Vincent und ich hatten den ganzen Weg zum Strand geschwiegen. Es war ungewohnt, ihn wieder bei mir zu haben. Es gab so viel zu sagen, doch wir schwiegen.
Die Wellen rauschten, als wir ankamen. Es wirkte, als würde bald ein Sturm aufziehen, aber Vincent und ich setzten uns trotzdem in den leicht feuchten Sand.
Ich habe die Gerüchte gehört", begann er. Damit meinte er wohl, dass ich angeblich die Schuld an seinem Unfall trug. Mein Vater glaubt das nicht", erklärte er. Seine Stimme war ruhig. Ich brauchte das.
Und du?", hakte ich nach, obwohl er bereits gesagt hatte, dass er es auch nicht glaubte. Vorhin, als wir noch dort standen, meinte er, er sei sich sicher wer es gewesen war. Und ich wollte es wissen. Ich wollte hören, dass er einen anderen Namen sagt statt meinen. Nein, was ich eigentlich hören wollte war, dass er mich immer noch liebte, trotz unseres Streits.
Beide saßen wir dort und starrten auf die Wellen, bis er schließlich sagte: Ich glaube es auch nicht. Dafür kenne ich dich zu gut."
Danke", flüsterte ich. Ich traute mich gar nicht, die nächste Frage zu stellen. Kurz saßen wir wieder nur dort und starrten auf das Meer, doch ich konnte nicht anders. Und... was ist mit uns?"
Wie?" Er war ganz verwundert und plötzlich traf sein Blick auf meinen. Ich musterte noch einmal sein Gesicht von Nahem. Das lila zog sich über seine ganze Wange, über jede einzelne Zelle. Doch es machte ihn nicht weniger schön.
Wir haben gestritten", erklärte ich ihm. Meine einzige Erklärung für seine komische Frage war nämlich, dass er unter einem Gedächtnisverlust litt. Oder es war ihm nicht wichtig genug.
Ich weiß." Er sah mir tief in die Augen. Vincents Augen waren so wundervoll. Es tut mir leid." Seine Stimme klang bedrückt, als er diese Worte aussprach. Ich habe Dinge gesagt, die nicht richtig waren. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie schwer es für dich sein muss, zu lieben. Ich möchte es mir ehrlich gesagt auch gar nicht vorstellen. Ich möchte es verstehen." Diese Worte waren so einfühlsam, dass sich Tränen in meinen Augen sammelten, die ich aber schnell davon drückte.
Es tut mir auch leid, dass ich direkt so böse war. Ich weiß ja, dass dein Leben auch nicht einfach ist und dass ein großes Problem ist, dass dein Vater dir zu wenig Beachtung schenkt, aber in den letzten Tagen hat er sich wirklich um dich gesorgt."
"Ich weiß", murmelte er. "Ich habe so ziemlich alles mitbekommen, während ich dort lag", erklärte er mir. Das erinnerte mich an mich selbst, wie ich das eine Mal umgekippt war und auch jedes Detail mitbekommen hatte, was um mich geschah.
"Das heißt, du weißt auch, was ich zu dir gesagt hatte?", fragte ich ihn. Mir war das in keiner Weise peinlich, denn was ich gesagt hatte, hatte ich auch so gemeint. Und lieber wollte ich, dass er es noch wusste, als dass ich es wiederholen sollte.
Er nickte. "Und ich liebe dich dafür", grinste er. Doch bei mir kam kein Lächeln auf die Lippen. Vincent war schlecht für mich gewesen und eine Beziehung brachte mir nichts, so lange sich dies nicht änderte. Egal wie sehr ich ihn vermisst hatte, ich musste das im Hinterkopf behalten.
Ich nickte nur. "Nur wir scheinen so nicht zu funktionieren."
"Müssen wir auch nicht."
"Wie meinst du das?" Ich war verwirrt. Trennte er sich nun endgültig von mir? Ich verstand ihn nicht. Vor einigen Sekunden sagte er doch noch Ich liebe dich. Wo war dieses Gefühl hin verschwunden?
Er sagte nichts. Wollte er den Moment noch verschlimmern? "Ich glaube, damit du das verstehst, musss ich dir erklären, was an dem Tag geschah, an dem wir gestritten haben."
Ich stimmte zu. "Dann erzähl."
"Dann verurteil mich nicht", bat er mich. Ich nickte, dann begann er zu erzählen. "An dem Tag, habe ich dich versetzt, weil ich einen Job hatte." Schon wie er betonte, deutete darauf hin, dass es eigentlich nichts für meine Ohren war. "Ich musste Geld eintreiben, für den so zu sagen Oberdealer, der uns die Drogen vorverkauft. Also ist er so zu sagen der Großhandel, von dem wir Dealer unsere Waren bekommen." Komischerweise musste ich mich zurückhalten, um nicht zu lachen. Er erklärte das in solch einer Sprache, als würde er gar nicht erwarten, dass ich mich mit so etwas auch ein wenig auskannte. In Filmen lernte man aber viel, auch über solche Sachen. "Ich hatte Schulden, weil ich viel selbst konsumiert hatte. Ich hatte also auch zu wenig Einkommen, um es abzubezahlen. Also musste ich teurer werden, doch natürlich braucht es ein wenig Zeit, um einen Kunden vom Preis zu überzeugen. Vor allem wenn er wusste, dass der Preis vorher günstiger war."
Ich zog nur eine Augenbraue hoch. Er redete, als wenn er in einem normalen Laden mit normalen Produkten arbeiten würde, was mich ein wenig verwirrte. Aber wahrscheinlich war dies für ihn der Alltag, auch wenn ich es nicht glauben wollte.
"Ist ja auch egal", redete er weiter. "Aber mich hatte das so genervt. Und dann hatte auch noch mein Vater angerufen und versucht mit mir über meine schlechten Noten zu reden. Er meinte, ich solle mich dieses Jahr mehr anstrengen. Das ist das einzige, was für ihn zählt, bis ich einen Unfall habe." In seinen Augen sammelten sich Tränen, dass konnte ich deutlich sehen. "Und dann hatte ich die Schnauze voll und habe was genommen. Und was dann mit dir passiert ist, war nicht mehr ganz richtig. Auf jeden Fall bin ich nach unserem Streit untergetaucht und habe bei einem Kumpel, beziehungsweise beim Oberdealer geschlafen. Er wohnt schon lange nicht mehr Zuhause, aber bei dem Gewinn ist das auch kein wunder."
"Er nutzt euch aus", flüsterte ich so leise, dass Vincent es gar nicht hören konnte.
"Als ich dann gehen wollte, zu der Party, hat er einen riesigen Aufstand gemacht, weil ich immer noch Schulden hatte. Ich bin trotzdem einfach gegangen. Es ging mir so sehr auf die Nerven. Kurz bevor du mich angerufen hast, hatte ich ihn schon im Rückspiegel entdeckt. Ich denke, er wollte mich aus dem Weg schaffen, was er aber nicht geschafft hat." Vincent grinste, als wäre das etwas lustiges. "Auf jeden Fall bin ich raus aus diesem Geschäft, Sofia. Es bringt mir nichts. Ich möchte das selbst nicht mehr und vor allem möchte ich nicht, dass du darunter leidest. Ich hätte jeden weiteren Tag Angst, dass dir auch etwas passiert."
"Zeig ihn an", sagte ich und das nicht nur, damit der Verdacht gegen mich fallen gelassen wurde. Es war in keiner Weise ein egoistisches Denken. Ich wollte nur, dass Vincent in Frieden leben kann, ohne all das. Dabei wusste ich jedoch genau, dass auch ihn eine Strafe erwarten würde, die nicht gering sein wird. Doch in diesem Fall war er das Opfer und wenn er es nicht anzeigte, könnte es sein, dass es weiteren Menschen so ergeht wie ihm und das konnte er nicht zulassen.
"Werde ich. Ich kann diesen Kerl nicht mehr sehen", sagte er und wirkte dabei ziemlich wütend.
Nun stellte ich die wichtigste aller Fragen. "Wer ist er?"
Vincent sah wieder auf das Wasser. "Jayden", sagte er.
Kurz überlegte ich, dann kam mir das Bild zu diesem Namen in den Kopf und ein wichtiger Moment, der vieles Aufklärte. An dem Tag, bevor ich zur Polizei musste und eine Tatverdächtige wurde, war ich in der Schule gewesen und hatte mit Hannah und Charlotte gesprochen. Ich erinnere mich genau, wie ich darüber nachdachte, dass mich alle aufgrund des Unfalls anstarrten. Und dann war er dort gewesen. Jayden. Er hatte das Gespräch gehört. Mich gesehen. Meinen Namen an die Polizei weitergegeben, damit er raus aus der Sache war.
Es war schon komisch, wie sich durch ein Wort ein ganzes Puzzle fügen konnte. Zu Vincent sagte ich allerdings nichts mehr. Ich wollte nicht, dass er noch mehr darüber nachdachte, als nötig. Vorerst sollte er gesund werden.
"Was ist jetzt mit uns?", fragte ich ihn, als lange Zeit keiner mehr etwas sagte.
"Wenn du es noch möchtest, dann bin ich immer noch dein Freund."
Ich begann zu lächeln.

DU LIEST GERADE
Why
RomansaSofia Castillo hat in ihrer Vergangenheit schreckliches erlebt. Aufgrund dessen ist sie leicht zu verängstigen und bekommt schnell Panikattacken. Sie versucht dies in den Griff zu bekommen, doch immer wieder kommt ihr Vincent in den Weg, der versuch...