Kapitel 17

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Ich liege immer noch hier, eingekuschelt in meinen Schlafsack. Seit fast 24 Stunden habe ich mich nicht mehr bewegt, habe nichts gegessen. Ich lag den ganzen Tag einfach auf der harten Matratze und habe in die Luft gestarrt. Ich bin gebrochen. Ich empfinde keinen Schmerz mehr, mein Inneres, mein Herz ist einem schwarzen Loch gewichen, welches mich immer weiter in den Abgrund zieht. Die Leere in mir ist unerträglich, ich kann nicht mehr denken, nicht mehr weinen. Ich fühle nichts mehr, mir wurde meine ganze Kraft geraubt. Es gibt kein Entrinnen, ich bin in meinem eigenen Körper gefangen. Nele ist mir die ganze Zeit nicht von der Seite gewichen. Sie sitzt einfach nur neben mir, lässt mich wissen, dass sie für mich da ist, drängt sich aber nicht auf. Meine beste Freundin kennt mich, sie weiß, dass ich mit keinem sprechen will, jedoch die Sicherheit brauche, dass jemand für mich da ist. So vergehen einige Stunden, meinen Blick habe ich währenddessen kein einziges Mal von der grünen Zeltwand abgewendet. Mein Körper steht unter Vollnarkose. Nur durch Neles regelmäßiges sanftes Streicheln über meiner Schulter werde ich immer wieder auf die Erde zurückgeholt, sonst befinde ich mich in irgendeinem Paralleluniversum ohne Gefühle, ohne Schmerz, ohne Kummer, ohne Gedanken, einfach im rabenschwarzen Nichts schwebend. Und dann schlage ich mit voller Wucht auf dem Boden der Tatsachen auf. „Martha, bist du da?", höre ich eine verzweifelte Stimme. Plötzlich schießen mir wieder die Tränen in die Augen und laufen mir wie Sturzbäche über die Wangen. Mein Körper spielt total verrückt, ich zittere, mir wird eiskalt, danach wieder glühend heiß. Der wiederkehrende Schmerz breitet sich pochend bis in die kleinste Faser meines Körpers aus. Aber vor allem überfällt dieser nagende Schmerz mein Herz. Es schlägt wie verrückt, als ob es sich gegen die negativen Empfindungen wehren wollte. Jedoch hat es keine Chance, die Person, die da draußen vor dem Zelt steht, ist zulange darauf herumgetrampelt. Ich kann nicht mit ihm reden, ich will ihn einfach nicht sehen. Es würde mich in tausend Stücke zerreißen. Nele ist schon bei Tills erstem Wort aufgesprungen und wartet nur noch auf eine Reaktion von mir. Ich bekomme nicht mehr als ein schwaches Kopfschütteln zustande, natürlich versteht sie mich trotzdem. Im nächsten Moment hat sie das Zelt auch schon verlassen und versucht Till mit fester Stimme zu erklären, dass ich ihn nicht sehen will. Er akzeptiert es einfach, er unternimmt keinen Versuch mich und damit auch Nele umzustimmen, er geht einfach. Die Erkenntnis, dass die Liebe meines Lebens nicht um mich kämpft, erschüttert mich zutiefst. Ich ziehe meine Beine noch näher an meinen Körper, vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und fange an hemmungslos zu schluchzen. Er will mich nicht! Und schon ist Nele wieder bei mir, sie zieht mich in ihre Arme, streichelt mir über meinen Rücken. Wir reden nicht miteinander, sie hält mich einfach nur fest, schenkt mir Geborgenheit, gibt mir Sicherheit. Ganz langsam beruhige ich mich wieder, das heißt aber nicht, dass der Schmerz weniger wird, die klaffende Wunde in meinem Herzen ist einfach zu groß. Erst als Sibel das Zelt betritt, erhebe ich meinen Kopf von Neles Schulter. Die Braunhaarige sieht mich bemitleidend an und setzt sich uns gegenüber. Ganz bedacht fängt sie an zu sprechen „Martha, ich weiß, du willst es eigentlich gar nicht hören, aber ich muss dir das einfach erzählen. Till ... .". Bei der Erwähnung seines Namens spüre ich einen brennenden Stich in meinem Herzen. Und dieses Brennen breitet sich rasend schnell in meinem ganzen Körper aus. Ich brenne. „...hat mir erzählt, dass er nicht über dich, sondern über Rebecca geredet hat." Und schon fängt mein Gedankenkarussell an sich wie wild zu drehen. Ich will ihm glauben. Auch wenn ich wegen ihm in den letzten Tagen so viel Leid und Schmerz ertragen musste, tief in meinem Herzen liebe ich ihn immer noch. Aber ich darf ihm nicht glauben. Ich muss mich und mein verletzliches Herz vor weiteren Enttäuschungen schützen. Ich muss mich vor Till in Acht nehmen. Er tut mir nicht gut. Ohne ein weiters Wort lege ich mich auf die steinharte Matratze und starre wieder auf die gleiche Stelle wie vorher, als ob sich nichts verändert hätte. Jedoch sprechen meine Gedanken und Gefühle eine ganz andere Sprache. Die trostlose Lehre ist dem teuflischen Schmerz gewichen. Und das alles nur, weil ganz tief in meinem Inneren sowas wie Hoffnung aufkeimt. Nele und Sibel waren die ganze Zeit so verständnisvoll, als ich aber das vierte Essen in Folge ausfallen lassen wollte, musste ich mir einen langen Vortrag anhören wie ungesund es ist, so lange Nichts zu essen, dass ich unbedingt etwas in meinem Magen brauche und mich ja auch nicht ewig in unserem Zelt verkriechen kann. Jetzt sitze ich hier, zwischen all den anderen, und wünsche mir nichts Sehnlicheres, als mich in meinem Schlafsack verstecken zu können. Aber erstmal muss ich die Kartoffel, die mir Nele auf den Teller gelegt hat herunterkriegen. Bevor die nicht in meinem Bauch gelandet ist, lassen mich die beiden sicher nicht wieder zurück. Jedoch kann ich einfach nichts essen, mein Magen krampft sich wie verrückt zusammen. Und die Anwesenheit einer bestimmten Person ist für dieses Unterfangen auch nicht gerade hilfreich. Auch wenn er am anderen Ende des Tisches sitzt spüre ich seine Anwesenheit mit jeder Faser meines Körpers. Ich kann nichts gegen die Gänsehaut tun, die sich wie von selbst auf meiner Haut ausbreitet. Die fragenden Blicke der anderen versuche ich so gut es geht zu ignorieren. Das klappt auch überraschenderweise ziemlich gut, da ich so sehr mit dem Gedanken beschäftigt bin nicht an Till zu denken, dass ich meine Umwelt fast komplett ausblenden kann. Nach dem Essen bin ich meinem Schlafsack schon einen großen Schritt nähergekommen, ich muss nur noch schnell meine Zähne putzen, dann kann ich mich endlich wieder vor der ganzen Welt verstecken. Auch wenn ich wirklich keine Lust darauf habe, Hygiene muss sein. Nachdem ich meine Kulturtasche aus dem Zelt geholt habe, schleiche ich mich in den Waschraum. Hoffentlich sieht mich keiner, ich habe weder Bock auf Unterhaltungen, noch auf die bemitleidenden Blicke der anderen. Ich will mich einfach ungestört fertig machen. Das Schicksal meint es jedoch nicht gut mit mir. Ich stecke mir gerade meine blaue Zahnbürste mit viel zu viel Zahnpasta in den Mund, als ich im Spiegel eine Person sehe, die in diesem Moment den Raum betritt. Mein Körper fängt an unkontrolliert zu zittern, meine Atmung verschnellert sich und es bilden sich erste Schweißtropfen auf meiner Stirn, da sich auf ein Mal eine Hitzewelle in mir ausbreitet. Was macht er denn hier? Ich senke meinen Blick auf das weiße Waschbecken und versuche mir einzureden, dass Till nicht gerade neben mir steht, dass ich mir das alles nur einbilde. Das funktioniert natürlich nicht. Im Eiltempo putze ich meine Zähne fertig, wasche mir mein Gesicht und bin dann auch schon auf dem Weg endlich aus dieser viel zu kleinen Räumlichkeit zu flüchten. Kurz bevor ich die Tür erreiche, höre ich auf einmal Tills sanfte Stimme. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. „Martha, glaubst du wirklich, dass ich mit dir surfen gehen würde, dass ich so viel Zeit mit dir verbringe, wenn ich dich nervig finden würde? Du bist mir doch so unglaublich wichtig.", flüstert er aufgelöst. Ich bin unfähig etwas zu sagen. Meine Beine bewegen sich wie von Geisterhand und tragen mich weg, weg von der Person an die ich mein Herz verloren habe. Das kleine Fünkchen Hoffnung in mir ist gerade ein Stückchen gewachsen.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt