Kapitel 37

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Ich stehe hier, mit beiden Füßen fest auf dem matschigen Boden, mein Gesicht nach oben, in Richtung des mit tiefgrauen Wolken bedeckten Himmels gewendet. Der frische kühle Regen vermischt sich auf meinem Gesicht mit den dicken Tropfen, die aus meinen triefend nassen Haaren fließen, überströmen in dicken Perlen meine rotgefärbten Wangen, durchnässen langsam aber sicher meine Klamotten vollständig. Der frische Wind, der in den letzten Minuten immer heftiger geworden ist, rauscht in dem dicken Blätterdach der Bäume, weht um uns, lässt mich frösteln, ist für die ausgeprägte Gänsehaut auf meinen schmalen Unterarmen verantwortlich. Jedoch ist mir nicht kalt, kein bisschen. Diese Situation ist so besonders, so einzigartig, so energievoll. Sie erwärmt mein Herz, lässt es schneller schlagen, lässt es in diesem Moment nur für ihn schlagen. In meiner Brust breitet sich ein unbeschreiblich tolles Gefühl aus, ein unglaublich süßer Cocktail aus den schönsten Gefühlen und Empfindungen, aus Liebe, wahrhaftiger Liebe, die uns beide verbindet, durch ein dickes Seil aneinanderbindet, uns zusammenschweißt, aus Geborgenheit. Ich fühle mich in seiner Nähe so wohl, so sicher, so beschützt und etwas ganz Neues, dieses Gefühl habe ich in meinem bisherigen Leben noch nie so intensiv wahrgenommen: Vertrauen, tiefes, bedingungsloses Vertrauen, das er mir schenkt, das er in mich hat. Dieses Ritual ist ihm wichtig, extrem wichtig, es bedeutet ihm so enorm viel, das spüre ich mit jeder Faser meines zierlichen Körpers. Und es macht mich glücklich, so unfassbar glücklich, dass er mir so etwas ausgesprochen Privates, so etwas äußerst Intimes anvertraut. Der egoistische Einzelkämpfer, der so lange davon überzeugt war, ohne Hilfe, ohne jegliche Bezugsperson durchs Leben zu kommen, öffnet sich mir gegenüber, teilt eine unvorstellbar persönliche Erinnerung mit mir, lässt mich in sein Innerstes blicken. Er öffnet die stählerne, massive Tür zu seinem Herzen ein kleines Stück für mich, nur für mich, erlaubt mir einen Blick in sein verschlossenes, verborgenes, verletztes Innenleben. Und es gefällt mir, es gefällt mir so unglaublich gut hier. Ich würde gerne für immer ein Teil seines Herzens, seines Lebens, seiner Zukunft sein. Ich darf nicht zulassen, dass er sich wieder verschließt, sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzieht, mir die Türe vor der Nase zuschlägt, ich muss diese Chance, diesen kleinen Spalt, aus dem es so vielversprechend schimmert, nutzten, muss das robuste Stahltor weiter aufschieben, muss mir den Weg bis tief in seine Brust weiter freikämpfen Langsam drehe ich mich in Tills Richtung, sehe ihn an. Er steht immer noch genauso wie vor ein paar Minuten da, seine Augen geschlossen, sein Kopf im Nacken liegend, seine Gesichtszüge entspannt, auf den Lippen ein feines Lächeln. Seine Haare sind von dem starken Regen schon längst durchnässt, kleben ihm in dicken Strähnen auf der Stirn. Die klaren Regentropfen bahnen sich in kleinen Rinnsalen ihren eigenen Weg über sein makeloses Gesicht, über die leicht gewölbte Stirn, die langen Wimpern, an denen vereinzelte Tropfen wie glänzende Perlen hängen bleiben, über die markante Nase, die ausgeprägten Wangenknochen, den schlanken Hals, bis sie in den dunkelgrauen Stoffes seinen Kapuzenpullis fließen, darin versickern. Till schaut gerade einfach nur glücklich, so vollkommen zufrieden aus. Er ist eins mit sich selbst, denkt an eine alte, wertvolle Familienerinnerung zurück, fühlt sie, zieht, wie sein Vater ihm erklärt hat, Kraft und Energie aus diesem regnerischen Augenblick. Und er teilt diesen kostbaren Moment mit mir, wir erleben ihn zusammen, verbunden, nicht nur physisch, durch unsere verschlungenen Hände und unsere Herzen, die im gleichen Takt schlagen, sondern auch unsere Gedanken und Gefühle sind vereint, wir sind eins, eine Einheit, die auch den widrigsten Umständen trotzen kann. In mir wächst der Wunsch, das unbändige Verlangen nach mehr, nach mehr Nähe, nach mehr Körperkontakt, nach intensiveren Berührungen. Mein Körper handelt intuitiv, meine glühende Sehnsucht nach Till treibt mich an, ich habe keine Chance mich gegen das unermessliche Begehren zu wehren, dafür sehne ich mich zu sehr nach ihm. Ganz langsam, mit kleinen Schritten gehe ich auf ihn zu, komme ihm immer näher, bis ich direkt vor ihm stehe, Brust an Brust. Till neigt seinen Kopf, schaut mit seinen großen, einnehmenden Augen direkt in meine, sie verhaken sich, fesseln mich, lassen mich nicht mehr los. Dieser durchdringende Blickkontakt lässt meine Empfindungen, meine tiefen Gefühle für ihn, überkochen. Meine überforderten, so unglaublich verliebten Hormone beginnen zu tanzen, breiten sich vollständig in meinem Körper aus, sind dafür verantwortlich, dass jedes noch so kleine Körperteil anfängt wie verrückt zu kribbeln, setzten mich unter Höchstspannung, lassen mich brennen, brennen für ihn, für seine Liebe, für seine Leidenschaft. Ich löse unsere Verbindung, unsere verschlungenen Hände, fahre vorsichtig mit meinen Fingern über den feuchten Stoff seines Hoodies, der über seine muskulösen Oberarme spannt, bis meine Hände schlussendlich auf seinen breiten Schulterblättern liegen bleiben, Halt finden, sich in das weiche Material krallen. Auch seine großen Hände haben einen neuen Bestimmungsort gefunden, meine Hüfte, umfassen sie, ziehen mich noch näher an ihn, ganz nah. Ich drücke mich enger an seinen warmen Körper, schlinge meine Arme regelrecht um ihn, mein Gesicht vergräbt sich in seiner Halsbeuge, meine Augen fallen zu, um seinen lieblichen, umwerfenden Duft noch mehr genießen zu können. Ich sauge ihn in mich auf, will ihn nie wieder vergessen, ihn nie wieder missen müssen. Sein unvergleichbarer Geruch, der ganze atemberaubende Mann, ist wie eine Droge für mich, meine ganz persönliche Droge, von der ich schon längst abhängig bin, nach der ich süchtig bin, ohne die ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen kann. Unsere Umarmung wird immer fester, immer inniger, immer intimer. Wir klammern uns wie zwei Ertrinkende aneinander, schenken uns gegenseitig den Halt, den wir beide so dringend brauchen. Hier, in seinen starken Armen, an seine breite Brust gekuschelt, ihm so unglaublich nah, so nah, dass ich seinen kräftigen, regelmäßigen Herzschlag spüren kann, ist für mich der schönste Ort der Welt. Ich fühle mich so wohl, so geborgen, als ob ich mein eigenes, vertrautes Zuhause gefunden habe. So stehen wir einige Minuten einfach da, mitten im Regen, eng beisammen, fest umschlungen und genießen diesen wertvollen Moment, unsere neugewonnene Zweisamkeit. Ich will mehr von ihm, so viel mehr. Langsam erwache ich aus meiner Trance, lande nach diesem faszinierenden Ausflug in unsere Parallelwelt, auf unseren eigenen Till-und-Martha-Planteten, wieder auf der Erde, gelange zurück ins Hier und Jetzt. Meine Augen öffnen sich bedächtig, erblicken sofort die nackte Haut seines Halses auf dem sich die mächtig pulsierende Schlagader deutlich abzeichnet. Dieses kleine Stücken entblößte Haut übt eine gewaltige Anziehungskraft auf mich, auf meinen Mund aus. Ich kann mich gegen dieses physikalische Gesetz nicht wehren, habe keine Möglichkeit, keine Chance dagegen anzukämpfen, dafür reizt mich der Gedanke an seine weiche, warme Haut unter meinen Lippen viel zu sehr. Ich muss einfach wissen, wie sich diese unglaublich zärtliche Berührung anfühlt, wie er darauf regiert. Ich nehme all meinen Mut zusammen, strecke mich, um die millimetergroße Lücke zu schließen, um einen liebevollen Kuss auf seinen vom Regen angefeuchteten Hals zu hauchen. Augenblicklich stellen sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf, seine Atmung wird schwerer, geräuschvoll lässt er die Luft aus seinen Lungen weichen, sein Herzschlag setzt für einen kurzen Moment aus, nur um danach umso schneller das Blut durch seine Adern zu pumpen. All das spüre ich dank unserer ununterbrochenen Nähe perfekt. Ich genieße seine intensiven Reaktionen, seine unkontrollierbaren Gefühlsoffenbarungen, meine extreme Wirkung auf ihn, vor der er sich nicht mehr verstecken, nicht mehr verkriechen kann, der er schutzlos ausgeliefert ist. Ich finde immer mehr Gefallen an der gigantischen Macht, der Kontrolle, die ich über ihn, über seine ausgeprägten Empfindungen habe. Das sein Einfluss auf mich, auf meine imposanten Gefühlsregungen genauso groß, wenn nicht noch gewaltiger ist, muss ich ihm ja nicht direkt auf die Nase binden. Auch wenn ich mir schlecht vorstellen kann, dass ihm die außerordentliche Gänsehaut, die meinen Nacken, meinen ganzen Körper ziert, nicht aufgefallen ist. Seitdem ich seine samtige Haut mit meinen Lippen berührt habe, wird der sehnsüchtige Wunsch, das überwältigende Verlangen, das immense Bedürfnis ihn endlich zu küssen, seine zarten Lippen auf meinen zu spüren, immer stärker und stärker. Ich will ihn wieder schmecken, mich in ihm verlieren, schweben. Ich lockere unsere Umarmung, jedoch nur so weit, dass ich in seine bezaubernden Augen, in sein bildhübsches Gesicht blicken kann. Seine Pupillen sind geweitet, das sonst so strahlende Blaugrün ist einem dunkleren Farbton gewichen, in ihnen schimmert eindeutig Lust, Begierde, Sehnsucht. Dieser Anblick, der Gedanke, dass er sich genauso wie ich, nach weiteren leidenschaftlichen Küssen, zärtlichen Berührungen, nach mehr, nach mir verzehrt, macht mich verrückt, lässt mich nervös werden, bringt mich um den Verstand. Unsere Münder kommen sich immer näher, wie zwei Magnete, die sich gegenseitig anziehen, die keinen anderen Weg, als den auf die Lippen des anderen kennen, sich dieser überirdischen Kraft, die sie leitet, beugen. Zuerst berühren sich unsere Lippen ganz leicht, federleicht wie sanfte Flügelschläge. Mit der Zeit wird das umgarnende Spiel unserer Lippen immer intensiver, fester, leidenschaftlicher. Dieser Kuss fühlt sich so anders, so einzigartig, so besonders an. Wir werden nicht von Lust oder sexuellem Verlangen angetrieben, sondern von purer, sinnlicher Liebe. Ich versuche all meine Gefühle, meine tiefen Empfindungen für ihn in den Kuss zu legen, ihm damit zu zeigen, wie viel er mir bedeutet, ihm das Versprechen zu geben, dass ich immer für ihn da bin, jeder Zeit, in jeder Lebenslage, dass ich ihm nicht mehr von der Seite weiche, dass ich ihn aus vollem Herzen liebe. Er erwidert den Kuss mit der gleichen atemberaubenden Intensität, lässt mich schwerelos werden, lässt mich fliegen. Wir brauchen keine Worte, die unsere Lippen verlassen, um uns das erste Mal unsere Liebe zu gestehen, die synchronen, unwiderstehlichen Bewegungen reichen vollkommen aus. Till liebt mich.

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