Kapitel 43

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Dort oben auf dem Hügel scheint die Welt so anders. Wirkt die Welt so winzig klein und vertraut. Hier, wo jeder jeden kennt, wo uns der Nebel die Sicht auf die Straßen und die modernen Viertel im Tal nimmt, da ist das Leben leichter. Die Leute hier kümmern sich nicht um trendige Schuhe, hochwertige Stoffe oder die neuesten Autos. Sie haben sich ihre ganz eigene Welt erschaffen, abgeschottet. Und genau damit wirken sie so zufrieden und verbunden, ziehen an einem Strang, helfen sich, sind füreinander da. Diese kleine Stadt verzaubert mich. Ich bewundere sie. Die verwinkelten Gassen inzwischen so eng, dass beide meine Schultern fast den Putz der Mauern berühren, das unebene Kopfsteinpflaster führt uns tiefer in das Innere dieses Ortes, bis ans Herz der romantischen Altstadt. Ein kleiner Park liegt versteckt zwischen den hohen Wänden, die jedes Geräusch dämpfen. Kein blasender Wind mehr, kein Akkordeon, kein Gesang. Die Sonne steht nun tiefer, lässt nur noch einen schwachen Schein auf das grüne Gras. Hohe Buchsbäume, geschnitten zu runden Kugeln reihen sich an den Mauern, grenzen den quadratischen Park ab. Die Rasenfläche wurde mit einem schmalen Kiesrand vom Pflaster getrennt. Unzählige Blumen wachsen dort, bunte, eine schöner als die andere. Blühende Rosenbüsche teilen den Park in Bereiche ein. Eine morsche Bank in einem, im anderen ein beschauliches Blumenbeet. Als geschlossene Gruppe setzen wir uns im Kreis auf das satte Grün, atmen durch. Der Tag heute war lang und der Aufstieg in die Stadt hat uns bei der schwülen Luft sichtbar zugesetzt. Till kleben einige Strähnen in der Stirn, Jona krempelt die Ärmel ihres Oberteils hoch und Pit leert seine mitgebrachte Wasserflasche fast in einem Zug. Auch ich bin froh, meine Beine etwas ruhen zu lassen, strecke sie in die Mitte, stütze mich mit meinen Armen hinter mir ab, das Gesicht in den Himmel gerichtet. Die Wärme fällt auf die schwitzige Haut. Die Ruhe hier entspannt mich. „Wie wärs' wenn wir heute Abend hier ein kleines Restaurant suchen und dort essen? Ich habe wirklich keine Lust mehr noch etwas zu kochen", schlägt Leni vor, die gemeinsam mit mir heute für das Abendessen verantwortlich wäre. Ich wurde schon viel zu lange nicht mehr bekocht und dieser Ort hält mich gefangen, jede Sekunde länger würde ich schätzen, lieben. Grinsend nicke ich ihr zu, sehe in die Runde und betrachte die glücklichen Gesichter meiner Freunde. „Das wäre doch perfekt. Dann gäbs' auch mal was Gutes zu Essen, die beste Köchin ist Martha ja nicht gerade!" Ich vernehme Tills Stimme direkt neben mir, an meiner rechten Seite. Ich drehe mich ihm zu, sehe ihm verdutzt in die Augen. „Hey!" Gespielt genervt wende ich den Blick wieder ab, nachdem ich ihn mit meiner Schulter sanft anstupse. Seine Beine ebenfalls ausgestreckt, dicht an meinen, kurz davor sie zu berühren. Die Hüften nur knapp getrennt, die Schultern streifen inzwischen leicht aneinander. Sachte spüre ich einen Finger, der den meinen kurz berührt, dadurch meine Aufmerksamkeit wieder auf den Sportler neben mir lenkt. Er zwinkert mir zu, lächelt mich dann liebevoll an. Diese Augen. Diese traumhaften blauen Augen. Das goldene Licht, das auf den Park fällt, hüllt ihn ein, lässt ihn strahlen, hebt ihn von allen anderen ab. Große tiefschwarze Pupillen sehen direkt in meine Seele. In diesem Moment fühlt es sich an, als würde er meine Gedanken lesen, als würde er alles von mir wissen wollen. Als wolle er wissen, ob ich die Welt mit anderen Augen sehe, ob ich Geräusche anders wahrnehme, wie sich meine Stimme für mich anhört. Als würde er wissen wollen was mich beschäftigt, was mich bewegt und motiviert, was mich traurig stimmt, mich nachdenken lässt, was mich lächeln lässt. Als würde er sehen wollen, wie mein Körper auf Empfindungen reagiert, wie er auf ihn reagiert. Als würde er wissen wollen, was ich liebe, was ich schätze und was mich begeistert. Sieht er darin sich selbst? Sieht er, welch großen Teil er in mir einnimmt? Wie viele Gedanken sich nur um ihn drehen, dass mein Herz wegen ihm höher schlägt, dass ich ihn in mir verankert lasse, nie mehr gehen lassen will? Sieht er das? Fühlt er das? Ein Kitzeln auf meiner Nase holt mich zurück in die Realität, zurück in die Stadt, in den Park. Belustigt sieht nun auch Till auf meine Nase. Fragend sehe ich ihn an, hebe meine Hand, um mir über die kitzelnde Haut zu streichen, zu entfernen, was die Aufmerksamkeit aller zwölf Anwesenden hält. Till stoppt mich dabei auf halbem Weg, legt seine Hand auf die meine, mitten in der Luft auf Höhe meines Ellenbogens und drückt sie sanft zurück ins Gras, hält sie weiter fest. „Bleib still", murmelt er, zückt sein Handy mit der freien Hand. Der Rest betrachtet das Geschehen aufmerksam, jedes Gespräch verstummt, meine Nase der Mittelpunkt des Geschehens. Wie befohlen bewege ich mich nicht, atme trotz Körperkontakt mit dem Mann, den ich liebe, so ruhig und langsam wie möglich, versuche mir die Nervosität und Aufregung deshalb nicht anmerken zu lassen. Wieder sehe ich in diese klaren, ozeanblauen Augen und sofort umspielt meine Lippen ein zartes Lächeln. Till hält das Handy direkt vor mein Gesicht, schießt ein Foto, grinst dann auf den Bildschirm. Neugierig versuche auch ich einen Blick auf das Handy zu werfen, doch dank der Spiegelung der letzten Sonnenstrahlen kann ich nichts erkennen. Ich beuge mich zur Seite, näher zu Till, schiebe meinen Kopf zwischen Handy und muskulösen Oberkörper. „Man Martha, jetzt ist er weggeflogen", meint Sibel, die Enttäuschung in ihrer Stimme deutlich hörbar. Mein Kopf an den Stoff seines Shirts gelehnt kann ich sein schnell schlagendes Herz fühlen, das im Rhythmus zu meinem, Blut durch unsere Adern pumpt. Sein Kinn legt er sanft auf meinem Haaransatz ab, hält mir das kleine Gerät entgegen. Ich erkenne die Umrisse meines Kopfes, die strubbeligen kurzen Haare, den Saum der dunkelroten Bluse, die ich trage. Zufrieden strahle ich direkt in die Kamera, auf meiner Nase prangt ein großer Schmetterling. Die Flügel etwas geweitet, erkenne ich die Muster darauf, Farbtupfer, rot und orange, die linke Seite identisch zur rechten. Das Bild ist so stechend scharf, dass man sogar winzige Härchen darauf erkennen kann, sowie die inzwischen ziemlich dominanten Sommersprossen in meinem Gesicht, erleuchtet von der Abendsonne. Sein Schatten legt sich auf meine linke Wange, verdeckt damit eins meiner Muttermale. Schon viel zu lange sehe ich auf dieses Bild, es ist wirklich gelungen. Aber nicht deshalb, nein. Jede Zelle meines Körpers fühlt sich von Till so angezogen, die Kraft, die zwischen uns wirkt so stark, dass ich mich nicht lösen kann, mich auch nicht lösen möchte. Die Berührung unserer Haut löst wie immer ein Feuerwerk der Gefühle aus. Nicht, wie am Anfang dieser Reise, sondern gefestigter, stärker. Das Verliebtsein ist zu intensiver Liebe geworden, aus plötzlichen, ungeplanten Berührungen wurden Momente, in denen wir diese physische Verbindung nicht verhindern konnten und es unmöglich wurde uns wieder zu trennen. Aus dieser unbändigen Aufregung und Angst, die zwar noch immer etwas durchsickert, wurde Vertrauen und Ruhe. In seiner Nähe fühle ich mich geborgen und sicher, auch wenn zwischen uns nichts geklärt ist, keiner von uns weiß, in welchem Stadium wir uns gerade befinden, wächst die Verbindung zu ihm jede Minute. Auch wenn wir es beide noch nicht schaffen, miteinander über unsere Gefühle zu reden, wird die Anziehung stärker, das Vertrauen größer. Das unsichtbare Band zwischen uns wird fester, dichter, hält uns zusammen, immer. Nur durch Nele schaffe ich es, mich wieder aufzurichten, meinen Kopf von der starken Brust zu heben. Sie nimmt Till das Handy aus der Hand, meint nur: „Zeig mal!" und sieht mich dann kurz rügend an. Ich danke ihr dafür, dass sie immer ein Auge auf mich hat, mich aus jeder unangebrachten Situation holt und immer für mich da ist. Noch eine Sekunde länger an Tills Oberkörper, dann hätten die anderen sicher etwas gemerkt. Wieder drängt sich diese Angst in den Vordergrund, die Sorge, dass unsere Freunde schlecht darauf reagieren könnten. Die Sorge, dass das für Till gar nichts ernstes sein könnte. Wieder zeigt sich der Druck mit Till darüber reden zu müssen, die Angst, von ihm verletzt zu werden. Ein Strudel, der mich immer tiefer zerrt. Eine Zwickmühle. Ohne mit Till über meine Gefühle gesprochen zu haben, kann ich den anderen nichts darüber erzählen, kann ihm in der Öffentlichkeit nicht nahe kommen. Andererseits kann ich mit Till nicht über meine Gefühle sprechen, wenn mich diese Angst vor den Reaktionen der anderen weiter quält. Und die wäre ja erst besiegt, wenn ich mit dem Rest der Gruppe reden könnte.

5_Jahre_danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt