Kapitel 44

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Der letzte Winkel der glühendenSonne verschwindet hinter den spitzen Dächern, als Viktor sich auf dieOberschenkel schlägt, aufsteht und sich das Gras von der Hose klopft. „So, dannlass uns mal losgehen, sonst bekommen wir in keinem Restaurant mehr einenPlatz!" Er hält Nele, die neben ihm saß, die Hand hin, zieht sie auf die Beine.Auch der Rest folgt und gemeinsam sehen wir uns um, drehen uns einmal um dieeigene Achse. Hermann hebt die Hand, zeigt mit dem Finger auf die Dachterrasseeines schmalen Hauses neben uns. Daher ertönt sanfte, ruhige Musik und einigeKellner beugen sich über Tische, bedienen die Gäste. Zwei der vielen Buchsbäumemarkieren die mächtige Eingangspforte, darüber steht in leuchtenden Buchstabenein Name: „Le petit soleil". Wir betreten das alte Haus, gehen den langen Gang entlangund kommen an eine steile, enge Treppe. Ein roter Pfeil an der Wand weist unsden Weg. Jona tritt als erste auf die unterste Stufe. Sie knarzt unter ihremGewicht, bei jedem Schritt und immer mehr, als der Rest ihr folgt. Obenangekommen treffen wir auf einen älteren Herrn in Jackett und Fliege, der unsaugenblicklich zu einem Tisch etwas abgelegen führt, direkt am verschnörkeltenmetallenen Geländer. Von dort aus hat man eine atemberaubende Sicht auf dasStädtchen. Die Dächer liegen unter uns, eine Katze springt von einer Regenrinnehinunter auf ein Fenstersims. Man sieht die kleinen Obststände, den steinernenBrunnen, hört das Lachen der Kinder. Die Sonne vermittelt eine zauberhafteAbendstimmung, taucht die Stadt in ein warmes, rötliches Licht, zeigt uns, wiefacettenreich dieser Ort ist. Leise Musik ertönt aus den Boxen, die an deretwas höheren, gegenüberliegenden Mauer befestigt wurden. Ich schnappe mir denStuhl dicht an der Brüstung. Der Duft der Geranien in den hängendenBlumenkästen umgibt mich, mischt sich unter das Aroma frischen Fisches, Pastaund französischen Spezialitäten. Und Tills Duft, die frischen Tannennadeln, diemeine Nase erreichen, als er sich auf den gepolsterten Stuhl neben mir fallenlässt. Ich lächle ihn an, lege, all meinen Mut zusammennehmend, meinen Arm aufdie Lehne, komme ihm damit gefährlich nahe. Doch er reagiert darauf nicht, greiftlieber zu dem Weißbrot in der Mitte des Tischs, bestreicht es mit dem grünen Aufstrich,beißt dann zufrieden davon ab. Und ich ziehe meinen Arm zurück. Vielleicht wardas ja doch keine so gute Idee. Nele sitzt mir direkt gegenüber, wird jedemeiner Bewegungen genauestens analysieren und Viktor, der auf dem Stuhl nebenTill sitzt, sieht auch öfter als nur einmal in unsere Richtung. Der Kellnerreicht uns je eine dicke Speisekarte, verweist noch kurz auf die Weine auf denletzten Seiten und verlässt den Tisch nachdem er uns die Gläser mit Wasser auseiner gläsernen Karaffe füllt. Ich blättere mich durch verschiedenste Menüs,unterteilt in Fisch-, Fleisch-, und vegetarische Gerichte, entscheide mich dannfür einen provenzalischen Fisch mit Gemüse, lege die Karte vor mir ab. „Und?Habt ihr schon entschieden?" Ich werfe einen fragenden Blick in die Gruppe. Bisauf Hermann nicken mir alle freudig zu, stapeln die Karten am Tischende. „Ichweiß nicht, ob ich lieber die Nudeln mit Meeresfrüchten oder eher dieTomatensuppe nehmen soll!" Seufzend blättert er eine Seite immer wieder vor undzurück, bis Jona ihn stoppt, die Menükarte schließt. „Nimm die Suppe. Ich hättesowieso die Nudeln genommen, du kannst gerne probieren", meint sie grinsend,streicht kurz über seine Schulter. „Könnt ihr euch noch an die ganzen Partys amEinstein erinnern? Die Stimmung hier erinnert mich daran. Das waren auch immerdie lauen Sommernächte, an denen wir bei Sonnenuntergang zu lauter Musikgetanzt haben. Und das Essen war einfach nicht zu übertreffen! Die Burger, diewir zur Waldrettungsparty hatten.", Sibels große Augen fallen auf Cäcilia undLeni mir schräg gegenüber, „Ihr müsst die unbedingt hier mal wieder machen, diewerde ich nie vergessen!" Die Runde nickt einstimmig, Nele und ich allerdingsausgeschlossen. Ich hatte dort die Schule schon verlassen, wusste von all demnur durch Erzählungen Bescheid. Cäcilia und Leni nicken sich wissend zu,während das blonde Mädchen den Arm um die andere legt und sie näher an sichzog. Unsere Mägen knurren inzwischen lauter, der Hunger drängt sich stärker inden Vordergrund und wir alle freuen uns riesig, als endlich die großen, rundenTeller vor uns abgestellt werden. Die frische Abendbrise weht mir durch dieHaare, die Sonne steigt tiefer, die Farbe wechselt von Orange zu dunklem Rot,bis sie schließlich in zartem Lila die Nacht einläutet. Auch mir wird kälter,ich ziehe mir die dünne Jacke über die Schultern, bevor ich erneut meinenMeeresfisch koste. Till rutscht näher an meine Seite, seine Armlehne schlägt anmeine, das dumpfe Geräusch wegen den ausgiebigen Plaudereien nur für uns beidehörbar. Dann legt er seine Hand an meinen Oberschenkel, streicht, wie schon imBus, sanft über die Haut. Mal fester, mal nur so leicht, dass einzig seine Fingerspitzenin Kontakt zu meinem Körper stehen. Die wohlige Wärme breitet sichaugenblicklich in mir aus, wandert vom stark pulsierenden Herzen hinunter inden kribbelnden Bauch, erreicht schließlich auch die zittrigen Beine. Seine Wirkungauf mich überrascht mich, wie jedes Mal. Wie kann man nur so viel fühlen? Wieist es möglich, dass eine einzige Person es schafft, dass sich die Weltplötzlich nur noch um diese dreht, dass die Gedanken an alles andere wieausgelöscht zu sein scheinen? Wieder hat er sich mir angenähert, in allerÖffentlichkeit. Und es fühlt sich so gut an. Es fühlt sich so stark an. So, alsob mir nichts etwas anhaben könnte, als würde mich ein Schutzschild umgeben.Seelig lächelnd betrachte ich sein Gesicht. Er strahlt. In den Augen ein Glanz,ein Schimmer, ein Funkeln. Die Mundwinkel stark nach oben gerichtet, leichteFalten darüber und fast unmerkliche Grübchen an den Wangen. Inzwischen leerenwir alle unser drittes Glas Weißwein, eine Empfehlung des Restaurants, und dieUnterhaltungen werden lustiger und lauter. Dieser Urlaub hat mir jetzt schon soviel gelehrt. Dass der erste Eindruck oft täuschen kann, dass Sport nicht nuranstrengend und nervig ist, dass es hilft, sich auf andere einzulassen, dassLiebe stärker sein kann, als viele Probleme und eben auch dass es wichtig istSpaß zu haben. Dass man sich die Zeit nehmen sollte, das zu tun was einenglücklich macht, dass es im Leben mehr gibt als Studium und Berufsleben, dassda noch so viel mehr ist das dazugehört und dass das Leben oft seinen eigenen Weggeht. Einen, den man nicht geplant hat, einen, den man anfangs vielleicht sogarverabscheut und kritisch betrachtet. Aber wir haben keine Macht über das Schicksal,es ist einfach da, mischt sich ein und ich sollte daran glauben, dass das allesseinen Sinn hat. Dass am Ende alles gut werden würde, dass jedes Problem eine Lösunghat. In Gedanken vertieft bemerke ich nicht, wie Viktor für uns alle bezahltund der Rest seine Jacken anzieht. Tills Hand löst sich von meinem Oberschenkelals auch ich mich erhebe und wir gemeinsam das Restaurant verlassen und den Wegzu unserem Bus einschlagen. Nele hängt sich bei mir ein, erzählt mir von einemAngebot einer Galerie in Köln, die gerne ihre Bilder ausstellen würde. Der Windlässt nach, je tiefer wir kommen und die Luft wird wärmer, als sie wieder inden engen Gassen gefangen ist. Die Sonne ist nun hinter dem Horizontverschwunden, der Himmel färbt sich dunkelblau, die ersten Sterne sind zusehen. Das Auto erreichen wir schneller als geplant, als wir die Abkürzung durchdie Häuser einschlagen, der Weg steil und holprig. Der Van hat die Wärme der Sonnegespeichert, die Luft darin stickig und heiß. Viktor öffnet sofort eines derFenster, nachdem er den Motor anlässt und den Parkplatz verlässt. Noch ein Malblicke ich auf die Stadt am Hügel zurück, auf die malerische Kulisse, sehe dieerleuchteten Fenster der Häuser, die sich von der Dunkelheit abheben. Zuwissen, dass der Tag nun bald sein Ende hat und ich in spätestens einer Stunde wiederin meinem Schlafsack im Zelt liege, stimmt mich traurig. Der Ausflug in die Stadthat mir vieles gezeigt, hat den Blickwinkel auf die wichtigen Dinge gelegt undmir gezeigt, wie wichtig mir Till wirklich ist. Wie wichtig es mir ist, ihn beimir zu haben und dass ich schleunigst einen Ausweg aus dieser Zwickmühle findenmuss. Doch diese Angst und diese ungewohnte Schüchternheit sitzt mir noch immerim Nacken, bremst mich ab, hindert mich daran, einen Schritt auf Till zu zugehen. Er nähert sich immer wieder, hat mich heute so oft berührt. Wiesoschaffe ich es nicht, meine Gefühle zu zeigen? Was denkt Till, wenn von mir nieetwas kommt? Während er versucht weiter zu gehen, bleibe ich stehen, ziehe ihnwieder zurück. Das ist doch kein Dauerzustand! Schüchtern war vor einigen Tagennoch ein Fremdwort für mich. Nun ist es immer da, bestimmt über mich und ichfinde keine Möglichkeit davon abzulassen. Auch auf dem Weg zum Campingplatz schaffeich es nicht, mich Till zu nähern, bleibe einige Schritte hinter ihm, hängemich an Rosa und Jona und gehe mit ihnen direkt zum Waschraum. Ich putze mirmeine Zähne, betrachte mich im kleinen, runden Spiegel an der Wand. Was ist ausder toughen Martha geworden, die sich von nichts und niemandem kontrollierenlassen hat? Ich streiche mir durch die kurzen Haare. „Gute Nacht, Martha!",rufen mir Jona, Rosa und Pit zu, die nun die hölzerne Tür aufhalten, bereitdazu schlafen zu gehen. Auch ich wünsche ihnen eine gute Nacht und bleibeallein in dem miefenden Raum zurück. Wenn ich nur wüsste, was ich gegen dieseSorgen machen könnte, wenn ich eine Lösung hätte. Doch den perfekten Weg gibtes wohl nicht. Mir fehlt einfach ein Zeichen. Ein Zeichen, was nun der nächsteSchritt ist. Ein Zeichen, dass mir dazu verhilft, einen Schritt auf Till zu zugehen und meine Ängste in den Hintergrund zu schieben. Sie verschwinden zulassen scheint mir momentan noch zu surreal. Die knarzende Tür öffnet sich wiederund der Profisportler betritt den Waschraum. Er grinst mich an, kommt mirnäher. „Na?" Mein Blick wendet sich auf ihn, dann auf den Eingang. Wir sindalleine, nur wir beide. Ein strahlendes Lächeln ziert nun meine Lippen, ichdrehe mich ihm zu. Sanft legt er seine Stirn an meine, sieht mir tief in die Augen.„Ich hab gehofft, dass ich dich hier nochmal kurz erwische", flüstert Till mirzu. Sein Atem fällt auf meinen Mund, wärmt ihn und lässt ihn kribbeln. Ichsehne mich nach seinen warmen, weichen Lippen, die sich so gut mit meinen verbinden,die die Kunst, zusammen zu tanzen, bereits erlernt haben, süchtig nach jederBerührung sind. Nur ganz leicht hebe ich meinen Kopf, komme so seinen Lippennäher. „Gute Nacht", raunt er, lässt ab und drückt mir einen sanften Kuss aufdie Stirn. Verlässt dann ohne einen weiteren Blick auf mich den Raum. „GuteNacht." Fast lautlos verlassen diese Worte meinen Mund, lange nachdem ichwieder alleine bin. Dieser kurze Moment mit ihm, mit meiner großen Liebe, gibtmir Hoffnung. Stützt mich, hält mich. Und sobald ich unter den dickenSchlafsack krieche, steht meine Entscheidung fest. Ich muss etwas ändern. Unddas morgen. Morgen werde ich auf ihn zu gehen, morgen werde ich mit ihm reden,morgen werde ich diejenige sein, die sich traut, ihn vor den anderen zuberühren. Er macht mich glücklich, unfassbar glücklich. Mit ihm an meiner Seitebin ich stärker. Mit jeder noch so kleinen Berührung, mit jeder noch so simplenGeste, verändert er meine Sicht auf die Dinge. Er ist mein Glück und so langsamsollte ich beginnen, ihm genau das zu zeigen. Ich muss ihm zeigen, was er mirbedeutet, wie wichtig er mir ist. Ich schließe meine Augen, sinke langsam inmeine Traumwelt ab, das weiche Lächeln seit Tills Kuss auf meiner Stirn nochimmer auf meinen Lippen.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt