Kapitel 37

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"Ich komme heute nicht", sagte ich durchs Handy zu Hannah. Sie hatte mich voller Sorge angerufen, weil ich nicht in der Schule aufgetaucht war.

Auf der anderen Seite herrschte Stille, bis sie ganz besorgt fragte: "Ist etwas mit Vincent passiert?"

Ich schüttelte benommen meinen Kopf, bis ich merkte, dass sie mich gar nicht sehen konnte. "Nein, nicht direkt. Aber es ist auch nichts, wo ich jetzt wirklich drüber sprechen möchte", erklärte ich ihr und konnte mir schon ihren verständnisvollen Blick ausmalen, den sie nun aufsetzten würde.

"Gut, gut", sagte sie und überlegte kurz. "Ich schicke dir dann die Hausaufgaben und so, falls du es überhaupt machen möchtest."

"Danke", murmelte ich nur. Natürlich würde ich es nicht machen. Immerhin hatte ich besseres zu tun, wie zu überlegen, wie ich aus diesem Fall wieder herauskam. Aber ich denke nicht, dass es dafür überhaupt eine Lösung gab, auf die ich Einfluss nehmen könnte. Meine Mutter meinte, ich solle abwarten und das sie eh nichts finden würden, wenn ich es nicht war und dass ich darauf vertrauen müsse.

"Dann hoffe ich, dass es dir bald besser geht", sagte sie nur noch. Ich bedankte mich noch einmal, verabschiedete mich und legte auf.

Nun saß ich einfach nur noch dort auf meinem Bett und starrte an die Wand, wie ich es vorher auch getan hatte. Wieso passierten mir all diese Dinge? Das war die Frage, die ich mir im Moment stellte.

Nun klopfte es auch noch an meiner Tür, doch eine Reaktion zeigte ich nicht. Meine Gedanken schwirrten viel zu sehr umher. Ich erinnerte mich an alles, was ich selbst in meinem ganzen Leben falsch gemacht hatte, um damit das zu rechtfertigen, was mir alles schlechtes passiert war.

Ich dachte an die Situation im Kindergarten, wo ich einem Mädchen namens Hazel ihre Puppe wegnahm, weil ich auch damit spielen wollte. Hazel war sowieso immer ein fürchterliches Biest gewesen und hatte natürlich auch direkt angefangen zu weinen, als ich ihr die Puppe aus der Hand nahm. Doch sie hatte sie immer und ich wollte einfach auch einmal mit ihr spielen. Heute weiß ich natürlich, dass es von uns beiden kindisch war, aber wir waren halt auch noch Kinder.

Dann gab es noch die Erinnerung, in der ich eine alte Frau fast mit meinem Fahrrad umgefahren hatte. Sie hatte ihre Einkäufe auf dem Boden verschüttet und gerade begonnen sie aufzuheben, als ich um die Ecke bog. Ich summte noch zur Musik, die aus meinen Kopfhörern kam und legte eine Vollbremsung hin, als ich die Frau bemerkt hatte. Sie hat sich total erschrocken und ich konnte mich freuen, dass sie keinen Herzinfarkt erlitten hatte.

Und es gab noch viel mehr solcher Geschichten. Aber rechtfertigten diese kleinen Fehler wirklich, all das was mir passiert war? Die Vergewaltigung? Das ich Vincent eventuell verliere? Das ich dafür auch noch verantwortlich gemacht wurde?

Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken, da ich immer noch nicht auf das Klopfen reagiert hatte. Noch immer saß ich so dort, wie vorhin. Mit starrem, leeren Blick an die Wand.

"Sofia?", fragte meine Mutter vorsichtig, als würde ich schlafwandeln und sie mich nicht aufwecken wollen. Und genau so fühlte ich mich auch. Ich hatte genauso wenig Kontrolle über alles. wie jemand der schlafwandelte. Alles um mich herum geschah einfach, ohne dass ich darauf einen Einfluss hatte.

"Hm?", kam nur aus mir heraus.

"Da ist jemand, der dich gerne sprechen möchte", sagte sie nur und ging dann wieder hinaus.

Es dauerte kurz, bis mein Kopf die Worte verarbeitete. Dann stand ich auf und folgte ihr. Schon hatte ich die nächste Frage im Kopf. Wer würde dort sein und mich sehen wollen? Hatten Hannah und Charlotte sich etwa auf den Weg gemacht?

Aber als ich in den Raum kam, sah ich einen Mann mit grauen Haaren von hinten. Ich konnte ihn nicht auf anhieb erkennen, doch als mir klar wurde, wer er war, begann mein Herz zu pochen. Was wollte er? Würde er mich auch verantwortlich machen? Mich hassen?

Es roch stark nach Kaffee. Langsam setzte ich mich in Bewegung und sah dem Mann nun direkt in die Augen. Ich stand vor ihm.

"Hallo, Mr. Connors", presste ich heraus. Meine Beine zitterten. Was würde er nun denken von einer, die angeblich seinen Sohn verletzt hatte?

"Hallo, Sofia", sagte er und lächelte leicht. Zu meiner Verwunderung wirkte dieses Lächeln auf keine Weise anstrengend. "Setz dich doch zu mir." Er deutete auf einen Stuhl, den ich mir dann vorsichtig heranzog. Mit meinen zitternden Beinen setzte ich mich zu ihm. "Kannst du dir denken, wieso ich hier bin?"

Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich es genau wusste. Er würde mir eine Standpauke halten. Meine Mutter entlassen. Uns rauswerfen. Und was auch immer er noch für Möglichkeiten hatte. Konnte man es ihm überhaupt verübeln? Ich war die Tatverdächtige. Natürlich hasste er mich und wollte so eine Familie nicht in seinem Hotel.

Besorgt sah ich einmal zu meiner Mutter, die abwusch, doch sie interessierte sich nicht für das Gespräch. Sie zeigte keinerlei Angst und schien ganz ruhig. Das nahm ein wenig der Last von mir, als Mr. Connor weitersprach.

"Ich möchte, dass du weißt, das ich nicht an die Geschichten glaube. Ich kenne deine Mutter schon sehr lange und ich weiß auch, dass ihr Kind nie so etwas zu Stande bringen könnte. Vor allem nicht, nachdem sie mir erzählte, wie verliebt du in meinen Sohn bist." Er machte ein Pause und ich wusste sowieso nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte nur spüren, wie meine Beine und mein Puls sich beruhigten. "Ich glaube sowieso keinem Polizisten mehr, bis sie mir nicht irgendetwas beweisen. Ich meine, weißt du, wie oft ich schon ein Verdächtiger war? Das ist hier auf der Insel eine normale Sache", lachte er auf. "Aber eins gibt es, was ich weiß, Sofia. Vincent würde sich über deinen Besuch freuen."

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