"Wo hast du so lange gesteckt?" Emma sitzt auf der Bank an der Rezeption und sieht mich besorgt an. Sie weiß, dass ich nicht in der Stimmung bin, aufgezogen zu werden.
"Rose", sage ich und das erklärt ihr einiges. Wenn es eine Person in meinem Leben gibt, die mich auf anhieb versteht, das ist das Emma. Nicht einmal Tim- der mich drei Jahre länger kennt, als sie- würde an diese Begabung herankommen, dafür ist er... nun ja... zu sehr ein Junge.
"Dann wollen wir dich mal aufmuntern", sagt sie und hakt sich bei mir ein. "Machen wir einen Spaziergang." Wir verlassen den Campingplatz und biegen auf den schmalen Fahrradweg ab, der in den nächsten Ort führt. "Wie geht es dir bei dem Gedanken daran, dass du morgen wieder zurück musst?" Schrecklich? Grausam? Unvorstellbar vielleicht.
"Stell dir vor, du musst zu dem schrecklichsten Ort, an dem du je warst", sage ich. "Und dann stell dir vor, das mit dir die Gruppe der grausamsten Leute, die du je kennengelernt hast, kommt. Und dann haben diese ganzen Leute auch noch Ahnung von deiner grauenvollen Vergangenheit. Wenn du dir das vorgestellt hast, dann weißt du in etwa wie es mir geht." Emma nickt, als wäre das nichts besonderes.
"Dann stell dir jetzt mal vor, das diese schreckliche Ort mit diesen grausamen Menschen nur ein kleiner Teil deiner Reise ist und du diesen ersten Teil nur überstehen musst, um in den sonnigen, wunderschönen Teil mit all deinen Freunden zu kommen- eine Probe so zusagen." Dieser Gedanke gefällt mir, doch leider weiß ich, dass das nur eine Wunschvorstellung sein wird. Trotzdem setzte ich ein Lächeln auf, damit Emma nicht denkt, ihre ganze Rede wäre nur Jux gewesen.
"Ich bin glücklich, dass wenigstens du noch bleibst", sage ich und schling meine Arme um sie. "Die einzige- mit Tim und Jerry- die mich wirklich versteht!" Sie lacht.
"Ja, die einzige mit Tim und Jerry." Sie legt einen besonderen Unterton unter den Namen meines besten Freundes. "Tim", wiederholt sie. "Tim." Es hört sich an, als wolle sie mir irgendetwas sagen, doch ich verstehe nur Bahnhof. Das sieht sie wohl in meinem Gesichtsausdruck, denn sie lacht. "Du hast echt keine Ahnung, oder?" Ich schüttle verlegen den Kopf. "Blou! Wie lange lebst schon in diesem Loch? Hundert Jahre?" Sie lacht.
"Drei!", sage ich bestimmt. "Und kein Jahr länger!"
"Und in diesen drei Jahren hast du vergessen, was Liebe heißt?" Sie sieht mich vielsagend an und nun verstehe ich. Ich gebe zu, ein Blitzmerker bin ich nicht.
"Da ist nichts, Emma, wirklich nicht!", sage ich und sie weiß, das ich das erst meine, aber trotzdem gibt sie sich nicht damit geschlagen.
"Ihr kennt euch jetzt wie lange? Auch drei Jahre? Er kommt seit zwei Jahren nur für dich hier her? Und er ist letzten Winter sogar gekommen, nur um einmal Weihnachten mit dir zu feiern? Den langen weg von Wales bis hier hin? Und nur um dich zu sehen? Ganz ohne seine Familie?"Ich verdrehen die Augen.
"Emma, du weißt, das ich nicht in ihn verknallt bin", sage ich. Sie hält mir das schon sehr lange vor. Seit sie Tim und mich zum erstem mal gesehen hatte.
"Aber das heißt nicht, dass er nichts für dich empfindet", erklärt sie. Ich sehe sie an. Sie versucht mich ernst anzusehen, doch das Lachen bricht aus ihrem Mund und stürzte sich auch mich. "Komm schon! Kein romantischer Moment, wo du nicht doch den drang dazu hättest, ihn zu küssen?" Sie sieht mich scharf an. Ich denke nach. Im letzten Jahr hatte es einen solchen Augenblick gegeben. Wir hatte und am Strand den Sonnenuntergang angesehen- wie wir es jeden letzten Tag machen, bevor er fährt. Als wir zurückgingen war es schon dunkel und ich hatte die kleine Kühle im Sand nicht gesehen. Ich knickte mit dem Fuß um und fiel direkt in seine Arme. Er hatte gelächelt und sein Gesicht war meinem so nahe gewesen. Doch er war zurückgegangen und hatte einen Witz über meine Tollpatschigkeit gerissen.
"Da haben wir's", unterbricht Emma meine Gedanken. Ich sehe sie verwundert an.
"Was meinst du?", frage ich. Emma sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an.
"Schätzchen, dir hing fast der Sabber aus dem Mund!" Erschrocken wische ich mir den Mund ab. Sie lacht. "Siehst du! Du hast an ihn gedacht. Und glaub mir, ich erkenne einen verliebten Menschen."
"Em, jetzt mal ganz ohne Hintergedanken: Wie sollte das überhaupt funktionieren, hm? Er wohnt in Wales und ich ab Morgen in Köln." Bei dem Namen zieht sich mein Magen zusammen.
"Blou, wenn es wahre Liebe ist, dann übersteht sie auch diese paar Kilometer Entfernung", versichert sie. Mir geht ein kribbeln durch den Bauch. Und was, wenn er mich gar nicht liebt? Dann steh ich da als Depp und zerstöre eine jahrelange Freundschaft. Nein, er mach den ersten Schritt. "So sieht's aus", sagt Emma.
"Sag mal, liest du meine Gedanken?", Frage ich verwundert. Sie lacht.
"Nein, aber dein Gesichtsausdruck sagt alles." Ich grinse. Davon habe ich schon genug gehört. Sieht so aus, als könnte ich meine Gefühle nicht gerade gut verbergen. Wir biegen auf eine sehr belebte Straße ab. Touristen und Einwohner schlängeln sich auf dem schmalen Bürgersteig an Ständen und anderen Hindernissen. Autos fahren an uns vorbei und Fahrradfahrer versuchen sich an uns vorbeizuschieben. Emma zieht mich quer über die Straße auf ihre Lieblingseisdiele zu- die zufälligerweise auch die einzige hier im Ort ist. Wir setzten uns an unseren Stammplatz und winken den Kellner heran. Er kennt uns. In den letzten Wochen waren wir fast jeden zweiten Tag hier gewesen und allmählich merkte man sich hier, was wir wollen.
"Das übliche?", fragt der ältere Mann auf Französisch. Wir nicken grinsend. Er verschwindet.
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Make a wish
Teen FictionNach ihrer Flucht aus Deutschland baut sich Blou in Frankreich ein neues Leben auf, völlig frei von Sorgen. Leider muss sie aber feststellen, dass sich die Vergangenheit nicht so leicht abhängen lässt wie erhofft. Viel zu früh schickt man sie in di...