Alte Freunde

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Die Küchenuhr zeigt zehn vor zwölf an. Ich hatte Andre angerufen, der versprach vor eins Zuhause zu sein und war dann hoch in mein Zimmer gegangen. Nun stehe ich hier und betrachte mich wieder im Spiegel. Nachdem ich nicht mehr verdränge, was passiert ist, wirkt das Mädchen, dass mich anguckt so vollkommen fremd. Kurz bevor ich weggegangen war hatte ich auch hier in den Spiegel gesehen. Ich hatte eine schwarze Hotpen angehabt, ein weißes Top und die schulterlangen Haare im Nacken zusammengebunden. Ich hatte Tränen in den Augen gehabt, eine Tasche in der Hand und ein altes Foto meiner Eltern in der anderen. Der Babyspeck war noch deutlich in meinem Gesicht zu sehen gewesen und das T-Shirt hatte meinen verhassten Bauch verdeckt, der irgendwie nicht an Fett verlieren wollen. Und jetzt sehe ich ein Mädchen an mit lange, schlanken Beinen, schmalem Gesicht und langen Haare, die offen auf die Schulter fallen. Die Jogginghose verdeckt die braungebrannte Haut und das Top sitzt eng und zeichnet trotzdem nichts vom Bauch ab. Ich weiß nicht ob ich mich so besser fühle als damals. Vielleicht, aber irgendwie auch nicht... Langsam öffne ich eine der Türen des Schrankes. Dahinter sammeln sich Jacken und Taschen. Die Jacken sind mir alle zu klein und die Taschen hauptsächlich mit Perlen besetzt, sodass ich sie niemals wieder irgendwo mithin nehmen würde. Ich beschließe alle überflüssigen Sachen Anna zu schenken, weil ich nicht weiß, was ich sonst damit tun sollte. Hinter der nächsten Tür verbergen sich Kisten mit alten Spielsachen, die ich alle vor Jahren aussortiert hatte. Die dritte Tür versteckt meine ganzen alten Klamotten, die ebenfalls alle zu kleine sind. Und die letzte Tür verbirgt allen möglichen Krimskrams. Ich packe die alten Klamotten in einen Karton, den ich mir von unten mitgenommen hatte, auch die Taschen und Jacken wandern hinein. Nachdem ich die Kiste auf den Flur geschafft habe landen die Kisten mit Spielzeug daneben. Einiges werde ich auf den Dachboden bringen, der Rest kommt zu Frank und Rose. Als ich gerade den Karton mit Klamotten runtertrage wird die Haustür aufgeschlossen und Andre kommt rein, im Schlepptau ein Kumpel, der mir sehr bekannt ist.
"Em!", ruft Jens und zum ersten Mal in meinem Leben ohne Ironie, als er mich Erkenntnis. Ich lache.
"Das du dich nochmal an mich erinnerst", begrüße ich ihn. Er war einer derjenigen gewesen, die ich angeschrien hatte und auch einer derjenigen, mit denen ich mich am besten verstanden hatte, von Andres Freunden. Er ist etwa einen Kopf größer als ich, die selbe Frisur wie mein Bruder, nur naturblond. Er scheint Andre immer ins Fitnessstudio zu begleiten, denn ihm fehlen eindeutlich einige Pfunde von damals. Er betrachtet mich mit einem Lächeln, dass ich nicht ganz definieren kann.
"Wir hätte ich dich denn vergessen können?", sagt er und sein Lächeln wird breiter. Ich schüttle den Kopf und wende mich an meinen Bruder, der gerade seine Schuhe auszieht.
"Ich treffe mich mit einer Freundin und brauch Geld...", bevor ich weiterreden kann fällt mir Jens ins Wort.
"Geld? Ihr seit reich, Em!" Er lacht hysterisch und ich mustere ihn verstört.
"Was ist in den letzten Jahren nur mit dir passiert?", frage ich kopfschüttelnd.
"Vergiss ihn", sagt Andre und geht in die Küche.
"Wir haben einiges an Geld geerbt", ruft er in den Flur und ich folge ihm, damit er nicht noch mehr schreien muss. "Bargeld findest du in der obersten Schublade da vorn und dir wurde dein Teil des Erbe aufs Konto überwiesen. Eigentlich bekommst du das erst mit achtzehn, aber es gab wohl irgendwelche Sonderreglungen." Er zuckt mit den Schultern. Ich nicke dankend und will die Küche wieder verlassen, aber Jens steht im Türrahmen und beobachtet mich.
"Hast du eigentlich einen Freund, Em?", fragt er nachdenklich und jetzt verstehe ich, was das Lächeln zu bedeuten sollte.
"Wieso?", sage ich und versuche so unwissend wie möglich zu klingen, obwohl ich genau weiß worauf er hinaus will.
"Nur so", weicht er aus und beginnt wieder zu grinsen.
"Dann musst du's ja nicht wissen", sage ich und schiebe mich an ihm vorbei. Als ich die Treppe wieder hoch renne höre ich Andre mit seinem Kumpel streiten und muss kichern.
Kaum bin ich oben angekommen, klingelt es unten an der Tür. Ich habe keine Lust aufzumachen also hoffe ich dass es die anderen machen und suche in meinem Zimmer nach Anziehsachen. Als ich in zerrissener Hotpen und Tanktop das Zimmer wieder verlasse klingelt es ein zweites Mal. Diesmal höre ich, dass Andre fluchend aus der Küche kommt und laufe die Treppe runter um vor ihm an der Tür zu sein- ein Spiel, das wir früher immer gespielt hatten. Als er mich sieht grinst er und springt zu Tür. Er ist eine Sekunde früher als ich da und öffnet die Tür.
"Hi", höre ich Emmas Stimme überrascht und will mich an ihm vorbeischieben, doch er lässt nur einen kleinen Spalt offen, in den er sich komplett reinstellt und es gibt keine Möglichkeit für mich irgendwie an ihm vorbeizukommen.
"Du bist also Emilies Freundin?", fragt er und ich höre eindeutig die Belustigung in seiner Stimme, während ich immer noch versuche ihn zur Seite zu schieben.
"Ja...", sagt sie zögernd.
"Bist du nicht die, die sie am Flughafen... Was war das?... Blum? genannt hat?" Innerlich verfluche ich ihn dafür, dass er so oft ins Fitnessstudio gegangen war.
"Blou", verbessere ich ihn und er sieht mich über die Schulter hinweg an.
"Stimmt... Wolltest du mir die Geschichte nicht noch erzählen?" Ich seufze und gebe es auf an ihm vorbei zu kommen.
"Emma, es tut mir leid", rufe ich über ihn hinweg. "Ich glaube das wird hier nichts." Andre sieht mich belustigt an und tritt dann zur Seite. Hinter ihm steht neuen Freundin in einem blauen Sommerkleid, einer weißen, kleinen Umhängetasche über der Schulter und einem Lächeln auf den Lippen.
"Dankeschön", fahre ich meinen Bruder an, dessen Grinsen nur noch breiter wird. Dann umarme ich Emma und ziehe sie ins Haus. Doch sie bleibt wie angewurzelt auf der Fußmatte stehen und betrachtet unsere Diele.
"Wow", macht sie und sieht mich erstaunt an. "Und hier hin wolltest du nicht mehr zurück?" Ich sehe sie entschuldigend an und verschwinde in der Küche, wo ich in der Schublade nach Geld Suche, während Jens mich dabei beobachtet.
"Frankreich hat dir gut getan", sagt er plötzlich und ich fahre herum.
"Was soll das jetzt heißen?", frage ich nervös. Jens war niemals ein 'Kumpel' sondern immer nur ein Freund meines Bruders. Ich habe mit ihm reden können, wenn Andre uns zusammen allein im Wohnzimmer ließ und er hat mich auf dem Schulhof gegrüßt, aber sonst war da nie etwas gewesen und in dieser Feststellung klingt irgendwie ein Hintergedanke mit, den ich nicht durchsuchen kann.
"Du siehst besser aus, glücklicher irgendwie", erklärt er, ohne den Blick von mir zu nehmen.
"Und du meinst du kennst mich so gut um das zu sehen?", sage ich skeptisch. Er steht auf und kommt auf mich zu.
"Ich weiß nicht ob es dir wirklich besser geht, aber ich kann mich erinnern, dass du früher eindeutig weniger gelächelt hast." Nun steht er direkt vor mir und blickt aus seinen funkelnden, grünen Augen auf mich herab. Plötzlich erinnere ich mich an einen Tag, als ich verheult und müde im Wartezimmer des Krankenhauses saß und er meine Hand hielt. Den Kopf an deine Brust gelegt war ich eingeschlafen. Ich hatte diesen Augenblick vollkommen vergessen, doch er anscheinend nicht.
"Jens, es ist drei Jahre her", murmle ich, weiß aber, dass es ihn nicht interessiert.

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