Kapitel 38

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Der Regen prasselt noch immer sanft auf das Zeltdach. Der Klang der Tropfen beruhigt mich. Ich höre den Wind über den Campingplatz ziehen. Er lässt die Blätter rascheln, die dunkle Plane um mich herum leicht flattern. Durch das Material erkenne ich den immer mehr verblassenden Mond, der dem Tageslicht weicht Es wird heller. Nele dreht sich neben mir, kuschelt sich dichter an meine linke Körperhälfte. Ich grinse. Wie schon früher, als wir noch gemeinsam zur Schule gingen, hat sie sich auch diese Nacht auf meine Matratze gelegt, um der Kälte zu trotzen. Langsam und vorsichtig ziehe ich ihr den Schlafsack höher über die mit Gänsehaut gezierten Arme, betrachte ihre langen, leicht zuckenden Wimpern. Ich fahre mit meinem Zeigefinger von ihrem Haaransatz mittig ihre Stirn entlang, anschließend ihre Nase, stupse dessen Spitze einmal und beobachte, wie meine Freundin diese rümpft und etwas fester ausatmet. Mir entflieht ein kleines Lachen. Uns beide hat schon immer etwas verbunden, ein tiefes Vertrauen, eine besondere Nähe. Niemand kennt mich so gut, wie sie. Und doch weiß ich nicht, ob ich ihr von den Ereignissen der letzten Tage erzählen kann. Sie ist klug, erfahren und vertrauensvoll, sie wüsste sicher einen Rat für mich. Und doch ist dieses Thema, das mich so sehr beschäftigt, mich nicht mehr loslässt und jede Sekunde verfolgt, so unfassbar intim. Intimer als alles andere. Es sind Momente, Erlebnisse aus Tills und meinem Leben, aus unserem Leben. Momente, die uns prägen, die wir schätzen und Momente, die wir vor den Augen anderer fern halten. Zu wissen, dass Till mich liebt, schenkt mir Kraft und Mut. Und davon so viel, dass ich alles tun würde, um ihm noch näher zu kommen. Um irgendwann sagen zu können, dass er, Till Hainzinger, der Mann an meiner Seite ist. Und das vor allen anderen. Vor jahrelangen Freunden, vor der engsten Familie, vor den Verwandten, die man erst ein Mal an einer Familienfeier getroffen hat, vor neuen Bekanntschaften, vor Leuten, die man noch nie gesehen hat, vor denen, die neben einem in der Bahn sitzen und einen nicht beachten. Das zweite Mal haben wir uns gestern geküsst und trotzdem weiß ich immer noch nicht, was das zwischen uns ist. Etwas ernstes oder doch ein harmloser Urlaubsflirt, der nach dieser Reise vergessen wird? Gestern schon war ich mal wieder zu feige mit ihm über den Kuss zu reden. Aber er ja auch. Kaum haben sich unsere Lippen getrennt, hat er mir noch eine Sekunde tief in die Augen geschaut, hat mir dann den Rücken zugekehrt und ist ins Zelt verschwunden. Ich war zu feige ihn zurückzuziehen. Ich war zu feige, ihm nachzurufen. Und ich war erst recht zu feige dazu, ihm hinterherzulaufen. Und das einzige, das meine Schuldgefühle und Verlustängste nicht ins Unermessliche steigern lässt, ist dieser eine Gedanke: Er hat es ja auch nicht getan. Ist das egozentrisch? Warum ist es mir so wichtig, dass er den ersten Schritt macht? Ich bin doch sonst nicht so, halte mich sonst nie zurück, sage immer was ich denke. Doch mit Till ist es anders. Mit ihm in meiner Nähe werde ich so unglaublich schnell unsicher, erst recht dann, wenn wir uns so nahe kommen, neue Dinge ausprobieren, unangetastete Gebiete betreten. Die junge, zierliche Frau zu meiner linken streckt sich, reißt die Arme in die Luft, lässt die Augen aufflattern. Ich blicke zu ihr, betrachte ihre Verrenkungen, sehe dann zurück auf die dunkle Zeltplane. Den Blick starr, beobachte ich die Schatten der kleinen Regentropfen, versinke wieder in Gedanken. „Guten Morgen", nuschelt sie und stützt den Kopf auf ihre Ellenbogen. „Morgen." Zwar ziert immer noch das Lächeln mein Gesicht, eine Auswirkung Tills Lippen auf den meinen, doch trotzdem lässt die Unsicherheit und das nicht geklärte Verhältnis zu dem Sportler nicht locker, verhindert, dass ich sorgenfrei in den Tag starte. „Pit hat abends noch erzählt, dass gestern eine Blutmondnacht war. Hast du gesehen, wie riesig und rot der Mond da geleuchtet hat? Das war so schön. Aber meine Kamera hat ihn leider überhaupt nicht fokussiert, die Bilder sind total schlecht. Ich glaube, ich male den Blutmond heute einfach. Das Wetter ist ja sowieso nicht so schön und eine leere Leinwand hab ich noch dabei. Pit meinte auch, dass in diesen Nächten immer ganz besondere Kräfte wirken. Früher dachte man anscheinend, dass die Magie so stark ist und für die Zeit, in der der Mond am Himmel prangt, alles in Frieden lebt. Kannst du dir das vorstellen? Als würde so eine runde, rote Kugel alle Probleme lösen. Damals waren die Leute schon etwas..." „Ich hab Till geküsst", unterbreche ich Nele in ihrem Redeschwall, unfähig, diese Erfahrung weiter geheim zu halten. Ich muss mit jemandem darüber reden. Ich muss mit ihr darüber reden. Diese Ungewissheit zerdrückt mich, lässt mich immer schwerer atmen und macht mir immer mehr Angst vor der nächsten Begegnung mit Till. Wie sollte ich mit ihm umgehen? Was ist das zwischen uns? Wie nahe stehen wir uns, wie weit sind wir von einander entfernt? Nele sieht mich an. Der Blick tief in meine unsicheren Augen, die ihren immer versuchen auszuweichen. Sie gibt mir keine Chance dazu, hält meinen Kopf am Kinn fest. In ihren kastanienbraunen Augen sehe ich etwas, dass ich als Freude deute, gemischt mit etwas Überraschung. Im nächsten Moment schon verzieht sich ihr Mund zu einem neckischen Grinsen und sie stupst mich an. „Na sieh mal einer an, der Kampfhund und der Oberturnbeutel, wer hätte denn das gedacht?" Lachend sieht sie mich an, ich blicke schüchtern nach unten, wickle einen der abstehenden Gummizüge des alten Schlafsacks um meinen Finger. „Schon zweimal." „Wann?" Nele setzt sich auf, die Arme hinter sich abgestützt, in meine Richtung gedreht. „Vorgestern? Ich habe mir doch gedacht, dass sich da irgendwas verändert hat!", meint Nele, während ihr Grinsen immer breiter wird und feine Fältchen unter ihren Augen entstehen. Ich nicke leicht, antworte dann auf ihre erste Frage: „Und gestern Abend im Regen." Ich achte wieder auf das Geräusch der Tropfen auf der gespannten Zeltdecke, muss dabei seelig lächelnd an den zweiten Kuss denken. „Ja und jetzt? Was heißt das, was ist das zwischen euch?", stellt meine beste Freundin genau die Frage, auf die ich keine Antwort habe. „Ja nichts und jetzt. Keine Ahnung was das ist oder was da noch kommt." Nele sieht mich entgeistert an. „Wie bitte? Du hast nicht mit ihm darüber gesprochen? Und er hat auch nichts gesagt? Mann Leute, euch ist echt nicht mehr zu helfen!" Sie seufzt daraufhin, steht auf, sieht mich kurz entschuldigend an und verlässt dann, die Kapuze der Jacke, die sie sich eben übergeworfen hatte, tief ins Gesicht gezogen, das Zelt. Auch ich seufze, lasse mich zurück auf die Matratze fallen, von der ich mich gerade erst erhoben habe und schließe kurz meine Augen. Na toll, selbst Nele hat kein Verständnis für mein zögerliches Verhalten. Auch ich entscheide mich schließlich unser Schlafgemach zu verlassen. Erst jetzt bemerke ich Sibels leere Matratze, auf der nur ihr aufgeschlagener Liebesroman vorzufinden ist. Diese Liebe scheint mich wirklich zu verfolgen, seit Till wieder fester Bestandteil meines Lebens geworden ist. Nachdem dieses Thema jahrelang für mich keine große Bedeutung hatte, dreht sich jetzt alles um das so bedeutende Wort. Fünf Buchstaben, die mein Leben bestimmen. Die es lenken und mich in meinem Handeln beeinflussen. Fröstelnd entblöße ich meinen Oberkörper, ziehe so schnell wie möglich den dicken, wärmenden Pulli über. Meine zerzausten Haare verstecke ich unter der großen Kapuze, die Hände verschwinden in den viel zu langen Ärmeln. Ein bekannter Duft umströmt mich, lässt mich wieder in meine Gedanken abtauchen. Schnell verlasse ich das Zelt. Der Himmel ist noch immer grau. Tief und schwer hängen die dunklen Wolken über unseren Köpfen, der Nieselregen nässt mein Gesicht. Mein Herz klopft schneller auf dem Weg zum Frühstückstisch. Mir wird bewusst, dass ich in einigen Augenblicken meiner großen Liebe gegenüberstehen werde. Und das spüre ich. Ich höre mein Blut in den Ohren rauschen, fühle wie es rasend schnell durch meine Adern gepumpt wird. Da sitzt er. Auf seinem Campingstuhl, die Arme an der Tischkante angelehnt, vor- und zurückwippend und schaufelt sich wie jeden Morgen sein Proteinmüsli in den Mund. Er greift zur Pappverpackung seines Frühstücks, hält sie schief über die mit Milch gefüllte Schüssel. Dann trifft sein Blick auf meinen. Seine Augen bohren sich in meine. Auf seinen Lippen ein Grinsen, so wie auf meinen. Starr sitzt er da und sieht mich an. Bewegt sich nicht. Sagt nichts. Meine Schritte werden langsamer, bedachter. Fast geräuschlos ziehe ich den Klappstuhl unter dem Holztisch hervor, lasse mich darauf fallen. Ich entreiße mich seinem Blick, sehe wieder zu der bunten Schüssel vor ihm. Noch immer fällt Müsli aus der Öffnung der Tüte in die Milch. Seine Schale wird voller. Bis der erste Krümel über den Rand der überfüllten Müslischüssel rollt, auf seinem Schoß landet und ihn aus seiner Starre holt. Entgeistert betrachtet er sein Missgeschick, schüttelt den Kopf. Ein kleines, leises Lachen kann ich mir nicht verkneifen. Ich liebe es zu sehen welch starke Wirkung ich auf ihn habe. Seine rotgefärbten Wangen stehen in Kontrast zu dem grauen, nebligen Hintergrund und den feinen Regentropfen, die alles hinter ihm verschwimmen lassen. Jetzt, hier, wenn er mir gegenüber sitzt, fühlt es sich wieder deutlich leichter an. Die Angst wiegt weniger, mein Kopf wird etwas freier und es liegt eine geringere Last auf meinen Schultern, die vorher noch die schweren Schuldgefühle schleppen mussten. Es befreit mich in seiner Nähe zu sein, auch wenn das starke Herzklopfen, die Hitze und die feine Gänsehaut eindeutige Hinweise auf meine Nervosität sind. Gleichzeitig heißt das auch, dass er da ist, dass ich ihn liebe und dass mir diese Liebe Kraft und Halt gibt. Dass sie mich stützt, wenn ich drohe zu fallen, dass sie mir aufhilft, wenn ich schon gefallen bin. Ich sehe zu Nele neben mir. Sie beachtet mich gar nicht, beißt nur in ihr Croissant, den Blick auf Till gerichtet, der immer noch etwas aus der Fassung versucht, seine viel zu volle Müslischüssel zu leeren. Sie schmunzelt, wendet sich dann Viktor zu, der ihr fest in die Augen sieht und ihr wissend zuzwinkert. Die beiden scheinen sich ja wirklich näher zu kommen, scheinen sich gut zu verstehen. Und irgendetwas teilen sie miteinander, so etwas entgeht mir nicht, dafür kenne ich Nele schon viel zu lange und auch viel zu gut. Meine Kaffeetasse leert sich schneller als sonst, ich greife deshalb schon wieder zu der großen, schweren Kanne in der Mitte des Tischs, meinen Blick nur auf diese gerichtet. Aus meinem Augenwinkel nähert sich eine zweite Hand der Thermoskanne, Tills Hand. Ich kann gar nicht so rasant reagieren, da zieht dieser seine Hand schon viel zu schnell wieder zurück, murmelt ein „Entschuldigung", bevor seine Wangen wieder diese Röte annehmen und er sich schüchtern lächelnd abwendet, in der Ferne die sich im Wind wankenden Bäume betrachtet. Er scheint nicht weniger nervös zu sein. Das kann doch so nicht weiter gehen, denke ich. An einem Tag küssen wir uns, am nächsten bekommt keiner auch nur ein Wort raus. Aber bin ich wirklich dazu bereit, den ersten Schritt zu tun? Kann ich das bei ihm überhaupt? Dieses Problem scheint sich aber ganz von selbst zu lösen, als Till sich während des Abräumens nähert, fast an meiner Seite klebt. Egal ob ich ein Marmeladenglas zurück in die Küche trage oder die Tischdecke verräume, er läuft immer direkt neben mir, verlässt mich nicht, bringt allerdings immer noch kein Wort über die Lippen. Ich muss jetzt etwas tun. Er ist auf mich zugegangen, er sucht den Kontakt zu mir, die Nähe zu mir. Und ich weiß, dass er mich liebt Dass ich mir seine Gefühle nur einbilden könnte, klingt absolut unrealistisch. Ich habe es gespürt, in jeder seiner Berührungen, in jeder seiner Handlungen von gestern Abend. Dass er sich mir so anvertraut, ist noch immer völlig unwirklich, unglaublich. Dieses Band zwischen uns wird spürbar stärker, bindet sich fester zwischen uns, verankert sich, verknotet sich. Unser Vertrauen zueinander wächst mit jedem Tag, der vergeht, jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde. Ich bleibe stehen. Einen Schritt geht er noch weiter, dann bemerkt er meinen abrupten Halt, geht keinen Schritt mehr weiter. Ich öffne meinen Mund nur minimal, kurz davor etwas zu sagen, stocke dann ein letztes Mal, bevor ich mich überwinde: „Ich wollte nachher an den Strand. Ich liebe diese Stimmung, sie ist perfekt zum fotografieren." „Da hast du Recht. Naturgewalten.", er macht eine kurze Pause, sieht in den düsteren Himmel, „Perfekt". Er blickt mich nun so eindringlich an, so viel Gefühl liegt in seinen ozeanblauen Augen, sie verraten mir mehr, als man sich vorstellen kann. Allein durch diesen tiefen Blick bildet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen, zieht sich hinauf bis in meinen Nacken. So stark, dass ich nicht weiß, ob sie jemals wieder verfliegt. So intensiv, dass es mich überfordert, dass ich erstarre. Nur seine Augen halten mich fest, verwurzeln mich, kaptivieren mich. „Magst du mitkommen?" Er lässt mir nicht mal Zeit für eine Erklärung. Eine Erklärung, die ich mir in meinem Kopf schon so ausgemalt habe. Dass er mitkommen soll, damit ich nicht so alleine bin. Dass er mitkommen soll, damit ich keinen Selbstauslöser benutzen muss, um auch mich fotografieren zu können. Alles nicht nötig, denn er nickt sofort, stimmt augenblicklich zu und grinst mich an. Ein Leuchten in seinen Augen, das den dunklen, trüben Tag erhellt. Ein Strahlen, das mein Herz erwärmt. Er direkt neben mir. Und wie immer vergesse ich dadurch alles um mich herum. In meiner Welt stehen wir hier beide ganz alleine unter dem gespannten Dach beim Holztisch. In meiner Welt gibt es gerade nur uns beide. Till und mich. Ganz alleine und doch zusammen.

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