Das leise Rauschen der Blätter an den hohen Bäumen. Das Lachen der Kinder in der Ferne. Das sanfte Atmen der beiden Frauen neben mir. Das Geräusch eines Autos, das wahrscheinlich gerade den holprigen Weg hinunter zum Campingplatz tuckert. Ich nehme alles so unfassbar deutlich wahr. Seitdem ich von Till dermaßen betrogen wurde, achte ich auf jedes noch so kleine Geräusch, achte darauf, welche Gefühle es in mir weckt. Das Zelt habe ich nun schon viel zu lange nicht mehr verlassen, aber der Gedanke daran, unter freiem Himmel Till zu begegnen, ohne die schützende Wand des Zeltes in meiner Nähe oder der dicke Stoff meines Schlafsacks, der meinen Körper vollständig umhüllt, macht mir Angst. Auf keinen Fall bin ich bereit, ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt hat. Die Sonne muss schon ziemlich lange am Morgenhimmel prangen, die dünne Zeltwand strahlt eine wohlige Wärme in unseren Rückzugsort. Ein Blick auf das Handy neben meiner Tasche, Neles neues Smartphone, verrät mir, dass es bald Mittag ist. Die anderen mussten gestern noch ziemlich lange zusammengesessen sein, ich hörte sie erst gegen fünf Uhr morgens leise in ihre Zelte schleichen. Auch meine Nacht war gezwungenermaßen kurz. Die Gedanken an Till schwirrten in meinem Kopf umher wie eine Horde Glühwürmchen. Unruhig und aufgeregt. Mit blinkenden Körpern, als hätten sie es mir verbieten wollen, auch nur eine Sekunde Schlaf zu bekommen. Ich höre ein Gähnen aus einem der anderen Zelte. Und ich erkenne anschließend genau die Stimme, die mich seit Tagen verfolgt: Tills Stimme. Ich vermisse ihn. Schrecklich. Ihn nicht sehen zu können, nicht riechen, nicht fühlen. Oder ihn nicht sehen zu wollen? Doch so stark bin ich nicht. Er hat mein Herz gebrochen, er hat mich so abschätzig behandelt, wie ich es von ihm niemals erwartet hätte. Ich habe ihm vertraut. Ich habe ihm alles anvertraut. Er nicht, er hat mich gehasst. Aber warum hat er mir das nie persönlich gesagt? Warum hat er mich dann seit unserem Wiedersehen nicht einfach ignoriert? Intuitiv greift meine linke Hand in die schwere, schwarze Tasche. Sie wühlt etwas umher, greift dann zu. Zieht etwas hervor, dass ich schon fast vergessen hätte. Ohne auch nur einmal in die Richtung meiner Tasche geschaut zu haben, erkenne ich das Teil sofort. Der Stoff ist unverkennbar. Unverkennbar weich. Unverkennbar warm. Ich lege das dunkelblaue Kleidungsstück neben meinem Kopf ab, lasse meine Hand vorsichtig darübergleiten. Der Duft umhüllt mich, fesselt mich. Lässt mich federleicht werden, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Die erste Träne verlässt mein Auge, es folgt die zweite. Ich wische sie mir mit dem Ärmel Tills Pullis ab. Dieser Junge bedeutet mir mehr, als ich beschreiben könnte. Er ist so spannungsvoll, mitreißend, selbstbewusst und überraschend. Ja, auch überraschend. Positiv wie negativ. Ich vergrabe mein Gesicht in seinem bekannten Duft. „Lass das." Nele ist anscheinend aufgewacht und zieht mir den Pull aus der Hand. „Hör auf dir noch mehr weh zu tun. Du musst ihn vergessen. Zumindest deine Gefühle für ihn." „Nele hat Recht. Außerdem kannst du dich nicht ewig hier verstecken. Es sind so viele Leute hier, die du so lange nicht gesehen hast, mit denen du dich super verstehst. Willst du die Zeit wirklich im Zelt alleine vergeuden, nur wegen Till?", mischt sich jetzt auch Sibel ein. Ich schüttle den Kopf. Sie haben Recht. Ich muss mich ihm stellen. Wir erleben gerade die coolste Zeit. Ich würde es ewig bereuen. Quälend langsam kleide ich mich an. Anschließend ziehen mich meine Freundinnen an der Hand an den Frühstückstisch. Till würdige ich keines Blickes. „Leute denkt bitte dran. Morgen hat Moritz Geburtstag, wir müssen heute noch einige Dinge besorgen und ein Geschenkt fehlt auch noch!", macht uns Rike aufmerksam. „Perfekt, dass er heute weder mit uns isst, noch später auftauchen wird. Er hat uns gerade noch von einem wichtigen Artikel erzählt, den er noch für sein Journalismusstudium schreiben muss", fügen seine Zeltgenossen Pit und Hermann hinzu. Und mit der Geburtstagsplanung verbringen wir auch den Tag. Und Nele rettet mich, wie auch schon die letzten Tage, vor Till. Sie überzeugt Viktor davon, zu dritt in die Stadt zu fahren und einen Kuchen und Dekoration zu kaufen, währen der Rest, inklusive mir, Milliarden an Fotos in ein riesiges Album klebt. Den ganzen Tag sind wir damit beschäftigt. Kleben und Sprüche schreiben, noch bis in die Abendstunden hinein. Es heitert mich auf, in der Gruppe zu arbeiten, zu wissen, dass Till nicht in der Nähe ist und mich aus der Ruhe bringen könnte. Und etwas glücklicher, als ich heute aufgewacht war, falle ich ins Bett. Aber schlafen kann ich trotzdem nicht. Kaum schließe ich die erschöpften Augen, umrahmt von den dunklen Ringen, sehe ich seine Augen vor mir. Das tiefe Grünblau. Die Farbe des Atlantiks, so tief wie der Ozean. Ich bilde mir ein, seinen Atem auf meiner Haut zu spüren, seine weichen Hände an meiner Wange, in meinen Haaren. Und wieder wälze ich mich von der einen Seite auf die andere. Links, rechts. Links, rechts. So kann das einfach nicht weitergehen, beschließe ich. Ich schäle mich aus dem engen Daunenschlafsack, lasse meine Füße in die Schuhe gleiten, lege mir eine Jacke um die Schultern. Im Schlafanzug bekleidet verlasse ich das Zelt. Blicke in den Himmel. Abertausend Sterne schmücken den dunklen Himmel, glitzern, glänzen auf mich herab. Eine kalte Brise weht mir die kurzen Haare in die Stirn. Ich zittere, schlüpfe in die Ärmel der warmen Strickjacke. Ich gehe mit ruhigen, bedachten Schritten los. Irgendwo hin, ganz ohne Ziel. Entferne mich immer weiter von den fünf Zelten, die in einen Kreis gestellt um das ausgebrannte Lagerfeuer thronen. In jedem einzelnen zwei bis drei meine Freunde, gefangen in ihren Träumen. Der Mond scheint hell auf die große Wiese vor mir. Ein Baumstumpf ist in der Nähe des Waldrandes zu erkennen. Ich nähere mich ihm, setze mich nieder. Vollmond. Ein Rauschen aus der Richtung des Dickichts lässt mich aufhorchen. Der Ruf einer Eule. Die Stille beruhigt mich. Ich, einsam, inmitten der Natur. Ganz alleine, aber dieses Mal freiwillig. Die frische Luft bewegt sanft das satte Gras zu meinen Füßen. Ich schließe meine Augen, atme einmal tief ein und aus. Ein dumpfes Geräusch lässt mich meine Augen wieder öffnen. Schritte nähern sich. Eine dunkle Silhouette kommt immer näher. Breit gebaut und mit festem Schritt. Ich erkenne erst, um wen es sich handelt, als die Person direkt vor mir stehen bleibt, sein kantiges Gesicht vom silbernen Mond angestrahlt wird und ich seinen Duft vernehme. Mein fröstelnder Körper scheint jeglichen kalten Wind vergessen zu haben. Mir wird warm, wohlig warm, mein Herz schlägt schneller und fester, gefangen in meiner Brust. „Kannst du auch nicht schlafen?" Mit leiser Stimme spricht mich Till an. Mehr als ein „Mhhh..." meinerseits bekommt er nicht als Antwort. Ich bin total in Gedanken versunken, in einer Traumwelt, in einer anderen Galaxie. Dort, wo der Himmel unendlich scheint, nicht abgegrenzt durch den Horizont. Dort, wo man die Sterne vom Nachthimmel pflücken kann. Dort, wo man dem Mond seine geheimsten Geheimnisse erzählt. Dort, wo alles friedlich ist. Ruhig, schwerelos und bezaubernd. Mir wird noch wärmer. Vor allem meine linke Seite heizt sich auf, immer stärker und ich blicke zu ihm. Till hat neben mir auf dem modrigen Baumstumpf Platz genommen, sein rechter Arm fest an meinen linken gedrückt. Ich scheine völlig überfordert zu sein. Als wüsste mein Körper inzwischen gar nicht mehr, wie er sich in Tills Nähe verhalten sollte. Ich spüre Geborgenheit, Freude, Liebe. Und im gleichen Moment Enttäuschung, Schmerz und tiefste Traurigkeit. „Es tut mir wirklich leid, was passiert ist. Es ist wirklich nur ein großes Missverständnis. Man Martha, ich wollte doch nie, dass du wegen mir so traurig bist", seine verletzte Stimme erfüllt die ruhige Nacht. „Das hab ich jetzt auch verstanden." Meine Hände beginnen zu zittern. Ich würd ihm so gerne glauben, aber kann ich das? Nele und Sibel haben Recht, ich kann mich nicht weiter von ihm verarschen lassen. Das halte ich nicht aus, das habe ich nicht verdient. Es ist ganz still um uns beide. Keiner sagt etwas, keiner traut sich auch nur eine minimale Bewegung zu machen. Nur unsere sanften Atemzüge höre ich. Anfangs beide total unabhängig voneinander. Meiner langsam, seiner schnell. Bis sich beide anpassen, einen gemeinsamen Rhythmus finden. Till atmet langsam ein, bläst die Luft anschließend in einem festen Stoß durch den Mund wieder in die kalte Nacht. Er legt beide Hände in den Schoß, spielt mit dem Band seines Bademantels, den er trägt. „Ich habe Rebecca vor einigen Wochen bei einer Party kennengelernt. Sie war hübsch und ich hatte zu viel getrunken. Viel zu viel. Wir haben den ganzen Abend getanzt, sie hat mir ihre Nummer gegeben. Wer weiß, was da noch alles passiert wäre, hätte mein Kumpel sich nicht mit dem Barkeeper angelegt. Wir wurden sofort aus dem Club geschmissen und ich hab sie nicht mehr gesehen. Am nächsten Morgen ein totaler Blackout, alles weg. Erst einige Tage später fiel mir dann die neue Nummer in meiner Adressliste auf und die Erinnerung am sie kehrte zurück. Ich war lange nicht mehr richtig verliebt gewesen und ich dachte mir, wenn's mit ihr auch nicht klappt, mit wem denn dann? Sie war wirklich wunderschön, wir haben viel gelacht in der ersten Nacht." Ich sehe in seine Augen, den abschätzigen Blick muss er bemerkt haben. „Jetzt weiß ich es auch besser, dass eine Frau nicht gleich meine große Liebe ist, nur weil ich sie attraktiv finde." Er streicht sich durch die Locken, spielt dann wieder mit seinem Frotteebademantel. „Ich hab sie angerufen, wir haben uns getroffen, viel unternommen. Ich habe wirklich Spaß gehabt mit ihr. Bis zu dem Tag vor dem Abflug hierher. Ich war bei ihr zu Besuch, wir haben gemeinsam gekocht, dann einen Film geschaut. Ich hab schon gar nicht mehr daran gedacht, dass sie mehr als nur einen gute Freundin werden könnte, bis sie mich an dem Tag küssen wollte. Mir war klar geworden, dass ich einfach keine romantischen Gefühle zu ihr aufgebaut habe. Ich fühlte nichts in ihrer Nähe. Ich bin wirklich froh, dass ich sie noch rechtzeitig von mir wegschieben konnte, ich will gar nicht wissen, wie sie sich jetzt sonst verhalten würde. Sie hat mich sofort rausgeschmissen, ich hatte keine Zeit mehr mich zu erklären. Aber Rebecca scheint meine Abfuhr einfach nicht verstanden zu haben! Seitdem ruft sie mich mehrmals täglich an, nervt mich die ganze Zeit. Ich hätte dir das schon noch erzählt, aber immer wenn ich bei dir war, in deiner Nähe, konnte ich sie endlich mal vergessen und ich hab's nicht mehr für wichtig gehalten. Ich konnte ja nicht wissen, dass du das mitgekriegt hast." Gegen Ende hin wird seine Stimme wieder ruhiger, sanfter. Der raue Unterton macht sich stärker bemerkbar. Es gibt mir Hoffnung, dass er sich so viel Mühe macht, sich zu entschuldigen, er mir alles erzählt. Kann ich ihm denn dann völlig egal sein? „Till, ich würde dir echt gerne glauben, aber..." Er unterbricht mich: "Du kannst es nicht?" Er senkt den Kopf, bedrückt und enttäuscht. „Ich weiß nicht ob ich es kann. Ich brauche Zeit." Sanft drehe ich mich zu ihm, sehe, wie er nervös mit seinen Fingern spielt, sich auf die Lippe beißt. „Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Wenn was ist, dann kannst du immer zu mir kommen, ok?" Ich bilde mir ein, einen klitzekleinen Hoffnungsschimmer in seinen klaren grünblauen Augen zu erkennen. „Danke", antworte ich ihm leise, in meiner Brust lodert wieder eine Flamme. Ganz klein, kaum größer als ein Funken und doch gibt sie mir Mut. Vielleicht können wir ja auch dieses Tief überstehen, gemeinsam. Oder zumindest mit ihm in meiner Nähe und ich in seiner. Ich stütze die kalten Hände am Holz unter mir ab, stehe auf. Ich blicke an Tills Kopf vorbei auf die Zelte in der Ferne, ein zartes Lächeln auf meinen Lippen. Er sieht zu mir auf, ich lege meine Hand auf seine rechte Schulter. „Gute Nacht", flüstere ich ihm fast unhörbar zu. Und damit gehe ich mit kleinen, langsamen Schritten zurück zu meinem Schlafplatz. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, betrachte den Sternenhimmel. Der Wunsch, den Streit mit Till hinter mir zu lassen, wird größer. Es wird kein leichter Weg werden, das ist mir bewusst. Aber ich bin bereit, ihn zu gehen. Für ihn. Für uns. Er ist es wert. Die Sterne strahlen auf mich herab, es wirkt fast, als würde der Mond mich anlächeln, mir Mut schenken, mir Kraft geben. Und kurz bevor ich den Kopf wieder senke, sehe ich eine Sternschnuppe. Eine kleine, glühende Sternschnuppe am tiefschwarzen Nachthimmel.
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5_Jahre_danach
FanfictionEin Wiedersehen nach über 5 Jahren. Zwei Menschen, deren Anziehungskraft immer noch so stark ist, wie die zweier Dipole. Eine leidenschaftliche Liebe, die die beiden immer wieder zueinander führt. Zwei Leben, die sich so lange Zeit nicht berührten...