Kapitel 35

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Ich war einige Tage nicht zur Schule gegangen, sondern hatte mich in meinem Zimmer verkrochen. Geweint hatte ich nicht mehr wirklich, ich dachte einfach nur noch nach. Darüber, wie viel mir Vincent trotz unserem Streit bedeutet.

Nach vier oder fünf Tagen war ich dann das erste Mal wieder in der Schule aufgetaucht. Einige sahen mich bemitleidend an, während andere über mich zu tratschen schienen. Ich ignorierte sie alle, bis auf Hannah und Charlotte.

Allerdings dauerte es bei ihnen eine Weile, bis sie mir die große Frage stellten. "Ist er immer noch nicht aufgewacht?" Charlotte war ganz vorsichtig, als sie diese Frage an einem Freitagmorgen stellte.

Ich schüttelte nur den Kopf. Ich war auch noch nicht bei ihm gewesen, musste ich zugeben. Ich telefonierte nur ab und zu mit den Ärzten und sah manchmal seinen Vater durch das Hotel wandeln. Er war extra wegen seinem Sohn hierhergekommen. Es machte mir Angst, Vincent so sehen zu müssen. Ich wollte kein schlechtes letztes Bild von ihm im Kopf behalten, falls doch etwas schlimmeres mit ihm geschehen sollte. Deswegen hielt ich mich vom Krankenhaus fern und redete mir selbst jeden Tag immer und immer wieder ein, dass bestimmt alles gut wird. Auch meine Mutter tat das, wenn ich jeden morgen lustlos mein Frühstück herunterwürgte. Appetit hatte ich seit dem Unfall gar nicht mehr.

"Hat die Polizei denn schon etwas gesagt?", wollte Hannah wissen. Ich wusste, dass sie neugierig waren und mich nur nicht mit ihren Fragen zum weinen bringen wollten. Ich hatte mitbekommen, dass vor einigen Tagen, als ich noch nicht in der Schule war, viele über den Unfall spekuliert hatten. Einige hatten daraufhin die Vermutung gehabt, dass ich mit im Auto gesessen hätte. Anscheinend hat Camille erzählt, dass wir zusammen waren, beziehungsweise sich darüber ausgelassen, wo auch immer sie es her hatte. Andere spekulierten allerdings auch, dass ich Schuld an dem Unfall gewesen war (wie auch immer das funktionieren sollte), um mich an Vincent für eine Trennung zu rächen. Das dachten sich eindeutig die Menschen, die mich nicht kannten.

Und schon hatte ich nämlich das Problem, weswegen ich vor einem Jahr umgezogen war und nun konnte ich es nicht mehr vermeiden. Ich war ein Gesprächsthema, undzwar nicht auf eine gute Weise. Doch anders als erhofft, zog das alles an mir vorbei. Es war mir egal. Alles was wichtig war, war er.

"Nein", stammelte ich und versuchte die Tränen der letzten Tage zu unterdrücken. "Aber sie checken jetzt wohl die Überwachungskameras in der Umgebung."

Charlotte nickte. "Das ist eine sehr gute Idee. Wieso brauchen die nur immer so lange für so etwas?"

Hannah stieß ihr in die Seite und signalisierte, dass Charlotte lieber ihren Mund halten sollte.

Als ich mich umsah, blickte ich direkt in die Augen von einem von Vincents Kumpeln, der sich rasch wieder abwandte. Noch einer der tratscht, dachte ich mir und verdrehte die Augen. Sollten sie doch denken was sie wollen.

*

Am Nachmittag saß ich mit meiner Mutter am Küchentisch. Sie hatte sich extra frei genommen, um mich nicht allein zu lassen, obwohl mir gerade das nach diesem Tag gut getan hätte. Allerdings hatte sie Schockokuchen gebacken, meinen Lieblingskuchen.

Trotzdem stocherte ich nur darin herum und sie sah mich besorgt an. "Willst du ihn denn wirklich nicht einmal besuchen?"

Ich schüttelte den Kopf. Sie sollte bloß aufhören, mir solche Fragen zu stellen. Ich wollte über dieses Thema gerade so wenig wie möglich reden.

"Ich habe vorhin in der Lobby seinen Vater getroffen", redete sie trotzdem weiter. Ich wusste genaustens, dass ich sie nicht stoppen konnte. "Er macht sich große Sorgen um seinen Sohn. Zwar sind die Werte stabil, aber es gibt auch keine Veränderung ins Gute. Tut mir leid, dass ich dir das so sagen muss." Sie griff nach meiner Hand und drückte sie ganz fest. Das tat gut.

Das ist das, was er immer wollte, schoss es mir durch den Kopf. All den Mist den er gemacht hat, alles nur für die Aufmerksamkeit für seinen Vater. Wer hätte schon gedacht, dass es soweit dafür kommen muss?

"Okay", murmelte ich nur und nahm einen Bissen von dem Kuchen, den ich längere Zeit mühsam herunterwirkte.

"Du bist ganz schön fertig, Süße", stellte sie besorgt fest. "Dir passieren immer nur die schrecklichen Dinge... Aber ich möchte dass du eins weist, Schatz. Gott würde dir das nicht zumuten, wenn er denken würde, du schaffst es nicht." Sie bekam Tränen in den Augen. In solchen Momenten wurde sie immer religiöser als religiös, aber es heiterte mich tatsächlich ein wenig auf.

"Danke, Mama", sagte ich und nahm noch einen Bissen, um sie ein wenig von einer guten Verfassung meinerseits zu überzeugen, doch die Tränen aus ihren Augen verschwanden nicht.

"Du bist so stark", sagte sie.

Im nächsten Moment klingelte das Telefon und der Druck von meiner Hand verschwand. Meine Mutter stand auf und ging zur Kommode, auf dem das Festnetz stand. Sie betrachtete die Nummer und flüsterte nur: "Die Polizei", bevor sie abhob. Dann sagte sie kurz gar nichts. "Noch einmal? Aber sie hat ihre Aussage doch gerade erst gemacht." Ungläubig sah sie mich an, während eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung etwas für mich unverständliches redete. "Wie meinen sie das?" Ihr Blick wurde immer besorgter und langsam stieg eine Angst in mir auf. "Meine Tochter würde so etwas niemals tun! Wie kann denn jemand so etwas behaupten?!" Es dauerte einige Sekunden, bis meine Mutter fast in das Telefon brüllte. "Ja, meine Tochter befand sich am Tatort, weil sie vorher ein Telefonat mit dem Jungen hatte und erste Hilfe leisten wollte! Dafür können Sie sie doch nicht verurteilen!"

Viele Fragen schossen mir durch den Kopf, bis mir klar wurde, dass ich nun eine Verdächtige in diesem Fall geworden war, aus welchem Grund auch immer.

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