn. Die Lachfältchen an beiden Seiten seines Mundes und um seine Augen zeichnen sich durch den Einfallswinkel der Sonne besonders stark ab. Die Wassertropfen auf seinen Armen reflektieren das Licht und lassen meinen Blick immer wieder darauf fallen. Seine Muskeln sind viel besser erkennbar bei der sportlichen Aktivität und er scheint einfach nur glücklich zu sein. Federleicht. Oder sogar schwerelos. Befreit von allen Sorgen, Gedanken, Zweifeln. Pierre betrachtet uns ausgiebig aus der Ferne und ruft uns hin und wieder Tipps zu. Und tatsächlich, nach einigen Stunden schaffen wir es beide uns immerhin eine Welle lang auf dem wackligen Brett zu halten. „Hey, das war gerade mein neuer Highscore, hast du's gesehen Martha?", fragt er mich. „Uhh, willst du mir damit jetzt imponieren oder was? Ich bin sowieso viel besser als du!" Ich strecke ihm die Zunge raus, lache laut und schwinge mich wieder aufs Brett, reite über die erste Welle. Und falle ins Wasser. Nach Luft schnappend, gelange ich wieder an die Oberfläche und Till lacht mich aus. „Ja, wirklich beeindruckend, dein Talent", meint er nur mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Körperspannung, fester Stand!", ruft die Stimme mit französischem Akzent aus dem Hintergrund. „Hey Till ich kann nicht mehr, ich mach kurz ne Pause." Ich drehe mich Richtung Strand und schwimme zurück an Pierre vorbei. Dieser nickt mir kurz zu. „Bin ja kein Profisportler so wie du!", rufe ich zu Till, der gerade sein Surfbrett zu sich zieht. Der Sand berührt meine nassen Füße, bleibt daran kleben. Ich breite mein Handtuch auf dem angewärmten Standboden aus und setze mich hin. Ein Blick in Tills Richtung und ich muss schmunzeln, er fällt gerade wild mit den Armen wedelnd ins Wasser. Ich ziehe meine Wasserflasche aus dem mitgebrachten Rucksack und nehme einige große Schlücke daraus. Bis ich ein Klingeln aus der Tasche neben mir höre. „Till, dein Handy...", will ich ihm gerade zurufen, als ich sehe, dass er viel zu weit entfernt ist und mich nicht hören kann. Ich lasse das Handy einfach weiterklingeln und ziehe die Dose mit den Wassermelonenstücken hervor, die ich von der Mittagspause noch übrig hatte. Das Handy verstummt kurz, beginnt allerdings keine fünf Sekunden später, die gleiche Melodie von vorne zu spielen. Ich überlege kurz, denke dann aber, dass wir uns momentan definitiv genug gut verstehen, um im Notfall auch mal ans Handy des anderen gehen zu können. Und das hier erscheint mir gerade ein Notfall zu sein. Ich öffne die Tasche, hole das Smartphone heraus und lege es mir ohne auf den Kontaktnamen zu achten ans linke Ohr. „Oh hey Till, mein Hase!", vernehme ich die hohe Stimme am anderen Ende der Leitung. Wie bitte? Till? Ein Hase? Komische Wortwahl hat die Ziege auf jeden Fall, denke ich mir schnell, bevor ich ihr antworte. „Ähh...dein Hase hoppelt gerade übers Meer." Ohne weiterreden zu können, plappert sich schon wieder: „Wer bist du denn?" „Viel interessanter ist doch wer du bist.", kontere ich. In weiter Entfernung erkenne ich Till und unseren Surflehrer, die beide herzlich lachen. Ich grinse in ihre Richtung und schiebe mir noch ein kleines Stück Wassermelone in den Mund. „Ich bin Rebecca, Tills Freundin." Und mein Grinsen vergeht mir schneller, als mir lieb ist. Ich nehme das Handy langsam vom Ohr und lege, ohne ein weiteres Wort zu sagen, auf. Till hat eine Freundin? Wieso weiß ich davon nichts? In mir zieht sich alles zusammen. Mir wird schlecht. Ich fühle mich absolut leer. Als hätte mich diese komische Tante durch das Handy einfach ausgesaugt. Und all die Sorgen und Zweifel, an die ich den ganzen wunderschönen Tag mit Till nicht denken musste, sind zurück. Legen sich tonnenschwer auf meine Schultern, ziehen mich tiefer in den Sand, weiter in den Abgrund.
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5_Jahre_danach
FanfictionEin Wiedersehen nach über 5 Jahren. Zwei Menschen, deren Anziehungskraft immer noch so stark ist, wie die zweier Dipole. Eine leidenschaftliche Liebe, die die beiden immer wieder zueinander führt. Zwei Leben, die sich so lange Zeit nicht berührten...