Till:
Das hat gesessen. Ich spüre, wie sich das Herz in meiner Brust zusammenzieht und ein unangenehmes Kribbeln durch meine Adern wandert. Schmerz. Enttäuschung. Kälte. Um mich herum nur Kälte, eiskalt. Auch Martha scheint meine Reaktion bemerkt zu haben und die Stimmung in unserem Kayak war so angespannt, dass ich selbst Angst hatte zu atmen. Vor gerade mal fünf Sekunden fühlte ich mich in ihrer Nähe so wohl und geborgen. So, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Und jetzt? Jetzt empfinde ich genau das Gegenteil. Mein Blick schnellt von einem Gegenstand zum nächsten, mein Herz schlägt dabei unkontrolliert. Viktor, der gerade einige Meter neben mir paddelt, bemerkt meine Unruhe: „Hey! Lass uns doch da alle am Ufer mal Mittagessen! Mein Magen knurrt extrem und es ist gerade viel zu warm hier an der Sonne." Er wirft mir noch einen fragenden Blick zu, den ich gekonnt ignoriere, bevor sich die anderen begeistert auf den Weg zu der schattigen Stelle am Ufer machen. Sobald die Spitze unseres knallroten Kayaks den Kies am Rande des Flusses berührt, springe ich aus dem schmalen Boot, werfe meinen Rucksack auf den Boden und verschwinde in dem Waldstück hinter dem Schattenplatz. Ich muss jetzt alleine sein. Ich lehne mich an einen großen, dicken Stamm und berühre mit meinen Fingerspitzen das feuchte Moos. Die Singvögel zwitschern über meinem Kopf und ein kleiner grüner Frosch hüpft fröhlich über einen Ast neben mir. Aus der Ferne hört man das glückliche Lachen der anderen. Glücklich, das bin ich gar nicht. Ich bin traurig und das überrascht mich sogar ein wenig. Früher wäre ich nach Marthas Kommentar ausgerastet, hätte ihr die schlimmsten Dinge an den Kopf geworfen. Aber der Till von heute ist traurig. Ich hatte echt etwas Angst sie wiederzusehen. Nicht Angst davor, dass sie ihre wundervollen Haare gefärbt haben könnte, die ich schon früher so sehr liebte, oder davor, dass sie sich stärker schminken würde und man dadurch die ganz sanften Sommersprossen auf ihrer Nase nicht mehr erkennen könnte. Nein, ich hatte Angst vor meinen Gefühlen zu ihr. Ich wusste nicht, wie ich nach all den Jahren reagieren würde. Und als ich dann mit Viktor aus dem kleinen Dorf in der Nähe zurückkehrte und sie gerade aus dem Auto stieg, war ich überwältigt. Mit ihrem kecken Grinsen im Gesicht unterhielt sie sich mit Rike. Die Leichtigkeit, die ich spürte, als ich sie dort sah. Das bekannte, zarte Kribbeln in der oberen Magengegend das ich wahrnahm. Meine Gefühle haben selbst nach fünf Jahren nicht nachgelassen. Und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich mir die letzten Jahre nur etwas vorgemacht und meine Gefühle unterdrückt habe. Und meine etlichen Beziehungen, die mir nichts bedeutet haben, machten auch Sinn: Ich war und bin in Martha Pracht verliebt. All die Jahre. Meine Gedanken schweifen wieder zum Vorfall im Boot. Leichte Verwirrtheit macht sich in mir breit. Ich war mir so sicher, ihren Blick gestern am Strand auf mir gespürt zu haben. Ich hatte ein gutes Gefühl, nachdem wir so lange zusammen saßen und uns alle unterhielten. Ich weiß nicht, was in ihrem Kopf vorgeht, was sie fühlt und denkt. Aber ich war mir doch so sicher eine Verbindung zwischen uns gespürt zu haben. Aber dieser kleine Funke Hoffnung in meinem Herz erlosch mit ihrem letzten Satz im Kayak. Hab ich mir das alles nur eingebildet? Eine andere Erklärung gibt es leider nicht. Noch immer geknickt und nun auch hoffnungslos mache ich mich auf den Weg zurück ans Ufer. Es scheint, als wären die anderen elf Einsteiner mit dem Mittagessen fertig, als ich sehe, dass sie langsam ihre Rucksäcke zusammen packen. Viktor läuft festen Schrittes auf mich zu und überreicht mir ein Käsebrot. „Wo warst du denn die ganze Zeit? Wir warten schon auf dich." „Tja, jetzt musstet ihr halt mal auf mich warten. Sonst seid ihr immer zu spät dran. Wie sich die Dinge doch ändern", antworte ich ihm leicht genervt. Ich war jetzt wirklich nicht an Gesprächen interessiert. Ich drehe mich von ihm und bemerke Marthas fragenden Blick auf mir, die sich aber sofort abwendet, als sie meinen sieht. „Hey Leute, unsere Paddel sind weg!", rufen uns Pit und Rosa von den Kayaks aus zu. Hinter einem Strauch etwas entfernt von uns im Fluss erkenne ich Jona und Hermann. Mit all unseren Paddeln. Ein Streich von den beiden ist jetzt wirklich das letzte was ich brauchen kann. Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Ich will einfach so schnell es geht zurück an unserem Campingplatz. Wir alle laufen zu Rosa und Pit und als Nele sich wieder zu Viktor ins Boot setzen will, schiebe ich sie nur unsanft weg und nehme den Platz hinter meinem besten Freund ein. „Ich fahr mit Viktor, dann sind wir schneller. Mit dir würde ich die zwei ja nie einholen!", rufe ich noch zu Martha und mit unseren Händen versuchen wir so schnell es geht, Jona und Hermann zu erreichen. Noch ein kurzes Mal drehe ich mich zu ihr um. Auch alle anderen Paare folgen uns jetzt. Jona und Hermann bemerken meine schlechte Laune anscheinend, denn sie warten geduldig und geben uns auch sofort unsere Paddel zurück. Auch auf der Weiterfahrt muss ich oft an Martha und unsere Auseinandersetzung denken. Auch wenn ich es jetzt nicht aushalten würde mit ihr im gleichen Boot zu sitzen, das würde einfach viel zu sehr weh tun, vermisse ich ihre Nähe. Ich vermisse den Duft ihrer Haare, der sich mit ihrem frischen Parfüm mischt, sobald der Wind sie berührt. Die Art, wie sachte und bedacht sie ihre Finger durch die hellblonden Strähnen gleiten lässt, wenn sie ihren Blick senkt. Ich vermisse gerade sogar ihre Stimme in meiner Nähe, wenn sie sich mal wieder über mich aufregt. Das mutige und witzige Schulmädchen ist zwar zur jungen Frau geworden, sie verdreht mir aber den Kopf noch genau so sehr wie damals dem aufmüpfigen Till. Wir erreichen am späten Nachmittag das Ende unserer Kayaktour und betreten alle wieder festen Boden. Sibel wartet schon etwas entfernt an einer Hauswand lehnend und unterhält sich mit einem älteren Mann, der ein „Lifeguard"-Shirt trägt. „Habt ihrs dann auch endlich mal geschafft?", fragt sie uns lachend „der Mann hier kümmert sich um eure Boote." Neben mir unterhält sich Martha mit Nele. Die beiden lachen über irgendeinen Streich von Jona und Hermann am Einstein. Ich belausche das Gespräch noch etwas länger, während Viktor auf mich einredet und von „Lauftraining heute Abend" und „Eis essen" erzählt. Ich höre ihm nicht wirklich zu, denn Martha lacht nun laut. Sie verhält sich gerade sehr merkwürdig, sie ist übertrieben gut gelaunt. Es wirkt fast gespielt, denke ich. Das alles verwirrt mich noch mehr und ich bin extrem erleichtert, als wir endlich wieder am Campingplatz angekommen sind.
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5_Jahre_danach
FanfictionEin Wiedersehen nach über 5 Jahren. Zwei Menschen, deren Anziehungskraft immer noch so stark ist, wie die zweier Dipole. Eine leidenschaftliche Liebe, die die beiden immer wieder zueinander führt. Zwei Leben, die sich so lange Zeit nicht berührten...