Kapitel 21

157 2 0
                                    

Die laute Musik schallt über den Campingplatz, lautes Gelächter der anderen ist zu hören. Ich greife zu der Flasche Tequila, die auf einer der Holzbänke um das Lagerfeuer steht. Pit hat dies zur Feier des Tages wieder angezündet, es strahlt jetzt angenehme Wärme in die kühle Nacht. Den Pappbecher in meiner Hand fülle ich mit der alkoholischen Substanz, führe ihn sofort zu meinem Mund und nehme einen großen Schluck. Meine Umgebung verschwimmt immer mehr vor meinen Augen. Ich kneife sie leicht zusammen in der Hoffnung, die Menschen um mich herum schärfer wahrzunehmen. Cäcilia und Leni entdecke ich auf der gegenüberliegenden Bank. Die Blondhaarige auf dem Schoß der anderen, den Kopf an die Schulter gelehnt. In meinem angetrunkenen Zustand fällt es mir extrem schwer, den Fokus auf den beiden zu halten. Ich schiebe deshalb die große Flasche Tequila zur Seite, lasse mich vorsichtig auf dem Holz nieder. Cäcilia dreht den Kopf zur Seite, küsst den Hals ihrer Freundin. Zunächst einmal ganz leicht, blickt dann in Lenis Augen. Im nächsten Moment senkt sie ihren Kopf wieder, verteilt dann festere, intensivere Küsse auf der weichen Haut. Leni greift ihr in die Haare, zieht sie näher und öffnet ihre Lippen etwas, schließt die Augen. Mein Blick gleitet weiter zu Moritz, dem Geburtstagskind, der gerade mit Jona und Hermann über die Snacks herfällt und herzlich lacht. Ein erneuter Schluck aus dem leichten Becher in meiner Hand. Die Flüssigkeit läuft meinen Hals hinab in den Magen, hinterlässt ein brennendes Gefühl. Und mit jedem weiteren Schluck vergesse ich all die Sorgen und Zweifel, die mich in den letzten Tagen beschäftigt hatten. Das macht süchtig. Unendlich süchtig. Die Leichtigkeit, die mich umgibt. Meinen Kopf total auszuschalten, ihm eine mehr als verdiente Pause zu gönnen, treibt mich dazu meinen Becher nochmals aufzufüllen. Nele und Sibel tanzen etwas entfernt auf der grünen Wiese mit den anderen Ex-Einsteinern, singen lauthals die Songs mit, die wir schon in unserer Schulzeit gehört haben. Ein breites Grinsen ziert meine Lippen, als die beiden Frauen sich mir zuwenden und näher kommen. „Martha! Komm schon, lass uns tanzen!", ruft mir meine beste Freundin schon aus der Ferne zu, stellt sich dann direkt vor mich, reicht mir ihre Hand. Ich greife sie, sie zieht mich mit all ihrer Kraft auf die Beine. Viktor verlässt die improvisierte Tanzfläche in dem Moment, in dem wir sie betreten. Der laute Bass dröhnt in meinen Ohren, ich spüre ihn im Bauch. Das allein genügt, um mich völlig gehen zu lassen, führt dazu, dass ich einige Minuten später mit Rosa, Pit, Nele, Sibel, Rike und auch Till ausgelassen in der Gruppe tanze. Die Arme in den Himmel gestreckt, die Hüften kreisend, die Songtexte lauthals mitgrölend. Moritz kümmert sich darum, dass zu keiner Zeit jemand auf dem Trockenen sitzt. Rosa und Till mit der wahrscheinlich achten Flasche Bier in der Hand, der Rest mit den randvoll gefüllten Pappbechern. Der Drink, den ich gerade hinunterkippe, ist viel zu süß, lässt meine Lippen kleben und schmeckt nach Himbeeren. Ich verziehe das Gesicht. Ich hasse dieses Damengetränk und künstlichen Himbeergeschmack erst recht. Umso schneller muss der Becher geleert werden, damit er anschließend auch mit Wodka Soda gefüllt werden kann. Meine Schritte auf dem unebenen Boden werden über die Stunden hinweg immer wackliger und unsicherer. Zwischendurch stütze ich mich an den Leuten neben mir ab. Mal Rike, mal Sibel und manchmal auch Till. Und wenn das der Fall ist, durchzieht mich ein leichter Stromschlag in dem Moment, in dem unsere Körper sich berühren. Das bringt mich noch mehr aus dem Gleichgewicht. Die ersten verlassen die feuchte Tanzfläche, als die Sterne im Himmel schwächer werden und sich die Nacht wieder leicht erhellt, das tiefe Schwarz zu einem dunklen Blau übergeht. Schließlich sind Hermann, Jona, Till und ich die einzigen, die noch ausgiebig tanzen und Lied für Lied mitsingen. Der Rest hat sich um das noch glühende Lagerfeuer versammelt, lacht und erzählt sich stockbesoffen Geschichten. Ich schließe die Augen, tanze mit aller Inbrunst zu einem Hit aus den 90er-Jahren, bis ich Wärme spüre. Ein Körper, der den sanften Nachtwind abhält. Ein Körper, der nicht mehr als zwei handbreit von mir entfernt sein kann. Mein Herz schlägt schneller, der Schweiß treibt durch meine Poren an die Oberfläche meiner Haut, was wohl an meinem extremen Alkoholpegel liegen muss. Nach dem zweiten Refrain des Liedes öffne ich meine Augen wieder, blicke direkt in ein glasiges Paar, das sich ebenfalls wie meins schwer tut, sich auf einen Punkt zu fokussieren. Ein Blick in das kantige Gesicht reicht, um zu wissen dass er mindestens genauso betrunken ist, wie ich. Er. Till. Er steht direkt vor mir, sieht mir mit seinem leeren Blick tief in die Augen, kommt mir noch näher. Er grinst mich an, nimmt meine schwitzige Hand in seine, hält sie über den Kopf und dreht mich einmal um die eigene Achse. Ich verliere meinen Gleichgewichtssinn komplett, es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Völlig torkelnd und schallend lachend falle ich an seine starke Brust und auch er stolpert einige Schritte zurück, die breiten Arme fest um meine Taille geschlungen. Selbst in meinem alkoholisierten Zustand spüre ich die starke Wirkung, die er auf mich hat. Schwitzen, Gänsehaut, Zittern, Stromschläge. Das volle Paket, wie aus dem kitschigsten Liebesroman kopiert und direkt in meinen Körper gepflanzt. Er grinst mich an, ich grinse ihn an. Und wir beginnen zu lachen, beide so laut, dass wir die Blicke der anderen auf uns ziehen. Das Lied erreicht sein Ende und stoppt Für einen Moment ist es still, so ungewohnt still, dass ein Rauschen meine Ohren erfüllt, gefolgt von einem beständigen Piepen, dass verschwindet, als der nächste Song laut über den Platz schallt. Den Rest der Gruppe beachte ich nicht mehr. Mein definitiv viel mutigeres, betrunkenes Ich fährt dem Sportler durch die Haare und beginnt wieder zu tanzen. Mit seinen Händen an meiner Hüfte, die eine stetig nach oben wandernd, bis sie das Ziel erreicht, meinen Nacken. Dort bleibt sie liegen, übt einen ganz sanften Druck aus, als wolle sie mir verbieten, mich auch nur einen Millimeter zu entfernen. Das habe ich definitiv nicht vor. „Drunk-Martha" entscheidet sich dazu, noch näher zu treten, bis sich unsere Oberkörper leicht berühren, ich den weichen Stoff seines Shirts an meinem Dekolletee spüre. Mitsingen tun wir nicht mehr, doch wir beide bewegen uns noch immer im Takt zur Musik, gleichmäßig, das Tempo haltend. Ich bin mir inzwischen mehr als sicher, von dem allen am nächsten Morgen nichts mehr zu wissen und das lässt mich noch freier werden. Mir ist völlig egal, was morgen ist. Ich genieße das Jetzt. Genieße es, das tun zu können, was die nüchterne Martha schon immer mal tun wollte. Genieße es, dass morgen keiner von uns mehr wissen wird, was passiert ist und das Thema nie mehr zum Gespräch kommen wird. Ich lege meine beiden Hände um seine Schultern, bewege die linke hoch in seine festen Haare, ziehe leicht daran Und genau in diesem Moment wird Till von mir weggezogen. Viktor fasst ihn am Arm, sieht uns beide etwas erschrocken an. Sofort stützt er Till auf seiner Schulter ab, als dieser das Torkeln beginnt, kurz davor ist, zu Boden zu gehen. Die beiden verlassen ohne ein weiteres Wort die Party, gehen schleifend auf ihr Zelt zu. Und lassen mich alleine auf der Tanzfläche stehen, ohne auch nur eine Person durch den Schleier, der mein Sichtfeld verschwimmen lässt, erkennen zu können. Die Welt dreht sich. Schneller mit jeder Sekunde. Was ist rechts, was ist links? Die Dunkelheit des frühen Morgens lässt mich nicht mal mehr ausfindig machen, was Himmel und was Erde ist. Jeglichen Orientierungssinn habe ich verloren.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt