Vergangenheit

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Ich schnappe mir mein Surfboard und drehe mich noch einmal um, um sicher zu sein, dass die anderen noch schlafen. Es wundert mich, das Rose hier so lange schlafen kann. Um unseren Stellplatz herum rennen Kinder, klappert Geschirr, unterhalten sich Erwachsene lautstark und hört eine Gruppe Jugendliche irgendwelche, grausamen Lieder, die wohl ganz hipp sein sollten. Mir dröhnt der Bass noch immer in den Ohren, als ich den Campingplatz verlasse und die große Hauptstraße überquere. Es ist sieben Uhr morgens und jetzt schon fahren hunderte von Autos am Campingplatz vorbei. Ich hasse Autos. Dieses brummen erinnert mich immer an das Brummen nach einer harten Nacht, wenn man morgens aufwacht und sich am liebsten den Kopf abreißen will- und ich hatte in der letzten Zeit einige solcher Morgene gehabt. Und dann dieser Gestank! Er kriecht mir in die Nase und kritzelt so lange, bis ich niese und dich den Mund atme um dich noch mehr niesen zu müssen. Wie können manche Menschen nur so viel Auto fahren? Selbst ich laufe die neun Kilometer bis zum nächsten großen Supermarkt. Ok, hätten wir ein Fahrrad, würde ich auch fahren. Es gibt einen Zebrastreifen hier, aber der ist völlig überflüssig, weil die Autofahrer ihn eh nicht beachten und die ganzen Surfer, die mit mir zum Strand wollen zu faul sind die fünfzehn Meter weiter zu laufen um erst da über die Straße zu laufen. Ich muss fast fünf Minuten warten, bis endlich eine Lücke zwischen den Autos frei wird. In den paar Minuten sammelt sich eine ganze Menge Leute neben mir an: Jogger, Surfer, Frühschwimmer und ein paar Spaziergänger. Der Asphalt ist heiß unter meinen nackten Füßen. Kleine Kieselsteine drücken sich in meine Fußsohlen, aber das macht mir nichts aus. Seit über drei Jahren laufe ich diesen Weg, jeden Morgen. IN der Zeit hat sich eine dicke Hornhautschicht gebildet. Die Anhänger an meinem Fußbändchen klirren leise bei jedem Schritt und Haare wehe mir ins Gesicht. Ich fasse das Surfboard fester und beschleunige mein Tempo. Die Schatten der Bäume ergreifen mich und schlagartig wird es um mich herum einige Grad kälter. Der Weg schlängelt sich durch den kleinen Wald und dann die Dünen hoch. Ich atme die frische Luft ein und lächle. Es gibt nichts besseres. Meine Füße versinken im warmen, weichen Sand und machen das Gehen schwerer. Das Surfboard unter meinem Arm wird schwerer und die Sonne prallt auf mich herab, als wolle sie sagen: Ein letztes Mal quäle ich dich noch. Trotzdem grabe ich meine Füße energischer in den Sand, klemme das Surfboard unter den anderen Arm und richte meinen Blick auf den blauen Himmel über den Dünen. Keine Wolke zerstört das Bild eines wunderschönen Sommermorgens und das blau strahl greller und klarer als je zuvor.Vor drei Jahren habe ich hier gestanden und in den Himmel gestarrt. Damals hatte es geregnet und Wassertropfen klatschten mir ins Gesicht. Mir war kalt, mein T-Shirt klebte mir an der Haut und von meinen blonden Haaren tropfte Wasser in den Sand zu meinen Füßen. Aber trotz all dem war der Moment perfekt-nicht auf die glücklich- perfekte- Art, sondern auf die passend- perfekte- Art. Ich war weit weg von all meinen Problemen, weit weg von meinem zu Hause und weit weg von allem bekannten. Ich sehne mich nach dem Tag zurück. auch wen mir damals die Tränen in den Augen gestanden hatten und ich mich am liebsten auf den Boden geschmissen und geschrien hätte, sehne ich mich nach diesem Tag zurück. Mir war damals alles offen gewesen. Ich hatte nicht gewusst, wie sich alles entwickeln würde und ich hatte drei wundervolle Jahre vor mir- ohne Verpflichtungen, ohne Stress und voll allem ohne Außenwelt. Noch vor einigen Tagen hatte ich so gelebt. Noch bis vor einigen Tagen hatte ich geglaubt es gäbe nur das hier und jetzt, Vergangenheit und Zukunft spielte keine Rolle. Doch nun? Ich erreiche die Spitze der Düne und schaue auf das strahlende Meer. Am Horizont verschmelzen Wasser und Himmel und die Sonne glitzert auf der Oberfläche des großen Blau. Am Strand brechen sich die Welle und Surfer paddeln im Wasser. auf der Suche nach dem perfekten Augenblick. Meine Füße reagieren automatisch, sobald das Wasser in Sicht ist. In meinem Körper hört jeder Muskel auf einen unausgesprochen Befehl und mein Gehirn schaltet auf Surfen um. Ich renne die Düne hinunter, quer über den Strand direkt auf das Meer zu. Wasser spritzt hoch, als meine Füße in die Brandung brechen. Ich schmeiße mich in die Wellen und nun ist alles perfekt-aber auf die glücklich-perfekte- art. Nichts, aber auch gar nichts kann mir diesen Augenblick verdauen. Nicht einmal Rose. Mit einer Gruppe anderer Surfer warte ich auf die nächste große Welle. Ich setzte auf meinem Board und starre den Horizont an. Plötzlich steigt Wut in mir hoch. Wie konnten sie es nur wagen?!, Schießt es mir durch den Kopf. Warum mache ich da überhaupt mit?, Fragt der Verstand. Weil du musst, Versichert mir das Gewissen. Ich muss gar nichts!, Faucht die Widersetzung. Das bist du ihnen schuldig, flüstert das Mitleid. Aber es ist ihr Problem!, schreit die Wut. Ich umklammerte das Board mit beiden Händen bis die Fingerknöchel weiß werden. Mein Kopf dröhnt, wie nach einer zu hohen Dosis von Onkel Jerrys "Alleshelfern". Und dann erschlägt nicht die Vergangenheit. Alles,.was.ich drei Jahre versucht hatte zurückzuhalten kam nun wieder hoch. Gefühle, Erinnerungen und Gedanken. Was damals passiert war, war grausam gewesen, doch ich hatte es so gut verdrängen können, das ich vergessen hatte, wie schlimm es gewesen war. Nun war alles wieder da, als wäre es erst gestern gewesen. In meinem Kopf tauchten Bilder auf. Ich sah einen Sarg, der in die Erde gehoben wurde und einige Trauernde, die mich mitleidend ansehen; ein großes, leeres Haus, völlig verlassen und doch mein zu Hause; die Hand einer Frau auf meiner Schulter und ihr trauriges Gesicht, als wisse sie, was mir durch den Kopf ging. Ich kann es jetzt noch spüren- die Wut, die mir damals alles verdarb. Dann ein leerer Zug und Schaffner, die eine völlig fremde Sprache sprechen. Und schließlich das freudig bekannte Gesicht meines Onkels. Kurz bevor mir die Tränen über die Wange laufen kann, überspült mich eins Welle und ich werde ins Wasser gerissen. Ich versuche noch einige Wellen zu bekommen, doch die Vergangenheit sitzt mir tief in den Gliedern. Schließlich gebe ich auf und überlasse mich im Sand sitzend meinen Gedanken. Jeden Morgen in den ersten Monaten hatte ich mit den Tränen gekämpft, hatte ich mit dem schlechten Gewissen gerungen, hatte mich Heimweh geplagt. Doch dann kam das Vertrauen in dem, was ich tät zurück. Im ersten.Jahr hatte ich viele Rückschläge und Probleme gehabt. Einmal war ich mir sicher gewesen zurückzufahren, doch am Bahnhof hatte ich mich doch noch umentschieden. Ich weiß nicht, ob das die richtige Entscheidung gewesen war, doch es war wahrscheinlich für den Moment die einfachere. Und danach würde mir alles egal. Ich gewohnte mich an mein neues Leben, ließ mich treiben, verdrängte die Vergangenheit und vergaß die Vernunft. Ja, ich gebe zu, dass ich letztes Jahr echt viel Scheiße gebaut hatte. Partys, Drogen, Alkohol- das ganze Programm. Aber Onkel Jerry hatte das nicht gestört. Falsche Freude wäre damals die besten und wahre Freunde nur nervig. Erst nach etwa einem dreiviertel Jahr hatte ich dann die Kurve gekriegt und war wieder auf den besseren Weg gekommen. Manchmal vermisse ich noch diese sorgenfreie Zeit. Es hatte nur ein Schniefen gereicht und schon war die Welt ein wunderschöner Ponnyhof. Ich will nicht sagen, dass ich abhängig oder süchtig war. Mir ging es nur einfach besser mit einer Flasche Wein in der Hand. Nun ja. Und dann begann meine Surfzeit. Keinen Tag habe ich.mehr nur auf dem Campingplatz verbracht. Wenigstens zwei Mal am Tag war ich zum Strand gelaufen, nur um mich sofort in die Wellen zu schmeißen und erst wieder rauszugehen, wenn ich kein Glied mehr zu bewegen schaffte. Tja und seit dem war ich glücklich. Mein Leben hat zwar immer noch keinen wirklichen Sinn gemacht, aber es gab wenigstens etwas, wofür es sich zu leben lohnte.

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