Kapitel 36

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Tills Sicht:

Viktor legt die Hand auf meine Schulter. „Kommst du? Die anderen sind schon alle zu Moritz, Hermann und Pits Zelt gegangen." Völlig aus meinen Gedanken gerissen, betrachte ich die leeren Stühle um mich. „Äh was? Wieso?" „Wegen dem Film, den wir sehen wollten? Man Till, das haben wir doch gerade eben ausgemacht" Ein leises Lachen entflieht seinem Mund. Auch ich erhebe mich von dem Stuhl, werfe einen Blick in den Himmel. Immer noch düster. Die blaue Plane über uns wölbt sich stark nach innen, die Seile an den Stangen spannen immer mehr. Wasser sammelt sich in der Mitte, beschwert unser improvisiertes Dach drastisch. Mein Freund drückt mit einem Stock dagegen, sodass das Wasser an den Seiten nur so hinunterprasselt und uns anspritzt. Skeptisch sehe ich zu ihm. Ohne eine Reaktion startet er nun einen Sprint zu besagtem Zelt. Ich schüttle den Kopf, folge ihm dann und überhole ihn auf halber Strecke, zwinkere ihm zu. Uns steht nur Pits Laptop zur Verfügung, alle drängen sich eng aneinander, um etwas sehen zu können. Rosa quetscht mich von hinten noch fester in die Ecke des Zelts, weg von den warmen Decken, meine nackten Füße nun auf dem kalten Boden. Die Sicht hier ist wenigstens gut, denke ich und stütze meinen Kopf auf den Händen ab. Überraschenderweise drängt sich ausgerechnet Martha an meine rechte Seite, drückt sich nah an mich. Ihre Anwesenheit erhitzt meinen Körper, lässt mich rot werden. Schüchtern sehe ich auf den Boden zu meinen Füßen. „Welchen Film schauen wir denn jetzt? Aber keine Romantikschnulze, oder?", stelle ich die Frage, warte auf eine Antwort. Diese kommt von rechts. Marthas ruhige und sanfte Stimme erfüllt mein Ohr: „Keine Ahnung, ein alter Actionfilm aus den 90ern." Vorsichtig sieht sie zu mir, lächelt schüchtern. Unbemerkt rutsche ich etwas näher an ihre Seite, berühre jetzt nicht nur mit meinem Arm den ihren, sondern auch unsere Knie drücken jetzt aneinander. Die wohltuende Wärme wird stärker. Jetzt bin ich mehr als froh, dass mich zumindest der kalte Untergrund kühlt, mir etwas hilft einen kühlen Kopf zu bewahren Wieder spüre ich einen ihrer intensiven Blicke auf mir. Wären nun nicht elf andere Menschen um uns hätte ich nicht widerstehen können, sie nochmal zu küssen. Ihre dunkleren Augen sind mit Lust gefüllt, sehen mich tief an. Zum ersten Mal heute lang und mit so unendlich viel Gefühl, dass ich mich nicht mehr still halten kann. Ich stütze meine Arme hinter mir ab, den rechten etwas stärker geneigt, damit ich so ihren Arm berühren kann. Ich betrachte meinen inneren Oberarm, wie er sich ganz sanft an ihren Ellenbogen anschmiegt. Auf ihrer zarten Haut entsteht eine Gänsehaut, so stark, wie ich sie bei ihr noch nie gesehen habe. Wahnsinn, mit ihr ist wirklich jeder Tag anders. Gestern Vormittag haben wir noch neckisch miteinander geflirtet und jetzt sitzen wir hier wie zwei Kinder, die ihre ersten romantischen Erfahrungen sammeln. Und trotzdem fühlt sich keines von beidem in irgendeiner Weise seltsam an. Es sind wir. Ehrlich und transparent. Verhalten uns immer so, wie wir uns gerade fühlen, aufrichtig und spontan. Die Intromelodie des Filmproduzenten dröhnt aus den kleinen Boxen, die wir mit dem Laptop verbunden haben. Unsere ganze Gruppe singt lautstark mit, wirbelt mit den Händen in der Luft. Wieder einmal bin ich begeistert davon, wie gut wir uns alle noch immer verstehen. Die meisten von uns hatten fünf Jahre kein einziges Wort gewechselt, doch kaum sind wir wieder aufeinandergetroffen, war die alte Chemie zurück. Harmonisch und besonders. Einzigartig. Das Lächeln in meinem Gesicht wird breiter. Ich lehne mich über Marthas Beine, die sie in einem Schneidersitz ineinander verknotet hat und greife zu den Snacks, nehme eine Hand voll. Die Hälfte erreicht meinen Mund, die andere verschwindet von meiner Handfläche. Das blonde Mädchen neben mir stopft sich gerade die letzten zwei gesalzenen Erdnüsse in den Mund, kaut und streckt mir dann die Zunge raus. „Der Kampfhund also", meine ich zu ihr. „Du musst sowieso in Form bleiben", lacht sie und widmet sich dem Film. Mein Blick bleibt an ihr hängen. Ich betrachte sie, ihre schimmernden Haare, die Stupsnase und die vollen Lippen. Meine beginnen zu kribbeln als ich ihre näher betrachte, jeden noch so kleinen Riss, jede winzige Unebenheit wahrnehme. Martha bemerkt meinen Blick, sieht zu mir und grinst mich an. Strahlende Augen, geziert von sachten Lachfältchen am äußeren Rand, tiefes Blau in der Mitte, worin ich mich verliere. Ein Schrei aus den Boxen holt uns aus der Starre, zum ersten Mal sehe ich wirklich konzentriert auf den kleinen Bildschirm. Und komischerweise fesselt mich der Film sogar, er ist gut, trifft meinen Geschmack total. Gebannt betrachte ich das Geschehen der Figuren. Selbst einige Filme später, als der Regen leicht nachlässt und der Himmel noch dunkler wird, bin ich begeistert dabei, drei Leuten bei einem Uhrendiebstahl zuzusehen. Martha ist währenddessen noch näher gekommen, ihre kurzen zerstrubbelten Haare kitzeln mich an der Wange. Sie sorgt regelmäßig für neue Snacks, die sie dann auf ihrem Knie platziert und mich darauf hinweist, dass ich mich gerne bedienen darf. Gerade streicht sie sich ihren Pulli glatt, verteilt damit ihren betörenden Duft im engen Zelt. Ich nehme ihn in mir auf, verspreche mir selbst, mich auch noch nach vielen Jahren an diesen Geruch zu erinnern. Marthas ganz eigenen Duft. Und trotzdem wird mir die Luft allmählich zu stickig, zu warm. Ich räuspere mich, ziehe damit die Aufmerksamkeit von einigen anderen auf mich. Jona und Hermann haben anscheinend schon früher das Kinozelt verlassen, ihr Platz ist leer. Auch ich entscheide mich dazu, frische Luft zu schnappen, stehe auf und wuschle dabei noch selbstsicher durch Marthas Haare. Sie grinst mich nur kurz an, sieht dann wieder zum Laptop. Draußen angekommen, bleibe ich zunächst neben dem Zelt stehen, genieße die kühle Abendstimmung. Der Regen tropft nur noch leicht vom Himmel, der Wind hat nachgelassen. Ich gehe einige Schritte. Zum nächsten Zelt, dann noch eins weiter, stehe vor Leni und Cäcilias Schlafplatz. Ich strecke die Hände in die Luft, dehne mich nach stundenlangem Sitzen auf hartem Boden. Bis ich dumpfe Stimmen vernehme. Ich bilde mir ein, sie Jona und Hermann zuordnen zu können, weswegen ich einen Schritt um das Zelt mache, den Geräuschen folgend. „Jona, ich weiß dass du dir unsicher bist. Ich verstehe das. Natürlich ist es seltsam für dich allen zu sagen, dass du wieder jemanden an deiner Seite hast Vor allem Pit, weil er ja wirklich so lange in dich verliebt war", die Stimmen sind so leise, dass ich mir absolut nicht sicher bin, alles richtig zu verstanden zu haben. „Du verstehst gar nichts." Einen Schritt weiter und ich sehe die Umrisse zweier Personen, die Hermann und Jona verdächtig ähnlich sehen. Der Größere von beiden flüstert etwas unverständliches, nähert sich dann der schmalen Person. Ich bilde mir ein, einen Kuss gesehen zu haben. Den Kopf schüttelnd wende ich mich ab. Wenn das wirklich unsere beiden Spaßvögel sind, dann muss ich mich getäuscht haben. Ganz sicher. Leise schleiche ich zurück, näher an den Ort, an dem ein schwaches blaues Licht durch die Plane scheint. Ich schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken und genieße die kühlen Tropfen auf meiner Haut. Das Wasser ist inzwischen in den Boden gesickert, das Gras erreicht wieder die Luft. Ich vernehme Schritte, die neben mir zum Stehen kommen. Dann nichts mehr. Stille. Wäre da nur nicht der bekannte Geruch nach Rosenblättern und frischem Eukalyptus. Mein Kopf dreht sich in ihre Richtung, unsere Blicke treffen sich. Wie so oft heute. Und doch ist es jedes Mal wieder völlig überraschend, welch starke Wirkung sie auf mich hat. Dass sich mit ihrer Anwesenheit sofort meine Stimmung hebt, mein Lächeln breiter wird. „Keine Lust mehr auf Kino?", fragt sie mich, schielt mich von der Seite an. „Mhhh." Stille. Ich genieße die Ruhe zwischen uns. Wirkt so vertraut, entspannt und lieblich. Ihre Hand streift meine, so sanft wie eine Feder. Leicht, schwerelos. Schwerelos mit ihr. Mein Lächeln wird zu einem glücklichen Lachen. „Hm?" Schief grinst sie mich an. „Mit meinen Eltern habe ich das früher oft gemacht. Einfach nur im Regen stehen, Augen schließen und nachdenken. Mein Vater hat immer gesagt, dass man so die Kraft des Universums mit jedem Regentropfen in sich aufnehmen kann und so unglaublich stark wird. Und jedes Mal bin ich bei Regen begeistert vor die Haustür gerannt, habe meine Eltern an die Hand genommen. Wir sind dann immer zu dritt nebeneinander im Regen gestanden. Ich habe wirklich fest daran geglaubt. Ich habe ihm alles geglaubt." Meine Stimme wird leiser, bricht, als ich meinen Vater vor Martha erwähne. „Da hat er noch gelebt." Wieder einige Minuten Stille. „Da gab es noch keinen Stieftrottel Lutz und meine Mutter hat mich noch wahrgenommen." Noch nie habe ich so offen über meinen Vater gesprochen wie jetzt mit Martha. Ich vertraue ihr, sie ist die Person, mit der ich diese Geschichte, diesen Abschnitt meines Lebens teilen möchte. „Lass uns das machen", flüstert sie dicht an meiner Seite. Im ersten Moment weiß ich nicht, was sie meint. Bis sie meine rechte Hand in ihre linke nimmt, sie fest umschließt, mir Halt gibt. Ich sehe zu ihr. Sie hat die Augen geschlossen, das Gesicht zum Himmel gerichtet. Mein Herz wird schwer. Wenn sie wüsste, wie viel mir das bedeutet, wie wichtig mir das ist. Wie unfassbar intim das für mich ist. Ich lege meinen Kopf wieder zurück, lasse den Regen in mein Gesicht fallen. Für mich war dieses Ritual immer die Bedeutung von „Familie". Was ist es jetzt, in diesem Moment, hier mit Martha?

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt