Stress

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"Emilie pass auf!", schnauzt mich mein weites Mal mein Lehrer an. Ich wäre zum zweiten Mal fast eingeschlafen, und das innerhalb einer Schulstunde. In der letzten Nacht hatten Liz und ich kein Augen zugedrückt und das hatte erhebliche Folgen. Nicht mal die drei Tassen Kaffe vorhin hatte geholfen. Für einen kurzen Moment schaffe ich es dem Unterricht zu folgen, doch dann sind meine Augenlieder wieder zu schwer und mein Kopf sackt auf den Tisch.

"Jetzt reicht's!" Der Lehrer wirft das Buch wütend auf den Tisch und funkelt mich an. "Ich werde deine Eltern kontaktieren!" Ich weiß nicht ob es an dem Schlafmangel liegt, oder daran, dass ich einfach keinen Bock auf seinen Unterricht habe. Aber ich packe meine Sachen zusammen, stehe auf , gehe nach vorn zu ihm und sage:

"Tun Sie das. Und richten Sie schönen Grüße von mir aus. Aber es würd mich mal gern interessieren, seit wann Sie mit Toten reden können." In der ersten Reihe schnappt jemand erschrocken nach Luft, ansonsten ist die gesamte Klasse totenstill. Bevor noch irgendjemand etwas sagt, verlasse ich den Raum. Was das für Auswirkungen haben wird ist mir in diesem Moment egal. Ich habe es satt immer das zu tun, was der Lehrer vorne sagt. Am liebsten hätte ich die ganzen Schule in Brant gesteckt- natürlich nur in meinem Kopf.

In der Pausenhalle starren mich ein Paar Achtklässler verstört an, als ich wütend an ihnen vorbeilaufe, die Mappe mit beiden Händen umklammert. Den Weg nach Hause laufe ich. Ich habe keine Lust wieder zurückzugehen. Entschuldigt hätte ich mich eh nicht und wofür auch? Dafür, dass er mich ein weiteres Mal darauf hingewiesen hat, wie allein ich bin? Schnell wische ich mir die Träne weg und beschleunige meinen Schritt. Ich will nur weg hier, mich in meinem Zimmer einschließen und alles und jeden vergessen, der mir je begegnet ist. An der Ampel steht schon ein ganzer Haufen an Menschen und ich drehe um und umgehe die Hauptverkehrsstraßen. Mir ist klar, das mich das einige Zeit kostet, Zeit die ich zum Nachdenken nutze. Ich denke über Tim nach, dessen Stimme ich seit zwei Wochen nicht mehr gehört habe und den ich wirklich vermisse, obwohl ich mich nicht traue ihn anzurufen.

"Raus!", schnauze ich meine Mutter an, die gerade ohne anzuklopfen in mein Zimmer gekommen ist.

"Emilie wir wollen los", erklärt sie ruhig, als hätte sie unseren Streit vor ein paar Stunden schon vollkommen vergessen hätte.

"Ich komme nicht mit", fauche ich und drehe mich weg.

"Es ist unser Familienurlaub, Schatz, es wäre nicht das gleich, wenn du nicht mitkämest."

"Wenn ihr mich nicht schon mit Liz in den Urlaub fahren lasst, dann komme ich auch bei eurem blöden Familienurlaub mit!"

"Emilie, das hatten wir doch geklärt. Wir finden es noch zu früh, dass du allein mit Liz in den Urlaub fährst."

"Ich komme trotzdem nicht mit!"

"Willst du wirklich zwei Wochen hier allein sein?" Ihr Blick durchbohrt mich von hinten.

"Wenn's sein muss."

"Gut, aber wag es ja nicht morgen anzurufen und nachkommen zu wollen." Jetzt ist sie sauer.

"Werd ich nicht!"

"Schön." Damit verlässt sie das Zimmer. Ich sehe ihr nach. Zwei Wochen allein? Hört sich doch ganz nett an versuche ich mir einzureden, doch das schlechte Gewissen schnappt sich den Koffer, der gepackt mitten im Zimmer steht. Tränen rinne meine Wangen hinunter und ich gehe ihr nach.

"Wusste ich's doch!", ruft Andre, als ich den Koffer zum Auto schleppe.

"Halt die Klappe!", zische ich und reiche den Koffer meinem Vater.

"Schön das du doch noch mitkommst", flüstert er lächelnd. Ich nicke nur mürrisch und setzt ich auf die Rückbank ohne den triumphierend grinsenden Andre anzusehen.

"Pass doch auf!", schnauzt mich der Fahrradfahrer an, der mich gerade fast umgefahren hätte.

"'tschuldigung", murmle ich und trete zur Seite. Als ich abbiege starre ich das große, alte Haus am Ende der Straße an. Könnt ich je diese Mauern sehen, ohne daran zu denken, wie alles so still war? Wie die ganze Welt über mir zusammen brach? Wie man mir alles nahm, was mir wirklich am Herzen lag? Vor dem Gartentörchen bleibe ich stehen, als wäre es das Tor zu einer neuen Welt. Erinnere mich daran, wie das erste Mal hier gestanden hatte und wieder kommen mir die Tränen. Das war so lange her gewesen, warum brachte es mich jetzt zum Weinen? Trotzig drücke ich das Tor auf und bleibe kurz zögernd vor der Haustür stehen. Dan drehe ich mich um, laufe um das Haus rum, schmeiße die Tasche auf die Terrasse und gehe in die hinterste Ecke des Gartens. Unter einem gigantischen, alten Baum steht eine kleine, morsche Bank mit weißem Gestell. Ich liebe diesen Ort, er wirkt so ruhig und verlassen, und trotzdem fühlt man sich nicht allein hier. Ich setzte mich hin und betrachte den alten Garten, ohne die Tränen zu bemerken, die in Strömen meine Wangen hinunterlaufen. "Warum?", flüstere ich in die Stille und wünsche mir eine Antwort, die mir alles erklärt. Doch niemand hat diese Frage gehört und niemand kann sie beantworten.

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