Kapitel 49

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Tills Sicht:

Schnell ziehe ich mir noch ein frisches Shirt über, putze meine Zähne und packe mir ein Handtuch und eine große Flasche Wasser in den kleinen grauen Rucksack neben meiner Matratze. Ich schultere ihn und verlasse hinter Viktor das Zelt. „Und? Wie geht's dir so?", fragt mich mein Freund auf Höhe des Waschraums. Ich lache auf. „Gut, wieso?" „Ach, nur so. Interessiert mich halt." Kurz ist es still. Die Sonne sticht inzwischen stark und der Wind von heute Morgen hat komplett nachgelassen. „Wo warst du eigentlich vor dem Frühstück?" „Ähh, ich hab Sport gemacht. Hat heute bisschen länger gedauert." Mein Blick gilt dem Boden, verzweifelt versuche ich seinen Augen auszuweichen. Viktor kennt mich. Er würde sofort merken, dass ich ihm etwas verschweige. „Ach ja? Wieso denn?" „Nur so, der Wald war heute so schön und da war diese Lichtung. War toll da. Und ich war heute richtig in Form!" Ich spanne meinen Bizeps an, fälsche ein Grinsen. „Und Martha hab ich dann am Ende noch getroffen, die war da zufällig auch im Wald." „Achso, ganz zufällig?" Ok, Contenance, Till. Konzentrier dich! „Ja. Genau so. Und jetzt komm, ich will zum Strand!" Schnellen Schrittes laufe ich voraus, steuere den alten Van an, vor dem schon Rike, Pit und Moritz warten. Ich entschließe mich dazu, zu fahren und öffne schon einmal die Fahrertür, lasse frische Luft in den verstaubten Bus. Nach und nach gesellt sich auch der Rest zu uns, als letztes Martha, die in ihrer kurzen schwarzen Hose und der rotgemusterten Bluse umwerfend gut aussieht. Wie schafft sie es nur, mich alleine mit ihrer Präsenz so aus der Fassung zu bringen? Sie zieht mich so ihren Bann, hält mich fest, meine ganze Aufmerksamkeit gehört nur ihr ganz allein. Ein leichtes Lächeln kann ich nicht unterdrücken, bevor ich mich vor das Steuer setze und warte, bis auch alle anderen zwölf eingestiegen sind. Jona nimmt samt ihres Reiseführers neben mir Platz und dreht das alte Radio auf. Wider ertönen die französischen Lieder, die uns teilweise schon bekannt sind und sofort noch bessere Laune verbreiten. Die Fahrt an den Strand stellt sich als schwerer heraus als gedacht. Richtige Straßen gibt es nur anfangs. Die Hauptstraße zur nächsten Großstadt. Ab dort geht es weiter über einen hügeligen Feldweg bis wir an einer hohen Klippe ankommen. Ich bleibe stehen. Das Schild zum Strand führt nach links, Jona bestätigt das mit ihrer Landkarte. Allerdings ist dieser Weg extrem schmal und so steil, dass es mir Angst macht. Spitze Steine zieren den Pfad, der sich die Felswand hinunterschlängelt. Wir können zwar schon von oben den Parkplatz erkennen, haben somit die Sicherheit, den richtigen Weg gewählt zu haben, und es stehen sogar zwei Autos sicher dort, aber keines davon ist ein Bus und erst recht nicht aus dem gleichen Baujahr. „Na los, Till. Oder hast du jetzt etwa Angst? Muss ich übernehmen?" Cäcilias freche Stimme erreicht meine Ohren. Durch den Rückspiegel erkenne ich, wie Leni augenblicklich die Hand auf den Arm ihrer Freundin legt, diese somit zum Verstummen bringt. Na dann mal los Ich starte den Motor, rolle vorsichtig nach vorne und biege nach links ab Die Felswand an meiner linken Seite ist nicht abgesichert. Jeder Zeit könnten Steinsbrocken abfallen und auf das Auto knallen. Das wäre dann das sichere Ende. Auch auf der anderen Seite, dort wo es metertief gerade nach unten geht, ist nichts abgesichert. Keine Leitplanke, kein Seil, nichts. Fest halte ich meinen Fuß auf der Bremse, rutsche schon fast Millimeter für Millimeter hinunter. Bis zur ersten Kurve. Eine Kurve, die so eng und scharf steil hinuntergeht. Selbst für erfahrene Fahrer eine echte Herausforderung. Ok, mir bleibt keine Wahl mehr. Zurück kann ich nicht, keine Chance. Ich lenke und das Auto dreht sich unfassbar langsam um 180 Grad. Dann wieder eine Gerade. Gleiches Spiel wie eben. Ich zähle die noch vor mir liegenden Kurven: fünf Stück. Fünf Mal noch diesen Albtraum überleben, dann ist es geschafft. „Nimm dir Zeit, Till" Ihre Stimme beruhigt mich. Die weiche Tonlage Marthas lässt meinen verkrampften Körper etwas entspannen und ich sammle neue Energie für die nächste Kurve. Tief atme ich durch, dann rutscht der Wagen ab. Nur einen kleinen Zentimeter, doch es reicht um Geröll zu lockern, das nun den Abgrund hinunterfällt. Der Van hält. Er bleibt stehen und ich lenke und fahre weiter. Mein Herz pocht nun wie verrückt in meiner Brust, Blut wird in Rekordtempo durch meine Adern gepumpt und meine Beine zittern vor Angst und Anstrengung. Bald, bald ist es geschafft. Die Schweißperlen stehen mir auf der Stirn. Neben mir krallt sich Jona in den Griff der Beifahrertür, verkrampft ihre Hand. Die letzte Kurve liegt nun noch vor uns, danach wird es endlich flacher. Wir erreichen das Ende und parken neben einem grünen Jeep. Ich ziehe den Schlüssel aus dem Schloss und atme geräuschvoll aus. Geschafft. Wir steigen aus und ich wische mir den Schweiß aus der Stirn. Mit einer Hand halte ich mich am Dach des Autos fest, drohe sonst unter meinen zittrigen Beinen zusammenzubrechen. Hermann klopft mir auf die Schulter: „Puh, Respekt. Das war..." „...Nervenaufreibend? Ja, definitiv.", beendet Rosa seinen Satz. Ich schließe noch einmal die Augen, versuche mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bringen. Bis ich dann zarte Fingerkuppen an meinem rechten Handrücken spüre. Die Hand, die hinter meinem Rücken ruht. Jemand steht hinter mir, streift meine Haut. „Alles gut?" Wieder Marthas sanfte Stimme. Ihre Berührung beruhigt mich, ihr Duft lässt mich immer mehr entspannen. Ich nicke nur, öffne wieder die Augen und blicke direkt durch das Gebüsch auf den Strand. „Wow..." Die brennende Augustsonne strahlt auf das weite Meer, lässt es glitzern und funkeln. Wie abertausende Diamanten reflektieren die Wassertropfen, die von den kräftigen Wellen in die Luft gewirbelt werden. Das hohe Gras umrandet wie auch schon auf dem Werbefoto in Jonas Reiseführer den kleinen Strandabschnitt. Wir schlängeln uns in einer Reihe durch das ziemlich dichte Gebüsch. Äste zerkratzen unsere Arme, Martha vor mir flucht immer wieder und schlägt mit ihrer Badetasche das Geäst zur Seite. „Leute? Ich glaube, wir sind im Paradies", schwärmt Sibel, zieht augenblicklich ihr Handy aus der Hosentasche, macht ein Bild und schickt es mit kurzem Text als Anhang an den Kontakt „Babe". Na, Pawel wird sich sicherlich darüber freuen. Sitzt im langweiligen Deutschland und wird mit Bildern aus einem absoluten Traumurlaub überhäuft. Nele drängt sich an ihrer Freundin vorbei und streift sich ihre Sandalen von den Füßen. Auch ich befreie mich von den viel zu warmen Turnschuhen, trage sie in meiner linken Hand und spüre endlich wieder Sand unter meinen Füßen. Heißen, fast schon weißen Sand. Die Körner so fein, dass man für einen Moment das Gefühl hat, auf Samt zu laufen. Es tut gut, die sanfte Meeresbrise wieder im Gesicht zu spüren, der Wind, der mir durch die kurzen Haare fährt, die winzigen Salzkristalle, die an der Haut kleben bleiben. Ich atme einmal tief ein und langsam wieder aus. Fülle meine Lungen mit der gesunden Luft und fühle mich dadurch unmittelbar leichter. Meine Vorfreude auf den heutigen Tag steigt wieder enorm, nachdem ich mich während der Höllenfahrt die Klippe hinunter am liebsten wieder in mein Bett im Zelt gezaubert hätte. Unsere Gruppe sucht sich einen Platz etwas am Rand, dort wo wir völlig ungestört sind. Ein einzelner Baum spendet ein bisschen Schatten, dort legen sofort Rike, Moritz und Pit ihre Handtücher ab. Die anderen reihen sich daneben. Nele, Sibel und Rosa, dann Cäcilia, Leni, Jona und Hermann. Viktor breitet gerade anschließend sein grünes Badetuch auf dem Sand aus, zieht sich kurz später das Shirt über den Kopf und lässt es in seinem Rucksack verschwinden. „Kommst du gleich mit ins Wasser? Ich brauch jetzt dringend eine Abkühlung", frage ich Martha, die starr neben mir stehen geblieben ist. Die Hitzewelle, die nach dem Sturm über Frankreich zieht, macht uns merklich etwas zu schaffen. Nach den kühlen Tagen benötigen wir alle wieder etwas Zeit zur Anpassung. Gerade überfährt mich die Stärke der Sonne und die daraus resultierende Hitze förmlich, weswegen ich mich ungemein auf die frische Abkühlung des Atlantiks freue. „Ja...ähh, klar. Ich...ich glaub ich leg mich aber neben Nele. Die Absage des Vermieters muss sie wohl doch mehr beschäftigen, als ich dachte. Sorry, Till." Ihr Blick ist auf ihre beste Freundin gerichtet, die inzwischen im Schneidersitz auf ihrem Handtuch Platz genommen hat. Die Künstlerin sieht leer auf das Meer hinaus, beteiligt sich überhaupt nicht an den Gesprächen um sie herum. Es scheint sie wirklich zu bedrücken. Verständlich. Diese Vernissage wäre für sie die perfekte Gelegenheit gewesen, einige Prominente von ihren Werken zu überzeugen und vielleicht sogar groß rauszukommen und dann möglicherweise von ihrer Kunst gut leben zu können. Aktuell muss das anscheinend noch wirklich knapp sein und um einen oder zwei Nebenjobs kommt sie nicht herum. „Das muss dir doch nicht leid tun. Geh zu ihr, lenk sie ab." Aufmunternd lächle ich sie an, bevor ich das blaue Strandtuch in meinen Händen ausschüttle und anschließend neben Viktor ausbreite, der nun auf dem Bauch liegt und in einer Sportzeitschrift blättert. „Na? Brauchst du mal wieder Motivation? Gut, dass du nur noch hobbymäßig läufst. Ich hab dich das letzte Mal vor zwei oder drei Tagen trainieren sehen.", meine ich und werfe einen Blick auf den aufgeschlagenen Artikel: „Essgewohnheiten im Profisport." Auch ohne ein Wort weiter zu lesen, ist mir bewusst, dass dieser Text nichts taugen wird. Ich bin mehr als froh, dass mir mein Trainer eine Ernährungsberaterin vermittelt hat, die mir meinen individuellen Plan erstellt hat. Proteine, Vitamine und Kohlenhydrate perfekt ausgewogen. Irgendein Journalist wird sich damit sicherlich nicht so gut auskennen. „Quatsch. Ich trainiere regelmäßig. Du weißt, dass es neben dem Studium für eine Profisportkarriere viel zu stressig wäre." „Ja ja, ich weiß. Ist schwimmen auch zu stressig? Ich muss jetzt wirklich dringend ins Wasser, sonst trockne ich hier noch ein." Ich schlage ihm leicht auf die bare Schulter, stehe dann auf, ziehe mein Shirt aus und warte noch kurz auf den murrenden Viktor, der sich schleichend langsam erhebt. „Na dann, los. Will sonst noch jemand mit ins Meer?", rufe ich den anderen noch zu, bevor ich mich umdrehe und mich in großen Schritten den Wellen nähere. Etwas entfernt entdecke ich eine andere Gruppe, drei Mädchen, die dort, wo die Wellen im Sand versinken, Volleyball spielen. Außer ihnen und unserer Truppe befinden sich nur noch zwei ältere Damen am Strand, die in ihren Liegestühlen unter einem Baum abseits von uns liegen und in ihren dicken Lektüren lesen. Das Wasser ummantelt meine Füße, dann meine Beine bis hoch zu den Knien. Es kühlt mich ab und ich sinke tiefer. Nun steht mir das kalte Nass bis zu meinem Schlüsselbein und Viktor neben mir macht gerade seinen ersten Schwimmzug hinaus ins offene Meer. Am Strand kann ich noch Pit und Rosa entdecken, der Rest erreicht in diesem Moment die erste Welle, die bricht. Dabei auch Martha, nebenbei die einzige, die ich wirklich wahrnehme. Sie nimmt meine volle Aufmerksamkeit ein, durch sie blende ich die anderen aus. Sie ist der Mittelpunkt, mein Mittelpunkt. Diese perfekte Frau. Ihre kurzen blonden Haare, wie immer verwuschelt. Die feinen Gesichtszüge, die strahlenden Augen, die rötlichen Lippen. Die zarte Haut an ihren Wangen, die mit Sommersprossen gezierte Stupsnase, die dunklen, langen Wimpern. Von ihrer Figur und ihrer Ausstrahlung mal ganz abzusehen. Der dunkelrote Bikini sitzt perfekt, passt sich an ihren Körper an, als wäre er nur für sie entworfen worden. Die Farbe harmoniert so gut zum Ton ihrer Haut, an der ich nun Muttermale entdecke, die ich noch nicht oft zu Gesicht bekommen habe, verliebe mich in sie. Martha dort in das Meer treten zu sehen, zieht mir völlig unerwartet und spontan den Boden unter den Füßen weg. Sie ist atemberaubend. Atemberaubend schön. Noch einmal lasse ich meinen Blick von ganz oben nach ganz unten gleiten, betrachte diese Schönheit, versuche mir das Bild innerlich abzuspeichern, will es sehen können, jede Sekunde meines Lebens. Und noch viel mehr will ich es fühlen können. Ich sehne mich nach ihr. Nach dem Gefühl ihrer Finger, der Art wie sie mich berührt, der Art wie sie mit mir spricht Sie kommt mir näher, immer näher und steht schließlich vor mir. Direkt vor mir. „Na, alles okay bei dir?" Sie grinst, tritt noch näher an mich heran. Mein Herz trommelt in meinem Rippenbogen, klopft gegen die Knochen, lässt unfassbare Hitze in mir aufsteigen. Ich spüre, wie ich rot werde, mein Gesicht immer wärmer wird, bis ich schlussendlich die Farbe einer sonnengereiften Tomate angenommen habe. „Du siehst übrigens auch nicht schlecht aus", meint sie und zwinkert mir zu. Und keine Sekunde später landet ein Schwall des Salzwassers in meinem Gesicht. Ich reiße die Augen auf, atme erschrocken ein. „Warte nur! Das kriegst du zurück!" Doch Martha ist schneller. Kehrt mir den Rücken zu und bückt sich, schützt sich so vor der Ladung Wasser. „Eine Wasserschlacht ohne uns? Das geht jetzt aber wirklich nicht!", ruft Hermann in unsere Richtung und versucht angestrengt durch das tiefe Wasser zu laufen. Hinter sich zieht er Jona, die wiederum die anderen aufruft, ihr zu folgen. Und schon bekomme ich den nächsten Schwall ab. Die kleine, volleyballspielende Mädchengruppe steht inzwischen auch hüfttief im Meer, nur einige Meter weiter und beobachtet das Spektakel. Wundern kann ich mich darüber nicht, denn uns zu überhören wäre absolut unmöglich. Vor allem Marthas einzigartiges Lachen schallt über die Wasseroberfläche, meistens kurz bevor sie von jemandem unserer Gruppe untergetaucht wird. So habe ich mir zwar den Tag am Strand nicht vorgestellt, eher ruhiger und erholsamer, jedoch würde ich auf diese Momente um keinen Preis verzichten. Alleine Marthas Anwesenheit, ihre ansteckende gute Laune und das breite Grinsen auf ihren zarten, geschwungenen Lippen ist Grund genug, diese Augenblicke zu lieben, sie wertzuschätzen. Dafür würde ich noch tausendmal den fürchterlichen, steilen Weg zu dieser Bucht in Kauf nehmen. Für sie, für Martha immer. Mir wird wieder einmal bewusst, dass ich alles tun würde, um das Lachen in ihrem Gesicht zu halten, um Martha glücklich zu machen.

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