Streit

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"Hey, dein Eis schmilz dir gleich weg!", ruft Emma mir dazwischen. "Wenn du nicht willst, esse ich es." Sie grinst.
"Wo kommt das alles eigentlich bei dir hin?", frage ich und schaue sie prüfend an. Alles sitzt am richtigen Platz. Keine Gramm zu viel, keine kleine Ausbeulung und trotzdem isst sie doppelt so viel wie ich.
Sie zuckt mit den Schultern. "Ich hoffe an die richtigen Stellen", sagt sie. Ich lache.
"Na eindeutig nicht an die falschen."
"Das stimmt." Nun lacht auch sie. Auf ihren Befehl hin, schaufle ich das Eis löffelweise in mich hinein, bis ich das Gefühl habe zu platzen.
"Wie spät ist es eigentlich?", fragt Emma, während ich den letzten Löffel Soße von meinem Teller zusammenkratze. Ich schaue in den Himmel. Die Sonne steht ein ganzes Stück über den Horizont, aber noch weit genug entfernt.
"Halb fünf?", schätze ich. Ich habe Uhren aufgegeben. Entweder verliere ich sie, oder sie gehen beim Surfen kaputt. Von Jerry habe ich gelernt vom Stand der Sonne die Uhrzeit zu schätzen. Anfangs lag ich echt oft völlig daneben, doch allmählich klappt es. Zur Kontrolle zieht Emma ihr Handy aus der Tasche.
"Zwanzig vor. Wie machst du das?!" Ich grinse.
"Übung macht den Meister." Sie sieht mich eindringlich an, wendet dann aber den Blick ab.
"Aus dir wird man wirklich nicht schlau, Blou", sagt sie kopfschüttelnd. Ich zucke mit den Schultern.
"Muss man das denn?", frage ich prüfend. Sie verzieht das Gesicht und lächelt.
"Manchmal ja." Sie steht auf. "Jetzt zum Beispiel wüsste ich gerne, ob du dir Gedanken darüber machst, dass du heute Abend ein Date hast und immer noch hier sitzt." Ihr Blick durchdringt mich und ich nicke.
"Ja, das wüsstest du wohl gern", sage ich und lege das Geld auf den Tisch. Auf dem Rückweg bleiben wir stumm. Ich weiß nicht, was ich sagen könnte und Emma scheint alles gesagt zu haben. Die Sonne brennt auf uns herab und mir wird warm. Einige Fahrradfahrer fahren an uns vorbei, nicken zum Gruß mit dem Kopf in unsere Richtung und sind dann wieder weg. Hundebesitzer nehmen die Leine ihrer Hunde kurzer, als wir vorbeigehen und Jogger gehen uns aus dem Weg. In den Büschen neben mir raschelt der Wind und ein Brise weht mir durchs Haar.
"Ich werde das alles hier sehr vermissen", unterbreche ich das Schweigen. Emma nickt zustimmend.
"Ich kann mir gut vorstellen, hier zu bleiben, nur um den ganzen Scheiß zu vergessen, der zu Hause auf mich wartet." Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht hinters Ohr.
"Einen so schönen Ort wie hier werde ich nie wiederfinden", flüstere ich und senke den Blick. All die Jahren in Deutschland hatte ich gedacht ich müsse das akzeptieren, was man mir gab. Dann passierte es. Ich riss aus und fand den Ort hier. Ab da wurde mir klar, dass man nichts akzeptieren musste, man konnte immer das beste aus allem machen, man musste sich nur anstrengen. Diesen Ort jetzt wieder verlassen zu müssen ist einfach schrecklich.
"Ach komm, so schlimm ist es daheim auch nicht", sagt Emma und lächelt. "Es muss doch irgendetwas geben, auf das du dich freust." Ich denke nach. Alles was mir früher am Herzen gelegen hatte, war nicht mehr da und alles was ich lieben gelernt hatte, hatte ich zurückgelassen und ersetzt.
"Nicht wirklich", gestehe ich. "Alles was mich glücklich macht ist hier, Deutschland ist ein Albtraum." Emma sieht mich an.
"Also wenn du mit der Einstellung zurück gehst, kann ja auch nichts gut werden", tadelt sie. "Sieh es als ein Neuanfang. Du hast die Chance nochmal alles gut zu machen. Damals warst du einfach noch nicht bereit für alles, jetzt bis du es."
Ich schüttle den Kopf. "Ich war damals bereit, aber nicht für das was kam." Emma bleibt stehen und dreht mich so um, dass ich ihr direkt in die Augen sehe.
"Was ist damals passiert, Blou. Sag es mir. Ich bin deine beste Freundin. Du kannst mir alles erzählen. Wirklich. Ich sehe doch, dass es dich erdrückt." Ich sehe das Mitgefühl in ihrem Gesicht. Ich weiß, dass sie es ernst meint. Aber ich bin noch nicht bereit darüber zu reden. Erst ein Mal habe ich jemandem erzählt, was passiert war und dafür hatte ich zwei Stunden gebraucht. Es war Jerry gewesen. Er hatte mich in den Arm genommen und mich getröstet, während ich ihm alles erzählte. Er hatte ja keine Ahnung gehabt.
"Es tut mir leid, Em. Vielleicht ein anderes Mal." Sie nickt betrübt und geht weiter.
"Hey", ich halte sie am Arm fest. "Du weiß das es schwer für mich war und du weißt, dass ich selbst Tim nichts erzählt habe." Sie fährt herum und sieht mir direkt in die Augen.
"Ich könnte dich besser verstehen, wenn ich es wüsste", sagt sie. Ihre Stimme ist ruhig- zu ruhig.
"Bitte Emma. Du musst das verstehen." Ich merke wie mir Tränen in die Augen schießen.
"Ich versuche es, Blou. Ich habe dir alles erzählt, jedes noch so kleine Detail über mich, egal wie schrecklich oder peinlich es war. Und von dir weiß ich nicht einmal deinen richtigen Namen." Sie ist nicht wütend. Sie ist enttäuscht, und das sehe ich. Sie dreht sich um und rennt los.
"Emma!", rufe ich ihr hinterher, doch sie hört mich nicht, oder will es nicht. Eine Träne läuft mir die Wange herunter. Was hatte ich nur getan. Sie ist doch meine beste Freundin. Es stimmt. Ich weiß alles über sie. Ich weiß, dass sie sich bei dem Tod ihres Opas vor zwei Jahren in ihrem Zimmer eingeschlossen und geweint hatte, bis ihre Eltern schließlich den Schlüsseldienst anriefen, damit sie nicht verhungerte. Ich weiß, dass sie ihren Freund betrogen hatte und ihm alles erzählt hatte, ohne zu wissen, wie er reagieren würde. Eine Woche waren sie getrennt gewesen, bis sie beide es nicht mehr aushielten und er ihr alles verzieh. Ich weiß, dass sie als kleines Kind die Ohrringe ihrer Mutter, die diese zur Hochzeit bekommen hatte, kaputt gemacht hatte und alles ihrem kleinen Bruder in die Schuhe geschoben hatte. Und von mir weiß sie nur das, was passiert. Nur sehr wenig. Nur dass, was alle anderen auch wissen. Ich verstehe sie, all ihre Gefühle, ihre Reaktionen und ihre Gedanken. Und sie versteht mich. Aber nur einen kleinen Teil. Nur den Teil, den ich ihr gezeigt habe und nur den Teil, den alle anderen auch verstehen. Ich renn los. Flip- Flops sind nicht gerade das beste Schuhwerk um damit zu Joggen, also zieh ich sie kurzer Hand aus und ignoriere den Schmerz in meinem Fuß, als sich spitz Steine, Äste und Zweige in meine Fußsohle bohren. Leider hat Emma einen zu großen Vorsprung und ich bin nicht gerade eine gute Sprinterin. Nach Atem ringend komme ich am Campingplatz an. Keine Spur von Emma. Ich seufze und setzte mich wieder in Bewegung. Camper und Surfer gucken mir verwundert hinterher, als ich mit Tränen in den Augen an ihnen vorbeihetze. Ich ignoriere sie. Der Platz von Emmas Familie liegt ziemlich weit hinten und ich ernte noch eine Menge verwirrte Blicke, bis ich endlich vor ihrem Wohnmobil stehe. Es ist nicht gerade groß, maximal für drei. Unter einem Pavillon steht ein Campingtisch und Klappstühle. Ihre Eltern sind nicht da- wahrscheinlich am Strand. Aber Emma liegt schluchzend in der Hängematte. Vorsichtig komme ich näher. Wir hatte schon Stunden zusammen in dieser Matte gelegen und diskutiert. Sie jetzt genau da weinen zu sehen brach mir das Herz.

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