Kapitel 10

367 11 0
                                    

„Martha, kannst du mir mal bitte die Marmelade geben?" Hermann, der am anderen Ende des Tischs sitzt, zeigt auf das rote Glas vor mir. Ich reiche es Sibel, diese wiederrum drückt es dem Jüngeren in die Hand. Ich schenke ihm noch ein freundliches Lächeln, bevor ich wieder genüsslich in mein Honigbrot beiße. Die Vögel zwitschern, fliegen uns knapp über die Köpfe, in der Ferne vernimmt man leise das Lachen anderer Camper. Die warme Morgensonne legt sich vorsichtig auf mein Gesicht. Ein Grinsen ziert meine rosa Lippen, als ich die Augen für einen Moment schließe. So glücklich bin ich sicherlich noch nie aufgewacht. Und erst recht nicht so früh! Der Wecker klingelte um acht Uhr, doch ausnahmsweise störte mich das nicht. Und meine außergewöhnlich gute Laune blieb auch nicht unbemerkt. Sibel sprach mich sofort darauf an. „Hab nur gut geschlafen", habe ich geantwortet. Dass die Versöhnung mit Till eventuell auch ein Grund für meine gute Stimmung könnte, musste ich ihr ja nicht direkt auf die Nase binden. Ich werde von Rike aus meinen Gedanken geholt, die gerade ziemlich laut ihrem Laberbuch den gestrigen Tag schildert und dabei besonders vom „gigantischen Lagerfeuer" und den „genialen Würstchen" schwärmt. Wow...Wie verrückt das alles ist, jetzt hier mit allen meinen alten Freunden draußen an einem langen Tisch unter der Sonne Frankreichs zu sitzen und diese Unbeschwertheit in vollen Zügen zu genießen. Ich lehne mich auf dem wackligen Campingstuhl zurück und blicke in die Runde. Jona flüstert Hermann gerade etwas ins Ohr, daraufhin kichert dieser. Till schaufelt sich sein Proteinmüsli viel zu schnell in den Mund, Rosa stochert müde in ihrem bunten Obstsalat. Sie war noch nie eine große Frühaufsteherin. „Till? Ich kann heute nicht mit dir laufen gehen, sorry." Augenblicklich verschluckt sich unser Sportler, fängt an zu husten. Die Blicke der anderen schnellen in seine Richtung. Meiner auch. Er nimmt einen Schluck von unserem selbstgepressten Orangensaft und antwortet dann seinem besten Freund: „Wie, du kannst nicht mitkommen, wieso?" „Ich habe den schlimmsten Muskelkater überhaupt. Hättest mich halt vorgestern nicht zweieinhalb Stunden mit dir in deinem Tempo den Berg hochrennen lassen sollen" meint Viktor nur entgeistert. Er ist anscheinend lange nicht mehr so fit wie damals. „Man, ich will aber nicht alleine laufen. Das ist total langweilig! Du kannst mich doch nicht wegen so einem Muskelkater im Stich lassen und außerdem muss ich dringend für die Europameisterschaft trainieren!" Till scheint enttäuscht zu sein, ich weiß, dass er es hasst alleine zu laufen. „Ich kann mit dir laufen gehen", vernehme ich eine Stimme aus der Runde. Aber als ich bemerke, dass unsere ganze Gruppe mich überrascht anstarrt, wird mir klar, dass ich diejenige bin, die gerade vorgeschlagen habe mit Till, einem Profisportler, freiwillig zu trainieren. Gerade ich, ich mache doch nie Sport! Aber jetzt gibt's kein zurück mehr, mein Mund war mal wieder deutlich schneller als mein Gehirn und meine armen Beine müssen jetzt dafür die Konsequenzen tragen. „Echt jetzt? Du?" Auch Till scheint äußerst überrascht zu sein. So jetzt los, Martha, zeig ihnen deine Schauspielkünste. Wäre ja mega peinlich, jetzt einen Rückzieher zu machen. Ich sehe ihn gespielt überzeugt an, lege beide Handflächen auf der alten Tischplatte ab und stehe auf. „Ja klar, in zehn Minuten vor meinem Zelt?" „Na gut, okay." Till klingt zwar noch leicht verunsichert, aber immerhin ziehen sich seine Mundwinkel ein winziges bisschen nach oben. Kurze Zeit später stehe ich mit meiner Zahnbürste im Waschraum. Komm schon, so anstrengend kann das doch gar nicht sein. Du setzt einfach immer einen Fuß vor den anderen, das wird schon. Ich versuche mir Mut zu machen und meine Laune etwas zu steigern, indem ich noch kurz mein Lieblingslied höre. Aber nachdem Till mich abgeholt hat und sofort in einem wahnsinnigen Tempo losflitzte, wurde mir bewusst, dass das der wahrscheinlich anstrengendste Vormittag meines Lebens werden würde. Und jetzt joggen wir hier im Wald, er zehn Meter vor mir und wirkt kaum angestrengt, während ich mich jeden verdammten Meter nach vorne kämpfe, atme wie ein gestrandetes Walross und mir der Schweiß in Bächen von meiner knallroten Stirn läuft. Vor mir sehe ich, wie Till umdreht, auf mich zujoggt, einmal um mich herumläuft und wieder vor mir in die Ferne rennt. Sein Kopf dreht sich noch einmal zu mir: „Was?! Kann die Super-Sport-Martha etwa jetzt schon nicht mehr?" Er lacht mich aus. Ernsthaft? In diesem Moment, indem ich überzeugt bin, dass es nicht länger als 5 Minuten in diesem Tempo dauern wird, bis ich völlig entkräftet zu Boden gehe, wagt er es sich über mich lustig zu machen? Na du kannst was erleben, denke ich, nehme all meine letzte Kraft zusammen und lege einen Sprint hin, der mich sogar Till überholen lässt. Aber die beste Idee scheint das auch nicht gewesen zu sein, denn nun gibt mein Körper endgültig den Geist auf und ich bleibe stehen. Ich vernehme ein Lachen hinter mir und bin selbst überrascht es neben meinen unfassbar lauten, schweren Atemzügen überhaupt zu hören. Der Angeber kommt neben mir zum stehen und sein Gesichtsausdruck wechselt von belustigt zu besorgt, als ihm meine momentane Verfassung bewusst wird. „Kommst du klar?" Er legt seine Hand auf meine Schulter und beugt sich leicht nach vorne um mir auch in meiner gebückten Position in die Augen zu sehen. „Ja klar, hab nur bisschen Seitenstechen" bringe ich hervor. Jetzt bloß nicht unsicher rüberkommen, Martha! „Ja ja, ist klar. Komm, dann gehen wir eben ein Stück", meint er nur. Mein Atem beruhigt sich langsam wieder und mein Puls legt sich. „Jetzt hältst du mich auch noch vom Training ab", fügt er noch grinsend hinzu und zwinkert leicht. „Pff, nicht mein Problem." Ich versuche ernst zu bleiben, aber ein kleines Lächeln kann ich mir nicht verkneifen. „Hast du gewusst, dass Moritz in drei Tagen Geburtstag hat? Hat mir heute Morgen Rike erzählt." Verwundert blicke ich zu ihm auf. „Nein, ist mir neu. Wie kommst du denn jetzt darauf?", frage ich Till und wedle mir mit der rechten Hand etwas kühlere Waldluft zu. „Ich fände es total cool, wenn wir eine Party für ihn organisieren würden. Eigentlich passt das doch super, wenn wir alle gerade gemeinsam im Urlaub sind." Und schon wieder zwinkert er mir zu. Scheint ihm wohl Spaß zu machen heute. Die Idee mit der Geburtstagsfeier finde ich aber genial, Moritz tut immer so viel für uns alle, das hat er sich einfach richtig verdient. „Wir könnten doch Girlanden in der Stadt kaufen und einen Kuchen backen!" schlage ich vor. „Oh backst du dann den Kuchen, Fräulein Pracht? Das kannst du doch so gut" er stupst mit seiner Schulter die meine und zwinkert schon wieder. „Ja wer weiß, vielleicht bist du dann diesmal derjenige, der sie auch ins Gesicht bekommt", meine ich nur lachend. „Von dir würde ich sowas sogar über mich ergehen lassen!" Und auch er beginnt zu lachen, legt dabei den Kopf in den Nacken. „Aber wir sollten noch mit Rike darüber reden, sie hat sicher auch noch Ideen und hatte die letzten fünf Jahre viel Kontakt zu ihm" „Da hast du Recht", antworte ich ihm und beginne wieder zu joggen. „Was ist? Kannst du jetzt nicht mehr?" rufe ich ihm entgegen, als er sich nicht gleich von der Stelle bewegt. Ich bin wirklich heilfroh, als wir den Wald verlassen und in der Ferne unsere Zelte sehen können. Aber da bleibt Till wieder stehen, stellt seine Füße hüftbreit und beginnt irgendwelche Dehnübungen. Nein, nicht mit mir. Dass ich nach so einer anstrengenden Laufrunde auch noch meinen Körper verrenke, dazu fehlt mir wirklich jegliche Motivation. Also setzte ich mich im Schneidersitz vor ihn und schaue ihm eben zu. Ich gebe zu, es sieht schon ziemlich heiß aus, wie sich sein trainierter Bizeps bei den Übungen abzeichnet und die schwitzige Haut die starke Sonne reflektiert. „Ich fühl mich etwas gestalked, Martha." Er hat aufgehört, sich zu dehnen und steht jetzt, die Hände in die Hüften gestemmt, direkt vor mir. „Hmmm...ok", antworte ich nur verträumt, ohne seinen vorherigen Satz richtig wahrgenommen zu haben. „Okay?!" Ein leicht verstörter Blick bildet sich auf seinem gebräunten Gesicht ab, er hält mir jedoch die Hand hin und zieht mich zurück auf die Beine. Ich bedanke mich noch bei ihm und wir beide machen uns auf den Weg zu den Duschen. Heute sollte anscheinend einfach nicht mein Tag werden. Als ich frisch geduscht in unser Zelt krabbelte, erzählt mir Nele von einem Kunstmuseum, dass heute irgendeine Sonderausstellung zeigt die sie unbedingt sehen muss. Und wie erwartet, hat natürlich niemand der anderen Lust, den traumhaften Tag in einem Palast voller merkwürdiger Gemälde zu verbringen. Aber als beste Freundin kann ich ihren Wunsch natürlich schlecht abschlagen und ergebe mich, mit ihr dorthin zu gehen, während der Rest die nächste Stadt erkundet. Wie schon gesagt, voll mein Tag. Erst joggen und jetzt auch noch Kunst. Gemeinsam mit den anderen fahren wir mit unserem Wagen zum Museum. Schon die ganzen Plakate an den Wänden neben dem Eingang kommen mir völlig merkwürdig vor. „Kunst ist Hoffnung" steht da in allen Sprachen geschrieben. Dahinter ein Bild mit einem roten Kreis und schwarzen Streifen. Ich betrachte es nochmal und stelle fest: ich spüre keine Hoffnung. Auch sonst kein Gefühl. Ich spüre nichts. Ich werfe dem Kreis noch einen abwertenden Blick zu, als könnte ich damit seine Gefühle verletzen und betrete das Museum. Neles Augen beginnen zu strahlen, sie blickt in alle Richtungen, scheint sichtlich überfordert zu sein mit all den Bildern. Ich beschließe der Kunst doch nochmal eine Chance zu geben und bleibe vor dem ersten Gemälde stehen. Ein gelber Elefant, der auf dem Rücken liegt und wie ein umgeworfener Käfer mit den dicken Beinen in der Luft strampelt. Was ein Müll. In meiner Welt sind Elefanten immer noch grau und nicht gelb. Am liebsten würde ich das Bild von der Wand reißen und einmal drehen, damit das arme Tier wieder mit den Beinen auf dem festen Boden steht. Das kann sich doch keiner anschauen! Ich gehe weiter, überspringe ein paar Werke, die mir zu langweilig erscheinen und bleibe vor einem stehen, bei dem sich das Lachen wirklich nicht unterdrücken lässt. Ich ernte ein paar genervte Blicke von Kunstfreunden um mich herum, die mit ihren Leinenhemden begeistert die Bilder genauestens analysieren. Ich betrachte wieder das Bild vor mir. Abgebildet ist ein Strichmännchen im tiefsten Schwarz, dass den Zeigefinger in eine Flamme hält, die aus Tonpapier ausgeschnitten und aufgeklebt wurde. Der Hintergrund ist grün. Kotzgrün. Wie kann man sowas bitte als Kunst bezeichnen?! Bin ich froh, als Nele eine halbe Stunde später auf mich zukommt und wir gemeinsam das Irrenhaus verlassen. Drei Kugeln Eis sind jetzt genau das, was ich brauche. Ich schlage Nele vor, zurück zu den anderen zu gehen, die anscheinend, ihrem begeisterten Kopfnicken nach zu urteilen, auch nichts gegen etwas Süßes hat.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt