"Ich werde dich vermissen", murmelt Tim. Ich sehe auf. Sein Blick ist auf den Weg gerichtet, doch ich weiß, dass es ihm ernst ist.
"Ich dich auch", sage ich. Es ist komisch. Normalerweise ist Tim derjenige, der geht und nicht ich. Eigentlich sollte er jetzt seine Koffer packen müssen um wieder nach Hause zu fahren. Doch er wird noch ein paar Tage bleiben und erst Montag die Heimreise antreten. Er hatte mir versprochen in den Winterferien hier zu sein, doch so richtig sicher kann er sich auch nicht sein, schließlich sponsern seine Eltern jeden Flug hier her und der nächste Flug ist erst für nächsten Sommer gebucht. "Ich will hier nicht weg." Ich hatte das schon oft genug gesagt. Schreiend, flüsternd, bittend, lachend, weinend. In den letzten Tagen hatte ich diesen Satz bestimmt zwanzig Mal gesagt, ohne dass er je eine solche Bedeutung hatte wie jetzt. Jetzt war es kein Hilfeschrei, kleine unerhörte Bitte. Es war eine Tatsache, so wie sie ausgesprochen werden musste und so wie ich es meinte. Ich würde wieder mein zu Hause verlieren, wird mir jetzt klar. Ich würde wieder von vorne starten müssen. Und das schlimmste: Ich würde da anfangen, wo es aufgehört hatte. Wie sollte ich es nur aushalten in all die Gesichter zu sehen, die meine Geschichte besser kennen als ich selbst. Wie sollte ich in diesem Haus wohnen können, in dem ich Jahre lang gewohnt hatte, bis es nichts mehr zum Leben da war. Ich wollte hier bleiben, in der Welt, die ich mir aufgebaut hatte und die ich geliebt hatte. Wie kann mir das eine einzige Person wegnehmen?
"Du kommst wieder", versichert mir Tim. Das hatte er sonst immer beim Abschied gesagt, aber auf sich bezogen. Jeder Sommer hatte für mich mit diesen drei Worten geendet und jeder Winter war damit angefangen.
"Du aber auch"; flüstere ich und lehne mich an seine Schulter. Er ist ein halben Kopf größer als ich, was uns beiden sehr recht ist. Wer will schon, dass seine beste Freundin größer ist als man selbst? Und wer will einen besten Freund, zu dem er herabgucken will?
"Hab ich dich jemals enttäuscht?", fragt er und sieht mich an. Ich schüttle den Kopf. Nie, denke ich und muss schlucken. Nie hatte er mich enttäuscht. Nie hatte er ein Versprechen gebrochen. Und nie würde er mich vergessen, das weiß ich. Ich habe keine Ahnung, was er über mich wirklich denkt, und das will ich auch gar nicht. Aber ich weiß, das er trotz meiner ganzen Macken sehr viel von mir hält und das schätze ich sehr. Auf der Straße fahren jetzt noch mehr Autos und es stinkt nach Abgasen. Aber wir haben Glück. Ein Fahrer hält für uns. Wir nicken freundlich und überqueren die Straße.
"Blou!" Mein Blick wanderte durch die Mengen an Campern auf der Suche nach Person, die mich gerufen hatte. "Hier!" Ich drehe mich um. Ein Mädchen kommt auf mich zuerkannt. Ihre hellblau gefärbten Haare sind zur Seite geflochten, über ihren Bikini trägt sie ein helles Tanktop und Hotpans.
"Wo wollt ihr denn hin?", fragt Emma in perfektem Deutsch. Ich kenne sie erst seit zwei Wochen, doch habe das Gefühl sie schon ewig zu kennen. Solche Freundschaften hatte ich schon oft. Man verstand sich auf Anhieb, machte alles zusammen und sobald der andere nach Hause fuhr, war die Freundschaft wieder vergessen. Nur mit wenigen solcher "Freunde" habe ich noch Kontakt- und das auch nur dich E-Mail. Abgesehne von Tim habe ich in den Jahren nur sehr wenige wiedergesehen. Doch mit Emma würde es anders werden.
"Am Strand wird es zu voll", sage ich und umarme sie zu Begrüßung. Emma ist kein großer Fan vom Surfen und wenn sie am Strand ist, liegt sie auf ihrem Handtuch in der prallen Sonne. "Ich muss in den zwei Wochen richtig schön braun werden!", heiß es dann. Ich finde das überflüssig, aber für mich ist das hier ja auch kein Urlaub, sondern mein zu Hause.
"Sie muss Koffer packen", würgt sich Tim auf Deutsch ab. Wir haben ihm schon hundertmal gesagt, er könnte auch englisch reden, doch er besteht darauf Deutsch zureden. "Das ist eine Frage von Stolz", sagt er.
Emma sieht mich mitfühlend an. "Ich glaube das hat Zeit", sägt sie und lächelt. "Wir gehen jetzt erst mal schön ein Eis essen!" Sie schnappt sich meinen Arm. Diese Angewohnheit, immer nach der nächsten Eisdiele zu suchen- was hier einen Deutschen sehr auszeichnet- hatte ich mir langsam abgewöhnt, doch bei Emma hatte ich keine Chance dies weiterzuführen.
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Make a wish
Teen FictionNach ihrer Flucht aus Deutschland baut sich Blou in Frankreich ein neues Leben auf, völlig frei von Sorgen. Leider muss sie aber feststellen, dass sich die Vergangenheit nicht so leicht abhängen lässt wie erhofft. Viel zu früh schickt man sie in di...