Der Anblick unserer Freunde löst in mir ein Gefühl der Unsicherheit aus. Es liegt eine Unbeschwertheit in der Luft, wie sie sich dort am großen Eichentisch versammelt haben und gemeinsam lachen. Der Duft von würziger Tomatensoße steigt mir in die Nase, erinnert mich an so viele Momente dieses Urlaubs. Meine Hand immer noch fest in Tills zieht er mich weiter, näher zu den anderen. Wie eine sich erhitzende Quelle wird das unwohle Gefühl in meiner Brust immer deutlicher spürbar, dampft, breitet sich aus, verteilt sich in meinem ganzen Körper. Meine Schritte werden schwerer, langsamer. Die gerade noch nah aneinander liegenden Schultern trennen sich, die verbundenen Arme schwingen nicht mehr locker an unserer Seite, spannen jetzt. Ich falle zurück, verliere fast den Halt an der so warmen und weichen Hand. Die Angst bremst mich aus, gibt mir schlussendlich keine Chance mehr diese Gefühle zu verdrängen. Ich trenne die Verbindung zu Till. Trenne mich von meinem festen Anker, von meinem schützenden Schirm und trete aus der mit Zuneigung und Liebe gefüllten Blase. Der Druck darin wurde mir zu stark, hat mich nicht mehr atmen lassen, hat mir keinen Raum mehr gelassen. Tief ziehe ich die kalte, feuchte Luft ein, versuche meine Nervosität zu unterdrücken. Die sanften Perlen des Regens sammeln sich an meiner glühenden Stirn, gemeinsam mit dem frischen Wind kühlen sie langsam die erhitzten Gedanken, die mich nicht entspannen lassen, in mir umher irren, wie die planlosen Touristen an überfüllten Bahnhöfen. Für einen kurzen Moment lasse ich meine Augenlider zuflattern, atme noch einmal tief ein und aus, spüre, wie die kalte Luft meine Lungen füllt, mein Brustkorb sich ausbreitet und dadurch mein kräftig schlagendes Herz nicht mehr so fest zwischen meinen Rippen klemmt. Und plötzlich, völlig unerwartet, bläst mir kein Wind mehr ins Gesicht, meine Haare wehen nicht mehr in der Luft, der nasse Stoff des Pullis wird nicht mehr gegen meinen Oberkörper gedrückt. Es ist windstill. Ich öffne meine Augen überrascht, sehe direkt in Tills große Pupillen. Er steht dicht vor mir, schirmt mich ab von der kraftvollen Meeresbrise, fühle jetzt hingegen, wie sich seine Wärme auf mich überträgt. Seine Augen. Seine Augen erinnern mich an den weiten Ozean. An den Mond, wie er schützend die finstere Nacht erhellt. An das Morgengrauen, das den neuen Tag einläutet. An die Sonnenstrahlen, die den Tau auf den grünen Grashalmen glänzen und glitzern lassen. An plätschernde Bäche, die die Pflanzen auf den Wiesen speisen. An die alten Bäume, deren Wurzeln tief in die Erde ragen. Seine Augen erinnern mich an das Leben. Seine Augen zeigen mir, dass das Leben schöner ist, als jeder Traum. Seine Augen bringen mich dazu, nie mehr schlafen zu wollen, den Blickkontakt nie unterbrechen zu wollen. Seine Augen lassen mich vergessen zu blinzeln, jede Sekunde zu kostbar, um nicht in dieses unendliche, grünblaue Meer einzutauchen. Nie wieder will ich an die Wasseroberfläche zurück. Will in seinen Augen schwimmen, will lieber darin untergehen, als sie zu verlassen, um lebensrettende Luft atmen zu können. „Was ist los? Angst?" Till beugt sich etwas herab, bis unsere Schultern auf gleicher Höhe liegen. Mein unsicherer Blick scheint seine Frage zu beantworten. Sanft greift er nach meiner zittrigen linken Hand, führt sie nach oben, legt seine offensichtlich größere rechte Handfläche an die meine. Wieder mit ihm verbunden zu sein gibt mir Kraft und Mut. „Zusammen", flüstert er, lächelt einfühlsam, die aneinanderliegenden Hände zwischen unseren Oberkörpern in der Luft. Nickend schlucke ich den dicken Kloß in meinem Hals hinunter, greife sofort seine Finger, als er die verbundenen Hände wieder senkt und trennt. Die kleinsten Finger verhakt, starten wir einen zweiten Anlauf, nähern uns der lachenden Truppe am Esstisch. Vielleicht sollte ich mir auch nicht zu viele Gedanken über die Reaktionen der anderen machen. Was das zwischen uns beiden ist, ist mir sowieso noch immer völlig unklar. Aber ich muss diese Hürde nicht alleine überstehen. Till ist bei mir, wir gehen diesen Schritt gemeinsam, Hand in Hand. Schlussendlich zählt nur das, was ich darüber denke. Es ist mein Leben, nicht das eines anderen. Diese Gedanken erinnern mich an die fünf Jahre jüngere Martha, die der festen Überzeugung war, dass man im Grunde nur alleine weiterkommt, dass man sich am Ende des Tages sowieso nur auf sich selbst verlassen kann. Und auch wenn ich auf meine Entwicklung stolz bin, darauf, dass ich gelernt habe, dass es Leute gibt, die einen immer unterstützen und auch, dass es hilft, selbst andere zu unterstützen, gibt mir diese alte Denkweise den nötigen Mut, bringt mich dazu, einen Großteil der Angst über Bord zu werfen und mich der Situation zu stellen. Die Gespräche der anderen werden lauter, inzwischen stehen schon einige dampfende Teller voller Nudeln auf dem Tisch. Beim Anblick dieser beginnt mein Magen zu grummeln. Das Frühstück ist schon viel zu lange her und das Toben am Strand hat mich hungrig gemacht. Die Sorgen scheinen für einen kurzen Moment vergessen, bis Neles Blick auf mich fällt. Erst direkt in meine Augen, dann senkt er sich, bleibt an unseren Händen hängen. Sie zieht wissend die Augenbrauen nach oben, schmunzelnd sieht sie dann zu Viktor, der sich gerade seinen Pulli über die Schulter wirft und neben ihr auf den Stuhl fällt. Ich merke, wie die Hitze wieder in mein Gesicht steigt, meine Wangen inzwischen vermutlich knallrot. Till bemerkt meine Unruhe, lässt meinen Finger los, läuft dann zu seinem besten Freund, klopft ihm auf den Oberarm. „Na, endlich fertig mit lernen?" Er beantwortet zwar die Frage des Profisportlers, dieser hört ihm allerdings schon gar nicht mehr richtig zu. Till lässt sich auf seinen gewohnten Platz fallen, greift sofort zum Wasserglas und leert es in einem Zug. Ich muss lächeln, mein Herz erwärmt sich. Wieder einmal entdecke ich eine neue Seite an Till. Er lenkt mit einer total belanglosen Frage vom Thema ab, schützt mich damit vor möglichen verwunderten Blicken, hilft mir dabei, meine Angst und Unsicherheit so gering wie möglich zu halten. Er zeigt mir damit, dass ich ihm wichtig bin, zeigt mir, dass es für ihn wichtig ist das ich mich wohlfühle. Diese sanfte und hilfsbereite Art ist noch immer so ungewohnt, doch macht mich so glücklich, lässt mich strahlen, mein Herz anschwellen und die Härchen in meinem Nacken aufstehen. Ich atme noch einmal tief ein, beruhige mein nervöses Gemüt und setze mich dann auch auf den bunten Klappstuhl, wie immer Till gegenüber. Seine großen Augen funkeln mich an, ein breites Lächeln auf den geschwungenen Lippen. Hermann verlässt soeben die Küche, bleibt an der kürzeren Tischkante stehen, lehnt sich nach vorne und legt einen hohen Stapel taupefarbener Servietten in die Mitte. Hinter ihm Leni, die mit beiden Händen ein großes Tablett mit Weingläsern und einer schmalen Flasche aus grünem Glas balanciert, den Blick angestrengt darauf gerichtet. Augenblicklich springt Cäcilia auf, kommt ihrer Freundin zur Hilfe und füllt die Gläser einige Zentimeter mit der leicht gelblichen Flüssigkeit, verteilt sie auf die 13 Leute. „Wo wart ihr beide eigentlich den ganzen Vormittag?" Rike nimmt gerade einige Stühle weiter Platz, sieht zwischen Till und mir hin und her. Meine Augen haben sich allerdings noch immer nicht von Tills Gesicht gelöst, starren ihn an, betrachten jedes Zucken der Mundwinkel, jeden Wimpernschlag, jede noch so kleine Rührung. Seine Lippen trennen sich, bewegen sich so rhythmisch und geschmeidig. Sie formen seine Worte so sanft, so hingebungsvoll. „Wir waren am Strand. Einzigartige Stimmung, sag ich euch! Martha hat ganz viele Fotos gemacht." Ich vernehme Tills raue, tiefe Stimme ganz dumpf, sie klingt so fern. Eine Hand tritt in mein Sichtfeld, reißt mich aus meinem Tagtraum. Tills Hand, die mit dem Finger etwas unter mein Kinn zeigt. Ich sehe an mir herab, bemerke die dunkelgraue Kamera um meinen Hals. Wieder vollständig in der Realität angekommen, agiere ich, hebe den Apparat etwas höher über die Tischkante. Mein verwirrter Gesichtsausdruck weicht dem nun zarten, anfangs etwas gezwungenen, Lächeln. Wieder hat mich der Sportler völlig aus der Bahn geworfen, hat mich alles um uns vergessen lassen. Meine Sorge über die Reaktionen der ehemaligen Mitschüler scheint völlig unbegründet zu sein. Nach Tills Erklärung eben sehe ich in einige glückliche Gesichter, den Rest scheint es gar nicht zu interessieren. Schon längst haben sich andere Gesprächsthemen in den Vordergrund gedrängt. Dass Till und ich den bisherigen Tag alleine verbracht haben, wirkt total uninteressant für den Rest der Gruppe. Erleichtert atme ich auf, löse die Anspannungen in mir, werde leichter, freier. Ich trenne mich von den negativen, zweifelnden Gedanken, ersetze sie mit Erinnerungen an den zauberhaften Vormittag, an unsere strahlenden Augen, an breites Grinsen und hohe Glücksgefühle. Zum ersten Mal steche ich mit der chromstählernen Gabel in die Nudeln. Der bekannte Geschmack von den beliebten „Pasta alla Jomann" breitet sich in meinem Mund aus. Inzwischen sind sie nur noch lauwarm, schmecken allerdings genauso gut, wie jedes Mal. Die herben italienischen Kräuter, die Säure der Tomaten, das einzigartige Aroma der kleingeschnittenen Oliven, all das macht dieses Essen zu etwas ganz besonderem. Noch nie haben mir simple Nudeln so gut geschmeckt, wie diese. Eventuell ist der Ort, an dem wir uns befinden, dabei nicht ganz nebensächlich und auch die Anwesenheit meiner guten Freunde trägt einen großen Teil dazu bei. „Was ist denn der Plan für heute?", frage ich die zufrieden plaudernde Truppe mit vollem Mund. Moritz greift zu seinem Weinglas, streift einmal den oberen Rand entlang, erzeugt einen hellen Ton. „Eigentlich wollten wir nochmal in das schöne Städtchen gehen. Da, wo wir am vierten Tag Eisessen waren. Die Läden haben heute länger geöffnet und so einen richtigen Städtetrip haben wir noch gar nicht gemacht. Das geht aber nur, wenn das Wetter mitspielt." Der junge Journalist zeigt in den bewölkten Himmel, von dem noch immer einige Regentropfen auf die durchnässte Erde fallen. Er setzt das Glas an seinem Mund an, nimmt einen großen Schluck daraus, stellt es wieder ab, bedacht darauf, dass es eben auf dem morschen Holz landet. Ich nicke in seine Richtung, zwinge mir ein Lächeln auf. Noch vor einigen Tagen hätte ich mich über diesen Vorschlag wirklich gefreut und ich bin auch immer noch begeisterter davon, als von einer weiteren Radtour oder einem Wanderausflug. Trotzdem verpasse ich so die Gelegenheit, einige Stunden alleine mit Till zu verbringen, sehe jetzt keine Möglichkeit mehr ihm heute noch einmal so nah zu kommen wie am Strand. Genau dieser stupst mich nun unter dem Tisch mit seinem Fuß an. Mein Blick fällt zum tausendsten Mal in den letzten Stunden auf ihn. Auf seine Augen, seine makellose Haut, auf die wuscheligen Locken. Er legt den Kopf schief, ein fragender Ausdruck im Gesicht, der sich nach kurzer Zeit zu einem aufmunternden Lächeln verzieht. Er hat mich verstanden. Über den breiten Tisch hinweg hat er meine Gefühle richtig gedeutet, ohne ein Wort aus meinem Mund, ohne jegliche Berührung. Diese Nähe und das Verständnis, das wir aufgebaut haben, bringen mich aus der Ruhe. Nie hätte ich damit gerechnet, dass wir uns so gut verstehen, uns so fühlen können. Mein Lachen wird breiter, ehrlicher. Viel mehr Gefühl steckt nun darin, viel mehr als einige Augenblicke zuvor. Nele zieht meinen Stuhl ruckartig nach hinten, zieht mich in den Stand. „Komm jetzt, Tisch abräumen, du Träumerin!", meint sie lachend, stapelt einige Teller und drückt sie mir in die Hand. Ich schüttle meinen Kopf, drehe mich auf dem Absatz um und gehe zur engen, mit alten Fliesen besetzten Küche. Das Geschirr räume ich sofort in die kleine Spülmaschine ein, als Nele zu mir stößt. „Na, du? Wie heißt denn der begabte Magier, der dir das breite Grinsen ins Gesicht gezaubert hat? Etwa Till?" Wie schon vorhin zieht sie ihre dichten Augenbrauen nach oben, nun zweimal hintereinander und stupst mich mit ihrer Schulter an. Die Röte schießt mir wieder ins Gesicht, mein Herz pocht schneller in meiner Brust, pumpt das Blut doppelt so schnell durch meinen Körper. Schüchtern senke ich den Blick zum Boden, versuche die pinken Wangen vor den Augen meiner besten Freundin zu verstecken. „ Quatsch...", flüstere ich und verlasse die Küche, als sie mir noch mit einem schelmischen Grinsen „Ach wirklich?" hinterherruft. Und kaum stehe ich wieder unter freiem Himmel, läuft schon wieder jemand auf mich zu, bleibt direkt vor mir stehen. Dieses Mal ist es Till. Die Wolken scheinen sich etwas verzogen zu haben, sanft strahlt die Sonne auf ihn hinab, lässt seine Haare glänzen und die blauen Augen heller wirken. Tief sieht er mich an, hält meinen Blick fest, gibt mir keine Chance auszuweichen. Er fesselt mich, dicke Ketten, die sich um unsere Körper legen, uns aneinander binden, die uns nah am Körper des anderen halten. Der Daumen seiner rechten Hand legt sich an meine Schläfe, fängt dort einen letzten Regentropfen auf, der aus meinen kurzen Haaren fließt, wischt ihn sanft weg. Unglaublich sanft. Eine federleichte Berührung, die mein Herz springen lässt. Mein Atem wird unregelmäßiger, stoßhaft verlässt die verbrauchte Luft meinen leicht geöffneten Mund. Unsere Augen noch immer fest ineinander verhakt, sehen in die Seele des anderen, fühlen alles. „Dann sehen wir uns später für den Ausflug in die Stadt?" Seine Stimme so behutsam, so leise und vertraut. Mehr als ein liebliches Lächeln bringe ich nicht zustande, bevor Till sich abwendet, mich alleine zurücklässt und gemeinsam mit Viktor den Kiesweg zu den Zelten einschlägt.
DU LIEST GERADE
5_Jahre_danach
FanfictionEin Wiedersehen nach über 5 Jahren. Zwei Menschen, deren Anziehungskraft immer noch so stark ist, wie die zweier Dipole. Eine leidenschaftliche Liebe, die die beiden immer wieder zueinander führt. Zwei Leben, die sich so lange Zeit nicht berührten...