Viel zu viel

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"Wie ist er so?", fragt er, nachdem wir einige Minuten schweigend nebeneinander hergelaufen ist.
"Wer?", frage ich.
"Jerry." Ich sehe ihn erst etwas verwirrt an, dann fällt mir ein, das Jerry niemals auf irgendwelche. Familienfesten gewesen war. Er hatte und nie besucht und auch keine Postkarte oder so geschrieben. Es war Jahre her, dass er Deutschen Boden betreten hatte.
"Der beste Onkel, den man sich vorstellen kann", schwärme ich und sehe ihn dabei nicht an.
"Warum bist du abgehauen?", hakt er weiter nach. Ich überlege.
"Als man mich anrief", ich schlucke. "Habe ich erst nicht realisiert, was gerade passiert. Ich bin ins Krankenhaus gefahren, durch Flure gehetzt und wurde von einem Arzt zum anderen geschickt, bis mir endlich jemand sagte ihr während alle tot." Eine Träne läuft mir die Wange hinunter. "Sie haben mich nach Hause geschickt, aber da wollte ich nicht hin. Ich wollte nirgendwo mehr hin. Also blieb ich dort stehen, bis Rose und Frank kamen. Sie erklärten mir, dass du nicht tot bist. Sie meinten du lägest nur im Schlaf und würdest bald aufwachen. Ich habe sie mit dem Arzt reden hören. Sie sprachen davon die Geräte abzustellen." Ich unterdrücke ein Schluchzen. Andre verzieht keine Miene. "Ich bin zu dir gerannt und habe dir zugeflüstert, dass du leben sollst, dass du mich nicht allein lassen dürftest. Man schleppte mich von dir weg und wären der Beerdigung. Von Mum und Dad." Ich schlucke die Tränen runter. "Da haben ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe realisiert, dass du nicht mehr zurückkommen würdest. Ich habe verstanden, dass mich hier ohne Mum, Das und dich nichts mehr hält. Also bin ich geflohen. Einfach so. Ich weiß nicht mal, wie ich auf die Idee kam, zu Jerry zu fahren, nicht mal wie ich an seine Adresse kam. Sie waren einfach da. Und es war für mich einfach die beste Lösung." Ich erzwinge eine Lächeln. "Es war riskant, verdammt riskant. Aber der Plan ging auf und es hat geholfen." Nun sieht Andre auf. In der Dämmerung hatte ich sein Gesicht nicht komplett sehen können, doch jetzt sehe ich die Tränen im Licht der Laternen aufblitzen.
"Weißt du, ich hatte den selben Gedanken, als ich aufwachte. Als sie mir erklärten was passiert war hatte ich einfach nur weggewollt. Aber ich wusste nicht wohin." Er macht eine kleine Pause. "Hätte ich doch das selbe gemacht wie du..", flüstert er. "Dann wäre alles viel einfacher gewesen." Ich schüttele energisch den Kopf.
"Nein", sage ich. "Es war nicht einfach. Es war hart. Es war verdammt hart. Drei Jahre lang haben mich diese Schuldgefühle geplagt. Ich habe dich alleingelassen, Andre. Das kann ich nie wieder gut machen."
"Ich kann dich verstehen. Ich..."
"Nein, es war ein gewaltiger Fehler. Es hört sich vielleicht leicht an, ein tolles Leben ohne Schule, Probleme und Verantwortung. Aber kennst du das Gefühl erdrückt zu werden? Erdrückt nicht durch eine materielle Kraft, sondern durch die eigenen Gedanken? Ich hatte eine Zeit lang gedacht Alkohol wäre die Lösung dafür, aber es hätte alles noch schlimmer gemacht." Andre sieht mich nachdenklich an, als verstände er was ich gesagt hatte.
"Die Lösung liegt niemals da, wo sie am einfachsten scheint", sagt er leise, eher zu sich selbst als zu mir.
"Was hat du in den Jahren gemacht?", frage ich nach einiger Zeit.
Er sieht mich an. "Viel zu viel", sagt er und bringt ein Lächeln zu Stande. "Im ersten Jahr bin ich ziemlich abgesackt, hab mit den falschen Leuten abgehangen, was Rose und Frank nicht so toll fanden. Schließlich haben sie mir verboten mich weiter mit Ihnen zu treffen." Er lacht. "Ich war so wütend auf die, dass ich begann sie zu ignorieren. Dadurch kam ich in eine Phase, in der mir alles egal war. Während die anderen versuchten herauszufinden wo du warst wurde mir das Leben immer weniger wichtig. Bis sie dich fanden. Das war im zweiten Jahr. Aber sie entschieden dich in Ruhe zulassen und hofften du würdest zurückkommen. Da begann ich wieder die Dinge in die Hand zu nehmen. Ich habe daran geglaubt das du zurück kommen würdest und wollte nicht, dass du mich so siehst. Ich habe wieder angefangen die Schule ernst zunehmen, hab gebüffelt bis zum Abwinken, bis ich nicht mehr versetzungsgeferdet war. Und da stehe ich heute."
"Viel zu viel für diese Jahre", Murmle ich und merke, dass wir nicht mehr weit weg sind. Das Haus liegt am Rande von Köln, am Ende einer Sackgasse. Es sieht völlig anders aus, wie die anderen Häuser in der Gegend. Der Stein ist älter und die Geschichte länger. Meine Eltern hatten verdammt viel Geld hineingesteckt, dass es viel zu schade wäre, es zu verkaufen.
"Warum bist du nicht bei Rose und Frank geblieben?", frage ich, während wir die letzten Meter in die Dunkelheit laufen.
"Anna geht einem nach gewisser Zeit ziemlich auf die Nerven und ich wollte da raus. Rose führte sich immer weiter auf, als wäre sie meine Mutter, dass ich kurzfristig beschloss auszuziehen. Die Miete für das Haus bezahlen Sie immer noch, aber sobald ich mein Abi habe werde ich mir einen Job suchen und das alles selber machen." Er sieht aus, als hätte er das nicht gerade eben erst erfunden. Das glänzen in seinen Augen verrät, das er noch genauso an dem Haus hängt, wie ich und es um jeden Preis verteidigen wird.
Er geht achtlos an den Beeten im Vorgarten vorbei und zieht den Schlüssel aus der Tasche. Ich bleibe vor dem Gartentörchen stehen und betrachte das Haus in der Dunkelheit. Der Stein ist an manchen Ecken von Gestrüpp verdeckt und der Garten wirkt verwildert und völlig außer Ordnung- so wie es immer gewesen war. Als er die Tür anschließt folge ich ihm ins Innere und bleibe abrupt stehen, als mich der Geruch fast erschlägt, es richtig noch immer wie damals: nach Lavendel. Meine Mutter hat diesen Geruch geliebt und deshalb hingen überall getrocknete Lavendelsträuße.

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