Kapitel 48

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Tills Sicht:

Marthas Augen. Diese zwei eisblauen Augen, die nun so eindringlich in die meinen blicken. Diese intensive Farbe, die sie mir gezeigt hat, eine so bedeutende Farbe, wie sie nur Martha in mein Leben bringen könnte. Eine Farbe, die tagtäglich meine Welt verändert. Eine Farbe, die mich strahlen lässt. Zusammen scheinen wir, zusammen glühen wir, zusammen leuchten wir auf. Und dabei sehe ich nur diese eine Farbe. Die Farbe ihrer Augen. Mir ist klar, dass das, was ich fast ausgesprochen hätte, hätte mich Rike nicht rechtzeitig unterbrochen, möglicherweise alles verändert hätte. Es hätte Martha abschrecken können, es hätte sie überfordern können und es wäre viel zu früh gewesen. Ich sollte der Labertasche dankbar sein. Und doch hängt nun dieses Etwas in der Luft. Schwebt zwischen uns Wie ein Geist, der uns so leise zuflüstert, dass es uns unmöglich ist, auch nur Wortfetzen zu verstehen. Ein Geist, nach dem wir nun beide greifen, Martha der Neugier wegen, ich, um meine schon ausgesprochenen Worte, die dieses Wesen überhaupt erst heraufbeschwört hatten, zurückzunehmen. Doch wir erreichen ihn nicht, er ist der, der uns immer wieder aus den Fingern gleitet. In Marthas Anwesenheit fällt es mir zunehmend schwerer, meine Gefühle zurückzuhalten, die wahre Stärke dieser harmloser aussehen zu lassen. Es fällt mir immer schwerer, sie anzulügen, ihr diesen Teil zu verschweigen. Martha liest mich inzwischen wie ein Buch, kennt mich jede Sekunde ein kleines Stück besser, blättert immer schneller immer weiter und rückt immer näher an das Ende, an die letzte Seite. Dort prangen meine tiefsten Geheimnisse, Dinge, die ich selbst vor mir verschweige. Marthas Tempo macht mir einerseits Angst, andererseits vertraue ich ihr. Ich habe die erste Seite des Buches umgeschlagen, habe ihr einen Einblick gewehrt und sie ist nicht zurückgeschreckt, sie liest weiter, sie ist mutig. Sie erobert mich, liest mich, lernt mich kennen und ich lasse sie. Und ich bereue es nicht. Und warum? Wegen diesen drei Worten, die mir eben fast herausgerutscht wären. Ich liebe sie. „Ich..." Marthas krächzende Stimme mischt sich unter das Rauschen der feinen Blätter, ihre Tonlage hebt sich stark von der der singenden Vögel ab, die durch die Morgenluft schwirren, ähnelt eher der des Raben, der über unseren Köpfen kreist. Mein Blick gilt nun ihren sanft bebenden Lippen und ich reagiere. Endlich. Endlich erlange ich die Kontrolle zurück, kann mich wieder rühren, verliere meinen Gedankenstrom wie auch den zwischen uns schwebenden Geist mit meiner nächsten Bewegung. Ich hebe die Hand, strecke den Zeigefinger aus, lege die anderen vier Finger an meine Handfläche und setze den Abstehenden an ihren Lippen an, verstumme sie, bringe ihre zitternden, so unglaublich weichen Lippen zum Stillstand. Es gibt meinerseits viel zu sagen und viel zu erklären, doch fehlen mir die Worte. Ich muss dieses Geheimnis weiter vor ihr wahren, muss mir klar machen, dass es einfach viel zu früh ist, solche starken und bedeutenden Worte auszusprechen. Erst recht, wenn uns beiden noch immer völlig unklar ist, was wir sind, welche Bedeutung das alles hat und auch was daraus werden kann. Auch langfristig betrachtet. Denn mir ist klar, ist Martha einmal Mein, dann werde ich davon wahrscheinlich nie wieder ablassen können. „Lass uns zurückgehen. Frühstück wartet" Das ist alles was ich sage. Ich lächle sie an, liebevoll und zärtlich, versuche inständig damit nur einen kleinen Teil meiner ehrlichen Emotionen auszudrücken. Mein Finger gleitet federleicht von ihrem roten Mund über die warme Wange, bis hin zu ihrem linken Ohr und streicht dort einige abstehende Haare dahinter. Martha senkt den Kopf, lächelt und greift dann zu der Hand an ihrem Gesicht. Ihre Finger berühren meine und mein Herz schlägt automatisch noch schneller und noch fester in meiner Brust, erlangt die Dominanz in meinem Körper, lässt mich den Puls an jeder Stelle spüren. Sie umfährt Finger für Finger, übt dann langsam immer mehr Druck aus und umfasst schließlich meine rechte Hand und zieht sie hinunter an ihre Seite, fährt unfassbar zart die Stelle an der Oberseite meines Daumens entlang Martha winkt in Richtung des Campingplatzes, beginnt sich dem Rand der Lichtung zu nähern, sodass der Schein der aufgehenden Sonne hinter uns fällt, nun nicht mehr Marthas Gestalt in das zartrote Licht getaucht wird, sondern einzig und allein die winzigen Tautropfen auf den Grashalmen orange glänzen. Ihre Schritte werden zunehmend fester, schneller, größer und ich passe mich ihr an. Ich folge ihr, dicht an ihrer linken Seite und lasse den Ärmel ihres Shirts meinen Oberarm streifen. Ich drücke ihre Hand leicht, versuche ihr somit ein Gefühl des Vertrauens und der Nähe zu übermitteln, hoffe, dass sie mich versteht. Doch wir sind uns näher denn je, ich weiß, sie versteht mich. All das, was heute schon zwischen uns passiert ist, hat uns noch enger verbunden, hat uns gestärkt. Der Waldboden unter unseren Füßen gibt nach, immer wieder ducke ich mich unter vereinzelten Ästen hinweg, die weiter in den schmalen Pfad reichen und mir so den Weg erschweren. Einige Schritte später erreichen wir auch schon den Waldrand. Die Sonne strahlt durch die engstehenden Bäume hindurch und taucht uns nun stärker in das Licht als kurz zuvor. In der Ferne entdecken wir schon den Rest unserer Gruppe, die bereits am langen Holztisch Platz genommen haben und friedlich plappernd das Frühstück in sich hinein stopfen. Ich merke, wie Martha meine Hand fester hält, sich regelrecht an meine Finger klammert und sich ein leichter Schweißfilm auf ihrer Handfläche bildet. Sie wird nervös. Alles deutet darauf hin. Ihre Augen, die rasend von links nach rechts springen, dabei nichts zu fokussieren bekommen, den festeren Puls, der gegen mein Handgelenk pocht, die Hitze, die von ihr ausgeht, ihre rechte Hand, die sich regelmäßig zu einer Faust ballt und sich augenblicklich wieder öffnet. Ich wende mich ihr zu, sehe sie an, nehme wahr, wie sie sich auf ihre Unterlippe beißt, den Blick nun auf den Boden gerichtet. Ich merke, dass ihr unwohl ist. Ich merke, dass sie Angst hat, sich so den anderen zu zeigen. Und ich merke auch, dass sie trotzdem nicht loslassen wird. Martha ist zu stolz dazu. Sie will sich beweisen. Ihr oder mir, ganz egal. Martha will kämpfen, sie will diese Angst überwinden. Und auch, wird sie mir jetzt nicht offen zugeben, dass sie sich unwohl fühlt. Ich kann nachvollziehen, wie es ihr geht. Natürlich bin auch ich mehr als aufgeregt diesen Schritt zu gehen, habe Respekt vor den Reaktionen unserer Freunde. Aber ich kann einfach nicht anders. Martha bei mir zu haben macht süchtig. Martha zu berühren macht süchtig. Martha macht süchtig. Doch ich werde nichts tun, hinter dem sie nicht auch voll und ganz steht. Ich will nicht, dass sie sich zu etwas drängt, wozu sie noch nicht bereit ist. Ich spüre, dass dieser Moment kommen wird. Aber hier und jetzt, das ist er nicht. Ich bleibe stehen, drücke ihre Hand noch einmal, sehe sie an und lasse los. Ganz langsam, ganz zart gleiten ihre Finger aus den meinen. Ganz langsam, ganz zart verliere ich die körperliche Bindung zu ihr. Ich lächle sie an, gebe mir Mühe so viel Kraft, Verständnis und Mut in meinen Blick zu legen. Ich bin ihr nicht böse, keinesfalls. Eher schätze ich es und bewundere es, dass sie trotzdem ihre Angst versucht hätte zu überwinden. Für mich. Verdutzt sieht sie mich an. Ozeanblau trifft Eisblau, vermischt sich, strahlt diese gewohnte Wärme aus. Keine Sekunde später heben sich Marthas Mundwinkel, geben nun die Sicht auf die feinen Grübchen frei. Martha strahlt. Und mein Herz macht einen Sprung. Macht einen Sprung und verteilt damit das Gefühl in meinem Körper, in jede noch so kleine Faser. Das Gefühl von Vertrautheit, Verständnis und vor allem Einfühlsamkeit. Sie mir gegenüber, weil sie weiß, worauf ich verzichte, ich ihr gegenüber, weil ich weiß, wie viel Platz die Angst bei ihr noch einnimmt. Das mit uns ist etwas ganz Besonderes, etwas Wertvolles, etwas Zauberhaftes. Etwas, das uns beide bewegt, inspiriert und mitnimmt. Etwas, dass uns beide im tiefsten Punkt unseres Herzens trifft. Es ist noch immer so unglaublich neu und so ungewohnt und beide wissen wir bis zu diesem Zeitpunkt nicht, was genau da ist. Doch wir nehmen uns die Zeit. Nehmen uns alle Zeit der Welt, denn wir zusammen haben alle Zeit der Welt. Ich grinse Martha noch einmal an, betrachte dieses absolut perfekte Gesicht und ihr offenes, glückliches Lächeln. „Hunger?", frage ich sie, zwinkere ihr zu. „Immer doch!", meint sie und läuft dabei schon auf die anderen zu, ich ihr dicht hinterher. „Na guten Morgen, ihr zwei!" Viktor ruft uns entgegen, steht gerade hinter Sibel und stellt eine frische Kanne Kaffee in die Mitte. „Martha? Kannst du bitte noch mal schnell in die Küche laufen und das Baguette aufschneiden und bringen? Du stehst ja noch", meint Rike, hält ihr den leeren Brotkorb vor die Nase und drückt ihn ihr anschließend in die Hand. Martha sieht mich noch einmal kurz an, lächelt sanft und verschwindet dann hinter dem Vorsprung der Mauer. Ich ziehe den einen der zwei noch freien Stühle zurück, den neben Hermann und Viktor, als mir mein bester Freund auf die Schulter klopft. „Na, alles klar bei dir?" Er zwinkert mir zu, sieht dann über den Tisch hinweg zu Nele. Immer öfter fällt mir dieser besondere Blickkontakt der beiden auf, so intensiv und geheimnisvoll. Was verbindet die beiden nur? Ich setze mich und greife nach einer sauberen Müslischüssel, fülle sie bis zum Rand mit der proteinreichen Getreide- und Beerenmischung aus dem Pappkarton, der neben der großen Karaffe mit Orangensaft prangt. Die Milch scheint schon länger an der Sonne zu stehen, sie ist warm und leicht säuerlich. Doch mein knurrender Magen bettelt förmlich nach Frühstück, weshalb ich die nicht mehr ganz so frische Milch gekonnt ignoriere und mein Müsli in mich hinein schaufle. „Was haltet ihr denn davon, heute mal wieder an den Strand zu gehen?" Jona öffnet einen kleinen Reiseführer, blättert darin, bis sie auf ihre gewünschte Seite stößt und das Büchlein nach rechts zu Leni weiterreicht. „Es gibt da diesen einen Strand, der soll sogar ein Geheimtipp sein, steht da. Da gibt's alles was man braucht, Sonne, Schatten, Meer, Sand und wenn man hoch zur Straße läuft ist da sogar eine kleine Eisdiele." Die Blondhaarige grinst frech, wirft ihre Haare zurück und leert dann in einem Zug ihr Saftglas. „Inzwischen ist der Reiseführer auch bei mir angekommen."La plage mystérieuse". Es ist ein kurzer Strandabschnitt, eingerahmt von einigen Bäumen und hohen Gräsern, der Sand wirkt auf dem Bild fast weiß und das Meer erstrahlt in dunklem Türkis. Das Werbefoto sieht traumhaft aus. Nach Urlaub, nach Erholung und schreit förmlich danach, heute unser Gastgeber sein zu dürfen. „Ich bin dabei, sofort", meine ich, lege das Buch offen vor Viktors Teller. „Wo bist du dabei?" Martha lacht, trägt in einer Hand den Korb mit dem noch dampfenden Brot frisch von der nahegelegenen Bäckerei und in der anderen einen Apfel, den sie Nele vor die Nase wirft. „Hier, iss." Die Sonne steht inzwischen so hoch, dass sie Marthas Haare glänzen lässt, sie noch heller aussehen als sonst schon und die Sommersprossen auf der leicht gerümpften Nase scheinen fast zu tanzen. Alleine die Art, wie sie ihre Lippen bewegt, wenn sie spricht, bringt mich noch um den Verstand. Sie lässt sich auf den anderen freien Stuhl bei Sibel fallen, direkt mir gegenüber. „Also, wo bist du jetzt dabei?" Fröhlich grinsend stupst sie unter dem Tisch mit ihrer Fußspitze mein Schienbein. „Strand! Also, Jona hat vorgeschlagen zum Strand zu gehen. Also nein, zu fahren, der ist weiter weg. Aber schön! Und es gibt Eis! Und Strand!...offensichtlich" Um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich Marthas bloße Anwesenheit schon wieder aus dem Konzept gebracht hat, fülle ich meine Tasse erneut mit dem schwarzen, intensiv duftenden Getränk. „Klingt gut, da komm ich auch mit!" Martha sieht erst kurz zu mir, lässt dann den Blick zu Nele wandern, die heute deutlich ruhiger als sonst am Tisch sitzt. „Na, was ist denn los? Iss doch, wenn ich dir schon mal freiwillig einen Apfel mitbringe!"Marthas gute Laune steckt anscheinend nicht alle am Tisch an. Nele atmet nur hörbar aus, beißt dann nur Martha zuliebe einmal von dem roten Obst ab. Der Blick der so gutgelaunten Frau mit den Sommersprossen auf der Nase verfinstert sich nun augenblicklich. „Stimmt was nicht?" „Doch, doch. Alles ok. Mich hat nur eben der Vermieter der Ausstellungsräume für meine Vernissage angerufen. Er hat jetzt ein besseres Angebot bekommen und mir abgesagt. Es ist viel zu kurzfristig um jetzt noch an einen guten Ausstellungsplatz zu kommen!" Die anderen Gespräche am Tisch stellen sich ein, als Neles Stimme immer lauter und unruhiger wird. „Oh..." Martha hingegen wird ruhiger, kontrolliert jetzt spürbar jede Bewegung ihrerseits um ihre Freundin nicht noch zum Platzen zu bringen. Nele ist normalerweise die Ruhe schlechthin, aber wenn ihr dann mal etwas gegen den Strich geht, kann sie das schon mal zur Weißglut treiben. „Nele, ganz ruhig. Du wirst schon noch was finden. Jetzt sind wir hier. Hier in Frankreich. Arbeit ist erst danach wieder, ok?" Neles Gemüt beruhigt sich wieder, sie beißt erneut in den Apfel. „Ok Leute, also Strand geht klar?", ein einstimmiges Nicken von allen reicht Moritz als Rückmeldung. „Na dann treffen wir uns in einer halben Stunde am Auto und fahren los!" Er erhebt sich, nimmt seine Zeitung vom Kiosk an der Straße mit und verschwindet zu den Zelten. Der Rest folgt ihm mit freudestrahlenden Gesichtern. Bis auf Leni und Cäcilia, die noch unseren Tisch abräumen. Der Tag am Strand wird wundervoll werden, da bin ich mir sicher. Wieder einen ganzen Tag mit Martha verbringen. Mit Martha am Strand. Mit Martha im Meer. Vielleicht ergibt sich ja sogar eine Möglichkeit, ein wenig Zeit zu zweit zu verbringen. Ihre warme, weiche Haut wieder unter meinen Fingern zu spüren, ihren Atem an meinem Hals, ihre Hände in meinen Haaren und ihre Lippen auf meinen. Wie sehr ich mir das wünsche. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für so einen Moment stark gegen Null geht, meine immense Sehnsucht nach ihr wächst. Immer mehr. Immer schneller. Doch auch sonst würde dieser Tag traumhaft werden. Martha aus der Ferne zu betrachten, hat auch was. Und träumen darf man ja mal.

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