Kapitel 50

77 2 0
                                    

Gerade fühle ich mich einfach nur glücklich, unbeschwert, frei. Ich genieße jeden Tag, jede Stunde, jeden einzelnen Moment, den ich mit meinen ehemaligen Klassenkameraden verbringen kann, viel zu lange haben wir uns nicht gesehen, viel zu sehr habe ich sie während der letzten Jahre vermisst. Und dann ist ja da auch noch diese eine, ganz besondere Person, Till. Ich spüre ihn, nehme seine pure Anwesenheit mit jeder Faser meines Körpers wahr, kann von diesem wohltuenden, aufregenden, kribbelnden Gefühl, das meine Magengegend, mein Herz, meinen ganzen Körper überfallen, eingenommen hat, nicht genug bekommen. Ich bin süchtig, süchtig nach ihm, süchtig nach Till. Heute Morgen hatte ich Angst, Angst, dass ich Till mit meinem distanzierten, reservierten Verhalten abgeschreckt, verletzt habe, dass ich es nicht schaffe über meinen eigenen rabenschwarzen Schatten zu springen, dass ich lieber in meiner wohlbekannten Komfortzone bleibe, anstatt meinem sehnsüchtigsten Wunsch, meinem überwältigenden Verlangen nach ihm, nach Nähe, nach Berührungen, nach Küssen, nach einfach Till nachzugeben. Ich habe mir echt Sorgen gemacht, dass ich ihn verlieren werde, dass ich, was auch immer das zwischen uns letztendlich ist, kaputt mache, zerstöre, wenn ich ihm nicht endlich zeige, wie viel er mir wirklich bedeutet, wie verdammt wichtig er mir ist, wenn ich es nicht schaffe, zu ihm zu stehen, vor allem in der Anwesenheit der Anderen, wenn wir nicht alleine sind, wenn wir nicht vor den interessierten Blicke geschützt sind. Aber diese, fast schon panische, Angst war unbegründet, hat sich wie von selbst in Luft aufgelöst. Dank Till, unserer leidenschaftlichen Begegnung im Wald, unserem immer vertrauter werdenden Umgang miteinander, dem Gefühl von Sicherheit, von Angekommen sein, von zu Hause sein, das sich vollständig in meinem nach Till begehrenden Körper ausbreitet, wenn er in meiner Nähe ist, wenn ich nur an ihn denke, wenn ich von ihm träume. Seine Worte, die sich so aufrichtig, so ehrlich, so echt angehört haben, haben mich in meinem Innersten, in meinem Herzen, in meinem verletzlichsten Punkt, getroffen. Sie haben den Ballon, in den ich mich verkrochen habe, aus dem ich nicht alleine herauskommen konnte, mit Leichtigkeit zerplatzen lassen. Sie waren die spitze Nadel, die so viel, so viele sehnsuchtsvolle Gefühle in mir aufgerüttelt hat, in Bewegung gebracht hat, die die unstillbare Gier nach ihm zum Überkochen gebracht hat. Sein Liebesgeständnis, und es war eins, da bin ich mir sicher, auch wenn er die drei letzten, magischen Worte nicht aussprechen konnte, haben so viel in mir bewirkt, haben mir aufgezeigt, dass er mich will, dass ich ihn will, dass wir uns wollen, dass er schon längst in die Schlacht, unsere ganz eigene, emotionale Schlacht gezogen ist, dass ich nachziehen muss, dass ich um ihn, um uns kämpfen muss. Vielleicht wäre es zu früh für diese wertvollen Worte, die so viel verändert hätten, gewesen, aber ehrlich gesagt, ist mir das scheiß egal. Ich war in meinem Leben noch nie so sicher, so vollkommen davon überzeugt, dass meine Entscheidung richtig ist, dass Till der Richtige für mich ist, dass ich ihn in meinem Leben brauche, dass ich ihn liebe. Jedoch traue ich mich nicht auf ihn zuzugehen, ihm meine intensiven Gefühle zu gestehen, ihm offen zu legen, dass ich ihn aus vollem Herzen liebe. Es wäre so viel einfacher, wenn Rike ihn nicht unterbrochen hätte, wenn er es zum ersten Mal laut ausgesprochen hätte, wenn er diesen Schritt gemacht hätte. Trotzdem waren seine liebevollen Worte mehr als wichtig für mich, sie haben mich mit Zuversicht erfüllt, mir Mut geschenkt, mich mit Vertrauen in ihn, in mich, in uns überflutet. Ich hatte keine andere Chance, hatte keine Möglichkeit mich gegen das Begehren, die Anweisungen meines Herzens zu wehren. Ich musste einfach für ihn da sein, ihm etwas von meiner neugewonnen Zuversicht abgeben, ihm Halt geben, als er uns die gräflichen Klippen sicher herunterbefördert hat, ihm die Panik in sein bildhübsches Gesicht geschrieben war. Ich habe auch das Gefühl, dass sich unsere gewaltige Anziehungskraft mit jedem Kuss, jeder Berührung, jedem noch so kleinen Schritt, den wir aufeinander zugehen, verdoppelt, ins Unermessliche steigert Ich muss mich ihr beugen, kann gar nicht mehr anders, bin ihr schutzlos ausgeliefert. Mein Verlangen nach ihm ist einfach zu groß, zu machtvoll, zu kraftvoll, da können auch meine ängstlichen Bedenken, meine gehaltvollen Sorgen, meine Mitschüler nichts mehr dagegen auswirken. Meine Sehnsucht nach Till ist einfach zu stark. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?", reißt mich eine flüsternde Stimme ganz nah an meinem rechten Ohr aus meinem Gedankenstrudel. Ich zucke vor Schreck kräftig zusammen, will eigentlich so schnell wie möglich wieder Abstand zwischen unsere überhitzten Körper bekommen, doch irgendwas ganz tief in mir hält mich davon ab, lässt es nicht zu, dass ich mich nur einen Millimeter von ihm wegbewege, nein es zwingt mich sogar dazu, mich ihm noch ein kleines Stückchen zu nähern, bis mein Rücken an seiner durchtrainierten Brust lehnt, wir uns eigentlich für diesen Moment viel zu nahe sind. Doch augenblicklich fängt mein Herz, das sowieso schon wie verrückt pocht, an zu rasen, schlägt einen undefinierbaren, stürmischen Beat. Diese plötzliche Nähe fühlt sich so unfassbar gut an, die weiche, nackte Haut seiner muskulösen Brust an meinem Rücken lässt die Hormone in meinem Körper explodieren, entfacht ein aufregendes, prickelndes Kribbeln, das sich unaufhörlich in meinem ganzen Körper ausbreitet, jedes noch so kleine Körperteil einnimmt, mich elektrisiert. Mit dem letzten Funken Verstand, den ich irgendwo ganz tief in meinen Gehirnwindungen ausgegraben habe, den Tills Anwesenheit noch nicht außer Gefecht gesetzt hat, lasse ich meinen Blick noch einmal über meine Freunde wandern. Till und ich sind zum Glück ein paar Meter vom Rest der Gruppe entfernt. Dieser Rest, ein Pulk von 11 lachenden und schreienden jungen Erwachsenen ist immer noch in eine hemmungslose Wasserschlacht vertieft, bekommen nicht mit, was um sie passiert, nicht mal die 3 Mädels, die sich unweit von dem chaotischen Haufen aufgestellt hat, die uns seit einiger Zeit einfach nur beobachten, wurde von der wildgewordenen Meute entdeckt. Ich bemerke wie der Blick der kleinsten Frau immer wieder zu Till und mir rüber huscht, sie uns skeptisch, mit gekräuselter Nase beobachtet. Aber diese doch zugegebenermaßen bildhübsche weibliche Person interessiert mich gerade nicht die Bohne. Meine volle Aufmerksamkeit gilt einzig und allein dem warmen Körper, dem einzigartigen Typen hinter mir. Das Wissen, dass der Mann, den ich mehr als alles andere liebe, den ich mehr als alles andere begehre genau hinter mir steht, dass kein Blatt mehr zwischen unsere Oberkörper passen würde, macht mich verrückt, lässt mich die Kontrolle über meinen eigenen Körper, über meine eigenen Gedanken verlieren. Selbst die Tatsache, die möglicherweise daraus resultierende Angst, dass wir nicht alleine sind, dass unsere Freunde keine 10 Meter von uns entfernt durchs Wasser tollen, dass wir mitten im offenen Meer, wie zwei Kletten aneinander kleben, dass uns jeder an diesem bilderbuchhaften Strand beobachten könnte, werden von dem unbändigen, ins Gigantische gesteigerte Verlangen nach noch mehr Till, nach noch intensiverer Nähe in die hinterste, dunkelste Ecke meines Gehirns in einen großen, verstaubten Schrank geschlossen und haben keine Chance mehr daraus zu entwischen. Ich habe meine lästigen, beißenden Bedenken verbannt, eingesperrt. Sie haben keine Möglichkeit mehr mich, mein Handeln, uns negativ zu tangieren. Jetzt, in diesem außergewöhnlichen Momentum zählt einfach nur Till, einfach nur wir, einfach nur unsere Zweisamkeit. Seine pure Anwesenheit, sein betörender, berauschender Duft nach Tannennadeln, der ihn trotz des Salzwassers noch schwach umgibt, steigt mir in die Nase, verzaubert mich, vernebelt mein Denkvermögen, lässt keinen klaren Gedanken mehr zu. Till, einfach nur Till, immer nur Till. Ich bemerke, wie sich Till bewegt, sich leicht nach vorne, zu mir runterbeugt. Ich spüre wie seine weichen Lippen, sein glühender Atem ganz langsam von der Mitte meiner Schulterblätter zu meinem linken Ohr wandern, er leicht, aufreizend gegen meine Ohrmuschel pustet. Schlagartig bildet sich eine starke Gänsehaut auf meinen Oberarmen, meinem Rücken, meinem Nacken. In Windeseile steht jedes noch so unscheinbare Härchen auf meinem Körper. Ich stehe in Flammen, ich brenne, brenne nach ihm. Ich halte den Atem an. Bin nicht in der Lange neuen, lebenswichtigen Sauerstoff in meine Lunge aufzunehmen, geschweige meinen normalen Atmungsrhythmus weiterzuführen. Die Herrschaft über mich, meinen nach Tills Berührungen verzehrenden Körper ist schon lange nicht mehr in meiner Gewalt. Sie ist in seine Hände gewandert, er hat die Kontrolle über mich, meine aufgewühlten Gefühle, meine extremen Empfindungen, meinen verräterischen, nach ihm begehrenden Körper. Er hat mich in der Hand, ich gehöre ihm, vollständig. „Bekomme ich heute noch ne Antwort, oder bring ich dich so aus der Fassung, dass du nicht mehr weißt wie man spricht?" Lautstark lasse ich den angehaltenen Atem pressend aus meinem leicht geöffneten Mund entweichen. Warum bin ich so wahnsinnig nervös? Warum zum Teufel reagiere ich so unfassbar stark auf ihn? Warum hat er eine so gigantische Wirkung auf mich? Warum verliere ich in seiner Gegenwart meine sonst so beständige Selbstbeherrschung? Das gefällt mir ganz und gar nicht, das macht mich sauer. Ich will kein nach Till schreiendes, sehnendes, wie nach Luft japsendes etwas sein, das es nicht erwarten kann endlich von ihm angefasst, geküsst zu werden. Nein, das bin ich nicht. Nein, das will ich nicht. So einfach möchte ich es ihm jetzt auch nicht machen. Ich versuche mein viel zu laut pochendes Herz, meine schwitzigen Handinnenflächen, meine aufkeimende Aufregung, die sich brennend, kribbelnd in meinem ganzen Körper ausbreitet, sich wie eine tonnenschwere Last auf meine Brust setzt, mir das Atmen so noch schwerer gestaltet, zu ignorieren. Ich versuche mit aller Macht die alte, schlagfertige, nicht von Liebe eingenommene Martha hervorzuholen, ans Licht zu bringen. „Natürlich weiß ich wie man spricht. Ich bin ja nicht dumm...aäähhh....so wie du.", erwidere ich nach einer halben Ewigkeit heiser, fast tonlos. Wow, super Martha. Sind wir jetzt auch schon auf dem Niveau eines Kindergartenkindes angekommen. Tills vibrierender Oberkörper, seine leise, glucksende Lache direkt an meinem Ohr, sein durch das Lachen abgehakter Atem, der immer und immer wieder glutheiß über meinen Nacken streift, zeigt wie viel Till von meinem glorreichen Konter hält. Nämlich gar nichts. Er lacht mich aus. Und ich, ich bin schon wieder überwältigt von diesen imposanten Gefühlen, von diesen ausufernden Empfindungen. Die gewaltige Gänsehaut, die sich daraufhin auf meinem Körper vollständig ausbreitet, mein hüpfendes, stolperndes Herz, die unberechenbaren Hitzewallungen, warm, kalt, dann heiß, und wieder eisig, sind die Antworten meines treulosen Körpers auf seinen bescheuerten Atem in meinem Nacken, auf seine unglaublich hässlichen Lache, auf seine reine Gegenwart. „Was anderes ist dir nicht eingefallen? Das kannst du doch besser, Marthalein" Sein Mund bewegt sich schleichend von meiner Ohrmuschel weg, jedoch bleibt er ganz nah bei mir Ich spüre seine Lippen, spüre die sanften Küsse, die er mir zart auf die erhitzte Haut meines Nackens haucht, bis er an meinem rechten Ohr angekommen ist. „Ist meine Wirkung auf dich echt so krass, dass dir kein Konter mehr einfällt? Dann musst du mir aber wirklich verfallen sein.", wispert er rau in mein Ohr. Sein selbstgefälliges Grinsen kann ich dabei regelrecht hören. Aber ich kann einfach nichts machen, bin nicht fähig etwas zu sagen, mich zu bewegen. Diese liebevolle Geste, die unzähligen Küsse, die er wie eine Kette ganz gefühlvoll auf meinen Hals gedrückt hat, haben mir den Rest gegeben, ich bin verloren. Ich habe mich in Till verloren. „Idiot", das ist das einzige, was ich krächzend über meine Lippen bekomme Schon wieder dieses leicht kratzige, unfassbar angenehme Lachen ganz nah an meinem Ohr. Weiß dieser Typ eigentlich was er mit mir anstellt? Und zu meinem Leidwesen weiß er leider ganz genau was er in mir anrichtet, weiß haarscharf über seinen ausgeprägten Einfluss auf mich Bescheid. „Hey", eine weibliche Stimme direkt neben uns, reißt uns aus diesem intimen Moment, aus unserer innigen Zweisamkeit, zerstört diesen vertrauten Augenblick. Till und ich schrecken auseinander, versuchen so schnell wie möglich wieder einen Sicherheitsabstand zwischen unsere nacheinander sehnenden Körper zu bekommen.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt