Kapitel 23

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Ein leichter Wind kommt auf, die dunklen Schatten verdrängen die Sonne, es wird Abend. Nach der Rückkehr vom Schiff habe ich sofort meine Hanteln und eine alte Picknickdecke aus dem Zelt geholt, bevor ich mich an den Platz begab, an dem ich jetzt stehe: Auf der Wiese nahe dem Waldstück, in dem ich immer Laufen gehe. Die verdreckte Decke breite ich auf dem feuchten Gras aus und greife zu der Hantel. Ziehe sie an meine Brust hinauf und wieder runter auf Höhe meines Oberschenkels. Immer wieder. Ich spüre deutlich, dass ich das Krafttraining vernachlässigt habe. Die Muskulatur in meinem rechten Arm brennt höllisch, bei jedem Zug etwas mehr. Aber Aufgeben kenne ich nicht, nie. Weder beim Sport, noch in anderen Dingen. Wie zum Beispiel bei Martha. Ein zartes Lächeln schleicht sich auf die puderrosa Lippen und ich vergesse für einen Moment das Gewicht wieder anzuheben, die Hantel hängt in meinem ausgestreckten Arm. Sie nähert sich wieder langsam an, schleichend langsam, aber immerhin. Ich spüre wieder vereinzelt ihren festen Blick im Rücken, der meinen Körper aufheizt, sehe ihre blauen Augen wieder aus der Nähe. Dass sie mich auf dem Schiff sogar angesprochen hat, hat mich wirklich überrascht. Ich von meiner Seite aus muss zugeben, sie schrecklich zu vermissen, reiße mich jedes Mal zusammen, nicht direkt auf sie zu zu laufen, wenn ich sie sehe. Aber es ist diesmal ein Schritt, den sie gehen muss. Sie hat mir klar gemacht, dass sie Zeit braucht. Das verstehe ich, akzeptiere ich. Ich werde sie in keinstem Fall bedrängen oder gar unter Druck setzen. Ich lege das eiserne Gestell ab, stütze Hände und Füße am Boden ab, beginne mit Liegestützen. Der Faden zwischen Martha und mir wird fester, stabiler, spannt sich zwischen uns beiden auf, lässt mich immer an sie denken. Denkt sie auch an mich? Wenn ja, würde sich aus dem Faden nicht schon lange ein Seil binden? Dick, widerstandsfähig, die Fäden, aus denen es bestand, fest ineinander gewoben? Meine müden Oberarme beginnen allmählich zu zittern, ich beende meine Kraft-Session. Ein lautes Grummeln meines Magens mischt sich in die fernen Töne spielender Kinder und das sanfte Rauschen der Blätter im Wind. Ich packe meine Sachen, trage die zusammengefaltete Decke unter meinem linken Arm zwischen Bizeps und Brust geklemmt. Je mehr ich mich dem langen Holztisch mit den bunten Campingstühlen darum nähere, desto stärker vernehme ich einen Duft. Der unverwechselbare Duft von Jona und Hermanns „Pasta alla Jomann", den Nudeln mit Tomatensoße, die hier in Frankreich zu unserem Hauptnahrungsmittel geworden sind. Aus dem kleinen Schrank, der einige Meter vor uns neben einem kleinen Spülbecken steht, hole ich die große Karaffe und lass kaltes Wasser hineinlaufen, fülle die bunten Plastikbecher damit. Ich lasse mich auf den quietschgrünen Stuhl fallen, der mir am nächsten ist. Warte, bis vor jedem der dreizehn hungrigen Freunde ein Teller steht. Augenblicklich schnellt meine Hand zur Gabel, schaufelt sich die heißen Nudeln in den Mund. Sibel, die gegenüber von mir Platz genommen hat, betrachtet mich kritisch. Sie glaubt mir also immer noch nicht. Und auch Nele blickt skeptisch zwischen mir und Martha hin und her, die gerade zu mir aufsieht und mich anlächelt. Ich lächele zurück. Es sollte mir egal sein, was ihre Freunde denken, das wichtigste ist doch, dass sie mir glaubt, mir vertraut. Aber wie soll auch nur eine Freundschaft zwischen zwei Personen funktionieren, wenn eine Partei Vertrauenspersonen im Rücken stehen hat, die die zweite Partei nicht leiden können? Die Meinung der beiden Damen zählt mehr, als mir lieb ist. Die Sonne über uns kämpft immer noch gegen den starken Schatten, kurz davor zu verlieren. Ein letztes Mal breitet sie sich über unserer Gruppe aus, schenkt uns Wärme, wird dann weggestoßen und verschwindet für den restlichen Tag. Ich lege mir die Jacke, die bis zu diesem Moment über dem Stuhl hing, um die Schultern, auf den blassen Unterarmen Marthas schräg gegenüber von mir zeigt sich eine leichte Gänsehaut. Auf meiner Haut auch. Aber nur wegen den glasklaren, blauen Augen, die direkt in meine blicken. Die Augen der Frau, die mir alles bedeutet. Die Frau, um die ich bereits seit über fünf Jahren kämpfe. Auch wenn man bedenken muss, dass ich einige Jahre davon verbracht habe ihren Platz mit anderen Frauen zu besetzen. Missglückt. Und auch mit Martha missglückt es ständig. Dennoch kriege ich den Gedanken nicht los, dass irgendwann vielleicht ja doch der Tag kommen könnte an dem ich ihr jede Sekunde in die Augen sehen kann, immer ihre zarte Hand in meiner halten kann, stets ihre vollen Lippen auf den meinen spüren kann. Allein bei dem Gedanken daran wird mir warm ums Herz. Es glüht, pulsiert, wird leicht wie eine Feder im Wind. Nach meinem dritten Teller Spaghetti bin ich mehr als satt, Viktors Angebot noch laufen zu gehen, lehne ich ab und begebe mich sachten Schrittes auf den Weg zu dem Strand, an dem wir schon so oft waren. Langsam folge ich dem schmalen Waldweg, trete über wuchtige Wurzeln, gelange zu den Dünen. Die Sonne ist bereits ins türkisblaue Meer abgetaucht. Nur noch ein leicht marineblauer Schimmer erhellt den Horizont, trennt den Tag von der finsteren Nacht. Die Sterne sind schon ganz zart am klaren Himmel zu erkennen und es ist leise. Totenstille, bis auf die Wellen, die sich überschlagen und im Sand verschwinden. Weiter rechts den Strand entlang prallen sie allerdings mit starker Wucht gegen hohe Felsmassive, bauen sich auf, fallen in Form von weißem Schaum zurück. Die schmaleren Baumwipfel wiegen sich in der ruhigen Meerbrise, die mir auch durch die Haare streicht. Ich ziehe meine Schuhe aus, nehme sie in die linke Hand. Den feinen Sand unter meinen nackten Füßen spürend, mache ich einen Schritt auf das Meer zu. Noch einen, und einen weiteren. Das Salzwasser umfasst meine Zehen, ich sinke in dem feuchteren Untergrund ein. Die langen Ärmel der Jacke kremple ich bis zu den Ellenbogen um, die feinen Salzkristalle klammern sich an die kleinen Härchen an meinen Armen. So vertieft in die Schönheit der Natur bemerke ich den Schatten, der alleine im Sand sitzt, gar nicht. Bis ich ein Aufstöhnen aus der Richtung vernehme. Die dunkelblonden Haare der zierlichen Frau sind ihr in das markante Gesicht gefallen und verzweifelt versucht sie nun, ihr Sichtfeld wieder herzustellen. Der immer stärker werdende Wind macht ihr einen Strich durch die Rechnung. Der kurze Bleistift, an der Rückseite angekaut, fällt in den hellen Sand, wirbelt einige seiner Körner auf, die nach Millisekunden wieder zurück zu den anderen finden. Neben dem Stift folgt ein Zeichenblock. Die junge Frau erhebt sich, wirft die langen Strähnen hinter ihre Schultern und ich erkenne Nele, die genau in diesem Augenblick aufsteht und schnellen Schrittes auf mich zu läuft. „Das hast du ja mal wieder super hingekriegt! Erst Martha so sehr verletzen und sie im nächsten Moment schon wieder um den Finger wickeln! Wie oft willst du das Spiel eigentlich noch abziehen? Ich bin nicht so leichtgläubig wie Martha, ich habe dich schon längst durchschaut." Der laute Ton ihrer Stimme schallt durch die Nacht, ein erwartungsvoller Blick auf ihrem Gesicht. Einen fragenden und überraschten auf meinem. „Was genau ist denn dein Problem? Das ist eine Sache zwischen ihr und mir. Ich habe ihr doch gesagt, dass das nur ein Missverständnis war und sie scheint mir ja zu glauben. Zumindest nähert sie sich mir wieder an", ich wirke vielleicht selbstsicher, eventuell leicht provozierend. Doch mein Herz schlägt rasend schnell. Ich bin überfordert mit ihren Vorwürfen. Nie hätte ich damit gerechnet Nele einmal so gereizt und geladen vor mir stehen zu sehen. Innerlich gebe ich zu etwas eingeschüchtert zu sein, doch mir liegt es im Blut mich zu verteidigen, gegen Hasswellen anzukämpfen. Nun bin ich die Felswand, die ich zuvor beschrieben habe und Nele die starke Welle, die sich mit aller Kraft dagegen stemmt. Aber am Ende geht die Welle zu Boden, nicht der Fels. Dann beginnt sich die Jüngere vor mir aufzubauen, verschränkt die gebräunten Arme vor der Brust. Ihre Stimme wird noch lauter, schreit mich an: „Du verletzt meine beste Freundin, tagelang. Tust ihr immer wieder weh und in dem Moment, indem sie sich gerade davon erholt hat, stichst du schon wieder zu. Was denkst du eigentlich, wer du bist? Martha hat sich gefreut hier zu sein. Wollte jeden Moment mit ihren Freunden verbringen, Spaß haben. Und dann mischst du dich ein, sie verkriecht sich in ihr Zelt und grenzt sich aus? Weil du sie belügst, ihr eine heile Welt vorspielst und eigentlich keinen Bock auf sie hast. Warum gibst du dir dann überhaupt die Mühe dir so eine wahnsinnige Lügengeschichte auszudenken, wenn du sie doch sowieso am liebsten nicht sehen würdest und sie dich doch so sehr nervt? Was ist dein Ziel? Sie zu zerstören? Man, checkst du's nicht? Du bist ihr wichtig, diese Freundschaft ist ihr wichtig, sie würde noch so viel mehr dafür tun. Und du kümmerst dich einen Dreck um sie, sie ist dir völlig egal!" „Martha ist mir gar nicht egal! Sie ist mir sogar extrem wichtig, Nele! Verdammt, ich liebe sie!" Ihre Augen werden groß, starren mich an. Ihre Lippen trennen sich, sie zieht die kalte Abendluft durch den Mund ein, schließt sie wieder, hält den Atem an. Und ich realisiere, was ich gerade gesagt habe. In mir brodelte es, ich hatte keine Kontrolle mehr und wusste nicht welche starken Worte gerade meinen Mund verließen. „Ich...damit hab ich jetzt nicht...gerechnet..es tut mir..." Damit bricht sie den Satz ab, die Worte stotternd und leise in der Luft liegend. Sie dreht sich um, mit langsamen Schritten geht sie auf den Zeichenblock zu, hebt ihn und den Bleistift auf und verlässt den Strand auf nächstem Weg durch das Dickicht. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, bewege keinen Muskel meines Körpers. Nele weiß Bescheid. Was ist, wenn sie Martha davon erzählt? Dann kann ich gleich vergessen, dass wir uns nochmal annähern. Sie zu verlieren, wäre schlimm. Sie vergessen zu müssen das Schlimmste. Wie konnte das nur passieren? Nele wird es ihr sagen. Die beiden haben keine Geheimnisse vor einander. Und dennoch muss ich Marthas Freundin davon überzeugen dicht zu halten. Ich will ihr nachlaufen, ihr hinterherrufen, doch ich bleibe versteinert. Ohne eine Chance auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Ich habe Angst. Angst, dass jetzt alles vorbei sei könnte.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt